Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg wurden bisher vor allem als eine Reihe von schweren internationalen Krisen begriffen. Indem die Arbeit erstmals die zahlreichen Entspannungsbemühungen seit 1911 als Gesamtphänomen untersucht und dabei die Deutungen der zeitgenössischen Akteure zum Ausgangspunkt macht, wird dieses Bild entscheidend ergänzt. 1914 konnten die zurückliegenden Jahre nicht nur als Phase starker Spannungen, sondern auch als eine "Ära der Entspannung" erscheinen. Erst die Verbindung von Spannung und Entspannung lässt uns die Mechanismen des internationalen Systems vor und in der Julikrise wirklich verstehen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Klaus Hildebrand wirft Friedrich Kießlings Studie über Entspannungspolitik vor 1914 neues Licht auf den Beginn des Ersten Weltkriegs. Kießlings moderne Diplomatiegeschichte überzeuge durch ihren originellen Ansatz. Anschaulich und auf einer soliden Quellenbasis lege Kießling die im Establishment der rivalisierenden zeitgenössischen Großmächte verbreitete "Entspannungs-Stimmung" dar. Unter dem Blickwinkel des vermeintlichen Sicherheitsgefühls, in dem sich die politische und militärische Eliten bis in die Julikrise 1914 wähnten, beleuchte Kießlings instruktive Arbeit neuartig die in den Ersten Weltkrieg führende Konfliktbereitschaft der verantwortlichen Mächte. Hildebrand zeigt sich von Kießlings Erklärungsansatz beeindruckt, "weil das von der Forschung lange übersehene beziehungsweise unterschätzte Element der Entspannung in konstitutiver Art und Weise zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs gehört".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2002Gefahren der Détente
Große Politik vor Kriegsbeginn 1914 / Von Klaus Hildebrand
Die Geschichtswissenschaft stimmte lange Zeit darin überein, daß sich der Weg Europas in den Ersten Weltkrieg als eine beinahe unabwendbare Entwicklung vollzogen habe: Existenzangst, Prestigesucht und Kriegswille, Schutzverlangen, Allianzbildung und Wettrüsten der großen Mächte verdichteten sich - nicht zuletzt nach der zweiten Marokkokrise des Jahres 1911 - zu einem Sicherheitsdilemma aller, das letztlich nur noch, mit freilich unterschiedlichen Verantwortlichkeiten im einzelnen, den Ausweg in den großen Krieg offenließ.
In seiner Darstellung über die Geschichte der "Entspannung in den internationalen Beziehungen" hat Friedrich Kießling nunmehr die Perspektive der Untersuchung gewechselt. Von der Beobachtung ausgehend, daß nicht wenige und beileibe nicht unbedeutende Zeitgenossen gerade in den letzten Jahren vor Kriegsbeginn davon überzeugt waren, in einer "Aera der Entspannung" zu leben, geht er auf einer gediegenen archivalischen Basis und in ausgezeichneter Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur den einschlägigen Bemühungen der Staaten nach und gelangt zu dem bemerkenswerten Befund: "Spätestens seit der Marokkokrise begleitete das Kriegsgespenst die Akteure. Aber diese Erfahrung verstärkte sich nicht zusehends, jedenfalls nicht ausschließlich, es gab vielmehr eine Alternative. Sie band sich an Flexibilität im Blocksystem, an die Fähigkeit, trotz der grundsätzlichen Gegensätze zusammenzuarbeiten, wenn auch vielleicht nur punktuell. Diese Alternative war nach der zweiten Marokkokrise konzipiert worden und konnte umgesetzt werden - im Großen während der Balkankriege, im Kleinen etwa bei der Beilegung von Zwischenfällen im deutsch-französischen Verhältnis."
Die Empfindungen und Einschätzungen der Handelnden in London und Paris, in St. Petersburg, Wien und Berlin waren also nicht nur von der Unausweichlichkeit des kommenden Krieges geprägt. Vielmehr hielten die verantwortlichen Staatsmänner die internationale Lage, vor allem nach den glücklich vom europäischen Konzert der Großmächte beigelegten Balkankriegen der Jahre 1912/13, für "deutlich entspannt". Diese Urteilsbildung hatte neben den auf monarchischer Ebene, im finanzpolitischen Zusammenhang und durch diplomatische Einzelinitiativen unternommenen Détenteversuchen vor allem mit den bilateralen Ausgleichsbemühungen der Staaten zu tun. Über die Grenzen der Blöcke hinweg, denen sie im Rahmen der französisch-russisch-britischen Tripelentente und des deutsch-österreichisch-italienischen Dreibundes jeweils angehörten, strebten die einzelnen Mächte nach neuer Bewegungsfreiheit und politischer Entspannung.
Allein, gerade im Bemühen darum, die starre Lagerbildung aufzulockern, wurde regelmäßig die Grenze der Détente sichtbar: Denn letztlich erwies sich für alle, selbst für das nur scheinbar ungebunden handelnde Großbritannien, daß das Zugehörigkeitsgefühl zum jeweiligen Block stärker war als die Suche nach Flexibilität. Mehr noch: Weil die Détentepolitik in den Jahren vor Beginn des großen Krieges gewisse Erfolge gezeitigt hatte, ohne allerdings das Grundmuster der Blockbildung überwunden zu haben, schlich sich während der entscheidenden Wochen nach dem Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 ein kognitives Mißverständnis in das Kalkül der Mächte ein, das um so verhängnisvoller wirkte: "Für die Julikrise ist schließlich wichtig geworden, daß die Erfahrungen der Détentebereitschaft der anderen in die Kriegserwartung der Regierungen einflossen."
Gerade weil das von der Forschung lange übersehene beziehungsweise unterschätzte Element der Entspannung in konstitutiver Art und Weise zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs gehört, ergibt sich "die Brisanz des Mächtesystems . . . entscheidend aus der Wechselwirkung von Blockkonfrontation und Entspannungsbemühungen". Vor diesem Hintergrund gelangt der Verfasser dieser gedankenreichen und gut lesbaren Darstellung schließlich zu einem außerordentlich ernüchternden, aber durchaus zutreffenden Resultat: Danach ist es gerade die Détente gewesen, "ursprünglich unter anderem konzipiert . . . um die Gefahren der Blockkonfrontation beherrschbar zu machen", die die allgemeine Konfliktbereitschaft der Entscheidungsträger noch einmal maßgeblich verstärkt hat.
Friedrich Kießling: Gegen den "großen Krieg"? Entspannung in den internationalen Beziehungen 1911-1914. R. Oldenbourg Verlag, München 2002. VIII und 350 Seiten, 49,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Große Politik vor Kriegsbeginn 1914 / Von Klaus Hildebrand
Die Geschichtswissenschaft stimmte lange Zeit darin überein, daß sich der Weg Europas in den Ersten Weltkrieg als eine beinahe unabwendbare Entwicklung vollzogen habe: Existenzangst, Prestigesucht und Kriegswille, Schutzverlangen, Allianzbildung und Wettrüsten der großen Mächte verdichteten sich - nicht zuletzt nach der zweiten Marokkokrise des Jahres 1911 - zu einem Sicherheitsdilemma aller, das letztlich nur noch, mit freilich unterschiedlichen Verantwortlichkeiten im einzelnen, den Ausweg in den großen Krieg offenließ.
In seiner Darstellung über die Geschichte der "Entspannung in den internationalen Beziehungen" hat Friedrich Kießling nunmehr die Perspektive der Untersuchung gewechselt. Von der Beobachtung ausgehend, daß nicht wenige und beileibe nicht unbedeutende Zeitgenossen gerade in den letzten Jahren vor Kriegsbeginn davon überzeugt waren, in einer "Aera der Entspannung" zu leben, geht er auf einer gediegenen archivalischen Basis und in ausgezeichneter Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur den einschlägigen Bemühungen der Staaten nach und gelangt zu dem bemerkenswerten Befund: "Spätestens seit der Marokkokrise begleitete das Kriegsgespenst die Akteure. Aber diese Erfahrung verstärkte sich nicht zusehends, jedenfalls nicht ausschließlich, es gab vielmehr eine Alternative. Sie band sich an Flexibilität im Blocksystem, an die Fähigkeit, trotz der grundsätzlichen Gegensätze zusammenzuarbeiten, wenn auch vielleicht nur punktuell. Diese Alternative war nach der zweiten Marokkokrise konzipiert worden und konnte umgesetzt werden - im Großen während der Balkankriege, im Kleinen etwa bei der Beilegung von Zwischenfällen im deutsch-französischen Verhältnis."
Die Empfindungen und Einschätzungen der Handelnden in London und Paris, in St. Petersburg, Wien und Berlin waren also nicht nur von der Unausweichlichkeit des kommenden Krieges geprägt. Vielmehr hielten die verantwortlichen Staatsmänner die internationale Lage, vor allem nach den glücklich vom europäischen Konzert der Großmächte beigelegten Balkankriegen der Jahre 1912/13, für "deutlich entspannt". Diese Urteilsbildung hatte neben den auf monarchischer Ebene, im finanzpolitischen Zusammenhang und durch diplomatische Einzelinitiativen unternommenen Détenteversuchen vor allem mit den bilateralen Ausgleichsbemühungen der Staaten zu tun. Über die Grenzen der Blöcke hinweg, denen sie im Rahmen der französisch-russisch-britischen Tripelentente und des deutsch-österreichisch-italienischen Dreibundes jeweils angehörten, strebten die einzelnen Mächte nach neuer Bewegungsfreiheit und politischer Entspannung.
Allein, gerade im Bemühen darum, die starre Lagerbildung aufzulockern, wurde regelmäßig die Grenze der Détente sichtbar: Denn letztlich erwies sich für alle, selbst für das nur scheinbar ungebunden handelnde Großbritannien, daß das Zugehörigkeitsgefühl zum jeweiligen Block stärker war als die Suche nach Flexibilität. Mehr noch: Weil die Détentepolitik in den Jahren vor Beginn des großen Krieges gewisse Erfolge gezeitigt hatte, ohne allerdings das Grundmuster der Blockbildung überwunden zu haben, schlich sich während der entscheidenden Wochen nach dem Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 ein kognitives Mißverständnis in das Kalkül der Mächte ein, das um so verhängnisvoller wirkte: "Für die Julikrise ist schließlich wichtig geworden, daß die Erfahrungen der Détentebereitschaft der anderen in die Kriegserwartung der Regierungen einflossen."
Gerade weil das von der Forschung lange übersehene beziehungsweise unterschätzte Element der Entspannung in konstitutiver Art und Weise zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs gehört, ergibt sich "die Brisanz des Mächtesystems . . . entscheidend aus der Wechselwirkung von Blockkonfrontation und Entspannungsbemühungen". Vor diesem Hintergrund gelangt der Verfasser dieser gedankenreichen und gut lesbaren Darstellung schließlich zu einem außerordentlich ernüchternden, aber durchaus zutreffenden Resultat: Danach ist es gerade die Détente gewesen, "ursprünglich unter anderem konzipiert . . . um die Gefahren der Blockkonfrontation beherrschbar zu machen", die die allgemeine Konfliktbereitschaft der Entscheidungsträger noch einmal maßgeblich verstärkt hat.
Friedrich Kießling: Gegen den "großen Krieg"? Entspannung in den internationalen Beziehungen 1911-1914. R. Oldenbourg Verlag, München 2002. VIII und 350 Seiten, 49,80 [Euro].
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"Vor diesem Hintergrund gelangt der Verfasser dieser gedankenreichen und gut lesbaren Darstellung schließlich zu einem außerordentlich ernüchternden, aber durchaus zutreffenden Resultat: Danach ist es gerade die Détente gewesen, 'ursprünglich unter anderem konzipiert [...] um die Gefahren der Blockkonfrontation beherrschbar zu machen, die die allgemeine Konfliktbereitschaft der Entscheidungsträger noch einmal maßgeblich verstärkt hat." Klaus Hildebrand, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.11.2002