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Bariliers preisgekrönter Essay ist eine brillante Polemik gegen den "Verzicht auf das Denken", der die religiösen und parareligiösen Fundamentalismen unserer Zeit kennzeichnet. Dabei verfällt er keinem blinden Fortschrittsoptimismus.

Produktbeschreibung
Bariliers preisgekrönter Essay ist eine brillante Polemik gegen den "Verzicht auf das Denken", der die religiösen und parareligiösen Fundamentalismen unserer Zeit kennzeichnet. Dabei verfällt er keinem blinden Fortschrittsoptimismus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999

Kopf hoch, werter Greis
Müssen wir denn so ein Geschrei machen? Etienne Barilier spricht dem Fortschritt Mut zu / Von René Aguigah

Der Fortschritt ist tot, hat man gedacht. Untergegangen mit all den anderen Protagonisten der großen Erzählungen. Ist der wissenschaftlich-technische Fortschritt nicht diskreditiert, seit seine Folgen lebensbedrohlich geworden sind? Und den Glauben an eine stetige Verbesserung der Sitten hat man ohnehin längst aufgegeben - siehe Privatfernsehen, jugendliche Gewalt, die Postmoderne und alles.

Ausgerechnet dem Fortschritt, diesem Helden aus dem achtzehnten Jahrhundert, hat der Schweizer Schriftsteller Etienne Barilier eine Eloge gewidmet, eine unzeitgemäße Betrachtung, die vor vier Jahren mit dem Europäischen Essaypreis "Charles Veillon" ausgezeichnet wurde; jetzt ist das Buch auf Deutsch erschienen. Barilier, Jahrgang 1947, ist ein Grenzgänger zwischen Literatur und Philosophie. Seine Romane verhandeln metaphysische Fragen, und umgekehrt profitiert der Essay von Bariliers erzählerischem Können: seiner brillanten Formulierungskunst und dem Willen zur Form. So bindet Barilier Disparates zusammen, kluge Analyse mit feiner Polemik, detaillierte Textlektüren mit allgemeiner Zeitkritik, das "Lob des Fortschritts" mit seinen Attacken "Gegen den neuen Obskurantismus".

Bariliers Diagnose der Gegenwart fällt düster aus. Der "Mensch der neunziger Jahre" lässt sein Haus "in Gebieten mit günstigen magnetischen Strömungen" bauen, und wenn er "Torwart ist, überwindet er mit einem Kreuzeszeichen seine Angst vor dem Elfmeter". Die Leute haben den Verstand verloren, zumindest seine eine Hälfte. Denn während sich die Menschen dem Aberglauben hingeben, haben die Errungenschaften der wissenschaftlichen Vernunft die Alltagswelt völlig durchdrungen; niemand kommt mehr ohne Wettervorhersage oder Taschenrechner aus. So stellt Barilier seiner Zeit ein paradoxes Zeugnis aus. "Wir glauben an nichts und lassen uns alles weismachen."

Auch in der Theorie hat sich der Irrationalismus breit gemacht. Barilier zeigt das an zwei Beispielen, dem Kreationismus und dem Ökologismus. Wo dieser Pflanzen, Tiere und Menschen an ihrem jeweiligen Platz in der gottgewollten Ordnung fixiere, ebne jener sämtliche Unterschiede ein. "Wenn die Affen denken, wenn die Kanarienvögel träumen, wenn die Bäume ihren eigenen Willen haben, wenn sich die Steine laut beklagen, sobald man sie an eine andere Stelle bringt, wird die verabscheute Kontinuität der Arten in ihrer Identität aufgehoben, und die quälende Lehre Darwins wird in einem Ozean von vermenschlichendem Kitsch ertränkt." Obwohl Kreationisten und Radikalökologen gegensätzliche Weltbilder vertreten, bescheinigt ihnen Barilier dasselbe Versäumnis: Sie leugnen das Werden in der Zeit und damit das Prozesshafte in der Geschichte.

Auf der Suche nach den Wurzeln des Irrationalismus gruppiert Barilier immer wieder Denk-Koalitionen, wie sie freiwillig nie zusammengefunden hätten. Da wandern Heidegger und Ernst Bloch Seite an Seite, weil sie "im Chor" den rational beherrschbaren Charakter der Technik leugneten. Der Bedenkenträger Eugen Drewermann findet sich in derselben Traditionslinie wie der alte Lévi-Strauss - wegen gemeinsamer Tendenz zur Fortschrittsfeindlichkeit. Und wenn Barilier am Ende dazu aufruft, der "zeitgenössischen Barbarei" aus Ost und West selbstbewusst die Werte der Aufklärung entgegenzuhalten, werden Leser ganz unterschiedlicher Provenienz dazu nicken: linksmoralische Hüter der universellen Vernunft genauso wie Konservative, die wieder einmal dem Untergang des Abendlandes entgehen möchten.

Gegen den bunt gescheckten Obskurantismus, wie Barilier ihn sieht, bringt er seine Begriffe von Vernunft und Fortschritt in Anschlag, ohne dabei den Illusionen der Vergangenheit zu erliegen. Zwar hat er Condorcet gelesen, der während der Französischen Revolution einen geistigen Fortschritt feierte, der sich nicht mehr zurückdrehen lasse - aber nur, um ihn zurechtzuweisen. "Es kommt nie zur Erkenntnis der Wahrheit, es gibt immer nur das Verlangen nach Wahrhaftigkeit." In diesem Sinne bleibt Barilier Rationalist und nimmt dabei einen Faden auf, den er in unverdiente Vergessenheit geraten sieht: das Denken Spinozas.

Vernunft lässt sich bei Spinoza nicht auf ihre wissenschaftlich-technische Variante reduzieren. Er verknüpft, so Barilier, Rationalität untrennbar mit Freiheit und Würde. So benutzt er den Amsterdamer Philosophen, um die reine Vernunft wieder mit der praktischen Vernunft zu versöhnen, mit anderen Worten: die Wissenschaft mit dem Gewissen. Am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts soll die Vernunft ihre gefährliche Spezialisierung auf das Instrumentelle zurücknehmen. Was Barilier außerdem an Spinoza interessiert, ist dessen Methode der Kritik. Vor mehr als dreihundert Jahren wandte Spinoza seine kritische Haltung auf die Bibel an. Er las sie als das, was sie ist: geworden in der Geschichte, von Menschen gemacht. Wenn dies für die Heilige Schrift gilt, dann erst recht für alle anderen Texte, so dass Barilier formulieren kann: "Jede Wahrheit ist uns eigen, weil sie aus Worten besteht und weil das Wort menschlich ist." Für den Fortschritt heißt das: Er hat mit dem Glauben gebrochen, endgültige Wahrheiten akkumulieren und tradieren zu können. Bariliers Fortschritt ist bescheiden: Er fragt in jeder Gegenwart neu danach, was sonst noch möglich ist.

Mit diesen Gedanken streift er durch die europäische Geistesgeschichte, er erprobt sie und reichert sie an. Das liest sich sehr genussvoll, nicht zuletzt weil einzelne Stellen genügend Anlass bieten zu streiten: etwa über Bariliers manchmal allzu trübsinnigen Blick auf die Gegenwart oder die Unbekümmertheit, mit der er die gesamte Öko-Bewegung als esoterischen Haufen denunziert. Vor allem aber hätte sein Lehrmeister Spinoza mehr zu bieten, als Barilier verrät: Die Natur des Menschen beschränkt sich eben nicht nur auf - wie auch immer emphatisch verstandene - Vernunft. Man kann auch den Menschen unserer Spätzeit nicht verstehen ohne seine Affekte.

Etienne Barilier: "Gegen den neuen Obskurantismus - Lob des Fortschritts". Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 172 S., br., 18,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Die Polemik eines Rationalisten, der am klassischen Fortschrittsbegriff festhält und ihn gegen den neuen Aberglauben, den er etwa bei Kreationisten oder Radikalökologen ausmacht, in wünschenswerter Klarheit verteidigt. René Aguigah zeigt sich angetan vom Buch dieses Schweizer Autors, der sich auf dem Grat zwischen Philosophie und Literatur bewege. "Das liest sich sehr genussvoll", zumal man ab und zu auch Lust habe, mit dem Autor zu streiten.

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