Ein Dorf in Ostfriesland, Kühe grasen auf den Wiesen, ab und zu zerreißt der Lärm eines Tieffliegers die Stille. Hinter den getrimmten Tujenhecken des Neubauviertels blühen die Blumen, in den Auffahrten glänzen frisch gewachste Neuwagen.
In diese Welt wird Mitte der Siebzigerjahre Daniel Kuper, Spross einer Drogistendynastie, hineingeboren. Ein schmächtiger, verschlossener Junge mit viel zu viel Fantasie und zu wenigen Möglichkeiten. Doch bald geschehen seltsame Dinge: Mitten im Sommer kommt es zu heftigem Schneefall, ein Kornkreis entsteht, ein Schüler stellt sich auf die Bahngleise, Hakenkreuze tauchen an den Hauswänden auf. Für all das wird Daniel Kuper verantwortlich gemacht. Und je mehr er versucht, die Vorwürfe zu entkräften, desto stärker verstrickt er sich in ihnen. Daniel Kuper beginnt einen Kampf gegen das Dorf und seine Bewohner. Sie sind es, gegen die er aufbegehrt, und sie sind es, gegen die er am Ende verliert.
Gegen die Welt ist ein großer deutscher Roman: über die Wende in Westdeutschland, über Popkultur in der Provinz und über Freundschaften, die nie zu Ende gehen.
"Ein tollkühner Roman über Freundschaft und Verrat. Rebellisch und bewegend, wahnsinnig und witzig. Großes Kino."
Sönke Wortmann
In diese Welt wird Mitte der Siebzigerjahre Daniel Kuper, Spross einer Drogistendynastie, hineingeboren. Ein schmächtiger, verschlossener Junge mit viel zu viel Fantasie und zu wenigen Möglichkeiten. Doch bald geschehen seltsame Dinge: Mitten im Sommer kommt es zu heftigem Schneefall, ein Kornkreis entsteht, ein Schüler stellt sich auf die Bahngleise, Hakenkreuze tauchen an den Hauswänden auf. Für all das wird Daniel Kuper verantwortlich gemacht. Und je mehr er versucht, die Vorwürfe zu entkräften, desto stärker verstrickt er sich in ihnen. Daniel Kuper beginnt einen Kampf gegen das Dorf und seine Bewohner. Sie sind es, gegen die er aufbegehrt, und sie sind es, gegen die er am Ende verliert.
Gegen die Welt ist ein großer deutscher Roman: über die Wende in Westdeutschland, über Popkultur in der Provinz und über Freundschaften, die nie zu Ende gehen.
"Ein tollkühner Roman über Freundschaft und Verrat. Rebellisch und bewegend, wahnsinnig und witzig. Großes Kino."
Sönke Wortmann
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2011Der nächste Bundestrainer kann nicht Dieter Schatzschneider heißen
Hier hätten die Brüder Karamasow sich einiges abschauen können: Jan Brandt legt mit "Gegen die Welt" einen gewaltigen, beeindruckenden Roman vor, der das Zeug zum Sieger hat.
Von Edo Reents
Der Lokführer, der mit den Selbstmördern auf den Gleisen nicht fertig wird, bezieht es nur aufs Wetter; aber man versteht es bald in einem allgemeinen Sinne: "Vorhersagen mögen für den Rest der Republik gelten, für Ostfriesland sind sie nutzlos. Hier muss man jederzeit auf alles gefasst sein." Machen wir uns gefasst auf ein Romandebüt, dessen Umfang (mehr als neunhundert Seiten) nicht die einzige Überraschung ist. Hier wird keine Tee-und-Kluntje-Romantik verzapft, es gibt weder Moorleichen noch Ostfriesennerze, und es wird auch kaum Plattdeutsch gesprochen. Das lokale Aroma ist nicht besonders streng und der Ort des Geschehens, das fingierte Dorf Jericho, hinter dem sich die Stadt Lee verbirgt, vielleicht zufällig gewählt.
"Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen" - in diesem berühmten Einstieg in Uwe Johnsons Debüt "Mutmaßungen über Jakob" (1959) spiegelt der vorliegende Roman. Johnson ließ seinen im ostdeutschen Jerichow spielen; das Weglassen des letzten Buchstabens erlaubt hier die zusätzliche Assoziation ans biblische Jericho: die Stadt, die nur um den Preis des Todes eines Erstgeborenen wieder aufgebaut werden darf. Johnsons Roman bildete die Keimzelle zu den "Jahrestagen"; Jan Brandt geht mit "Gegen die Welt", an dem er, wie man hört, zehn Jahre schrieb, gleich aufs Ganze und fordert, wie schon lange kein Debütant mehr, ja wie überhaupt nur wenige Schriftsteller, die Literaturkritik dazu heraus, über ein klassisches Kriterium der Romankunst nachzudenken: Totalität.
Der Lokführer Walter hat Peter Peters schuldlos auf dem Gewissen, der von seinen Mitschülern augenscheinlich in den Selbstmord getrieben wurde, nicht ohne einem von ihnen, dem Drogistensohn Daniel Kuper, einen Wink mit auf den Weg zu geben, der nicht im erstaunt fragenden Sinne Cäsars zu verstehen ist, sondern, nach dem Goethe-Gedicht ("Warte nur, balde ruhest du auch"), als Prophezeiung, mit der die von Anfang an beunruhigende Gesamtstimmung noch geschürt wird. Walters triste Lebensgeschichte wird im ersten Romandrittel unter einem Doppelstrich monologisch referiert, während oben die eigentliche Handlung weiterläuft: die zwischen Langeweile, Alkohol, Tabak und Heavy-Metal-Musik changierende, ungemein genau und ohne ein einziges Klischee erfasste Provinzexistenz der vier Freunde Daniel, Onno, Rainer und Stefan, die Peter Peters dem Lokführer schließlich zutreiben wie ein von überhellem Licht in Panik versetztes Reh, mit denen es aber selbst auch kein gutes Ende nimmt. Erging es Peter Peters wie Johnsons Jakob Abs, war es Selbstmord, Mord oder ein Unfall? Die Lokführer-Einschaltung ist nur das sichtbarste Indiz für die außergewöhnlichen Ambitionen eines Romans, dessen Multiperspektivität Konzentration erfordert, aber nie unübersichtlich wird und in den verschiedene Textsorten wie Briefe, Plakate und Werbebroschüren eingeflochten sind. Es beginnt mit einem anonymen, handschriftlich ergänzten Schreibmaschinenbrief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Er datiert vom 9. August 1999 und warnt den Regierungschef vor einer außerirdischen Invasion, "die am 19.9. 1999 in Jericho beginnen soll". Tatsächlich ist dies der Tag, an dem Stefan, einer der vier Freunde, in einem genialischen mathematisch-physikalischen Experiment buchstäblich verglüht.
Dieser Science-Fiction-Rahmen ist so weit gespannt, dass er für den größten Teil der Handlung keine direkte Rolle spielt; aber es geht von ihm eine Spannung aus, die an Steven Spielbergs "Unheimliche Begegnung der dritten Art" erinnert, wo auch lange nichts Spektakuläres passiert und der Protagonist (Richard Dreyfuss) in der Erwartung auf etwas Unbestimmtes, nur ihm Zugängliches hin lebt. Der ostfriesische Protagonist ist Daniel, mit dessen Kindheit der Roman im Sommer 1983 einsetzt. Es wurde schon Irritation angesichts der nicht nur hier spürbaren Detailverliebtheit geäußert, die den Roman stellenweise in der Tat fast zum Stillstand bringt. Lässt man sich darauf ein, dann merkt man, wie angemessen dies dem sich zäh dahinwälzenden Geschehen ist, das mehr illustriert als die sprichwörtliche Langsamkeit der Provinz. Nicht nur die sorgfältigen Schilderungen von Familien-, Schul- und Dorfszenen, auch die langen Aufzählungen von Personen, Spielzeug, Verkaufsartikeln und Autos lösen die Totalität, um die es dem Autor zu tun ist, ein und erzeugen dabei tatsächlich jenen Sog, von dem im Zusammenhang mit Literatur so oft die Rede ist.
Den markengläubigen Hang zum Archivalischen kennt man von der Popliteratur, aber damit hat dieses Buch nichts zu tun. "Gegen die Welt" ist von anderer Familie: außer Johnson wäre Dostojewski zu nennen, an Zeitgenossen Frank Schulz und dessen "Hagener Trilogie", die nicht nur vom Sujet her ein naher Verwandter ist, sondern auch aufgrund der psychologischen Tiefe bei gleichzeitiger Breite des Erzählens. Wie genau der überwuchernde Roman konstruiert ist, wie sicher der Autor die Fäden über die Distanz in den Händen und die Leitmotivik im Auge behält, merkt man ganz am Anfang und ganz am Ende: In jenem Sommer 1983 schließt Daniels Vater Bernhard, genannt Hard, mit Arne Mengs, dem Vater des Daniel in Hassliebe verbundenen, dicklichen Schulfreunds Volker, in Bierlaune folgende Wette ab: "2013 ist Schatzschneider Bundestrainer. Einsatz: 100,- (+ Zinsen)". Gemeint ist der damalige Hannover-96-Spieler Dieter Schatzschneider. Der Zettel taucht ganz am Ende wieder auf, Vater Mengs zeigt ihn Volker, der inzwischen Pastor in Verden an der Aller ist und bei der Räumung des Jerichoer Elternhauses hilft.
Mit sanfter Entschlossenheit werden wir zuletzt ins Zeitalter von Facebook gebeamt, wo es der Mengs-Sohn auf immerhin einunderteinundvierzig Freunde gebracht hat. Sobald man sich darüber wundert, dass Volker diese als Epilog funktionierende Episode in der Ich-Form erzählt, wird einem die Ungeheuerlichkeit dieser Reminiszenz klar: Volker, das unterprivilegierte Kind aus eigentlich privilegiertem, linksliberal-ökoaktivem Lehrerhaushalt, war einst in Daniel verliebt, der das denkbar schroff zurückwies. Die Rekapitulation dieser einseitigen Liebe gehört zu den vielen Glanzstücken des Romans und ist der Homosexuellen-Schilderung von Hans Castorps Hippe-Erlebnis im "Zauberberg" an Einfühlsamkeit und Kühnheit überlegen. Die zuletzt eisige, gespenstisch abgeklärt wirkende Sprache verrät aber die Gemütsverfassung des "schwulen Doppelmörders", der Volker geworden ist.
Das Schicksal der Hauptfigur ist nicht denkbar ohne den hoffnungslos tiefen Abgrund, der diese vom Dorfgeschehen trennt und naturgemäß den meisten Platz beansprucht. In jenem Sommer 1983 wird Daniel nackt und traumatisiert aufgegriffen, nachdem er auf einem rätselhaft verunstalteten Maisfeld eine Begegnung mit Außerirdischen hatte - oder auch nicht. Jericho wird damit so schnell bekannt, wie wieder Gras über die Sache wächst. Nur Daniels Außenseiterstatus hat sich damit endgültig verfestigt; er gilt als Spinner, wahlweise auch als homosexuell. Das Gymnasium bricht er ab, die alten Freundschaften auch. In diesen Passagen werden die Dramen von eigentlich begabten Kindern gespielt, die auf so persönliche wie typische Weise scheitern. Die Provinz hat schon manchen intellektuell Veranlagten in die Flucht oder in den Wahnsinn getrieben, und die ostfriesische macht dabei sicherlich keine Ausnahme - entweder man macht hier mit, oder man hat es etwas schwerer als andere; das ist überall auf dem Land so. So gesehen, ist Ostfriesland, um die tieferen Konflikte sichtbar werden zu lassen, ein Schauplatz wie jeder andere, den der Autor bemerkenswert unaufdringlich, aber mit kaltem Blick abbildet. Man sehe nur das Kurzporträt von Volkers Mutter: "Ihre Existenz als Nichtostfriesin hat sie seit dem Umzug nach Jericho vor siebenundzwanzig Jahren durch eine übertrieben vollständige Aneignung des Plattdeutschen zu verschleiern versucht."
Daniel fasst vorübergehend Fuß in einer Lokalzeitung, wird aber mit Wandschmierereien in Verbindung gebracht, von denen die Leute gar nicht so genau wissen wollen, ob es Hakenkreuze oder deren Übertünchungen sind. Der Leser sieht ihn als Antifaschisten, der dem rechtsnationalen Bürgermeisterkandidaten und Bauunternehmer Rosing die Stirn bietet. Glänzend in ihrer Perfidie gerät dessen Bewerbungsrede, mit der das latent Politische des Romans genauso an die Oberfläche kommt wie in der Sorge des unverbesserlich fremdgehenden Drogisten Kuper, vom Schlecker-Konzern verdrängt zu werden. Man sollte das Buch deswegen aber nicht als vertrauten Nachwende- und Globalisierungsroman verharmlosen.
Alles steuert auf ein Verhängnis zu; man weiß nur nicht, welches. Daniel wird für alles Unglück verantwortlich gemacht: Diebstähle, Brände und Körperverletzungen; Rosings zurückgebliebene Tochter beschuldigt ihn der Vergewaltigung; dessen ebenfalls strohdummer Sohn könnte ihn damals auf dem Maisfeld bewusstlos geschlagen haben. Aus der Untersuchungshaft entlassen, treibt Daniel sich betrunken auf dem Schützenfest herum und trifft dort auf Volker. Der verrät ihn dem Mob, der ihn im leicht entflammbaren Geräteschuppen vermutet, man hört schon die Sirenen der Feuerwehrautos, dann bricht der Roman, mitten in der Rückblende, ab.
Tief ist ihm eine theologische Dimension eingeschrieben, die bisweilen mit Händen zu greifen ist, etwa in den Disputen, die Daniel im Konfirmandenunterricht mit dem Pastor über Gut und Böse, Freiheit und Notwendigkeit führt und die ohnehin großartige Dialogkunst auf ihren Höhepunkt bringt. Die verschiedenen Spielarten des Gottsuchertums hätten den Brüdern Karamasow alle Ehre gemacht. Diese Dimension wird kurzgeschlossen mit einer sexuellen Dynamik, die schließlich als (ein) geheimer Antrieb aller Handlungen kenntlich wird: "Just zu dem Zeitpunkt", berichtet Volker über ein altes Doktorspiel mit Daniel, "wo aus der kindlichen Spielerei mehr zu werden versprach, verfiel ich, bedingt durch diesen Hormonschub, einem religiösem Wahn."
Und die Einhundert-Mark-Frage: Kann Schatzschneider noch Bundestrainer werden? Hard Kuper sagt: "Die dreißig Jahre sind noch nicht um." Verlieren wird er die Wette trotzdem. Jan Brandt, 1974 in Leer, Ostfriesland, geboren, hat mit diesem gewaltigen Roman viel gewagt und (praktisch) alles gewonnen. Und eher gewinnt er, was sowieso zu hoffen ist, demnächst den Buchpreis, als dass Schatzschneider Bundestrainer wird.
Jan Brandt: "Gegen die Welt". Roman.
Dumont Literaturverlag, Köln 2011. 928 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier hätten die Brüder Karamasow sich einiges abschauen können: Jan Brandt legt mit "Gegen die Welt" einen gewaltigen, beeindruckenden Roman vor, der das Zeug zum Sieger hat.
Von Edo Reents
Der Lokführer, der mit den Selbstmördern auf den Gleisen nicht fertig wird, bezieht es nur aufs Wetter; aber man versteht es bald in einem allgemeinen Sinne: "Vorhersagen mögen für den Rest der Republik gelten, für Ostfriesland sind sie nutzlos. Hier muss man jederzeit auf alles gefasst sein." Machen wir uns gefasst auf ein Romandebüt, dessen Umfang (mehr als neunhundert Seiten) nicht die einzige Überraschung ist. Hier wird keine Tee-und-Kluntje-Romantik verzapft, es gibt weder Moorleichen noch Ostfriesennerze, und es wird auch kaum Plattdeutsch gesprochen. Das lokale Aroma ist nicht besonders streng und der Ort des Geschehens, das fingierte Dorf Jericho, hinter dem sich die Stadt Lee verbirgt, vielleicht zufällig gewählt.
"Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen" - in diesem berühmten Einstieg in Uwe Johnsons Debüt "Mutmaßungen über Jakob" (1959) spiegelt der vorliegende Roman. Johnson ließ seinen im ostdeutschen Jerichow spielen; das Weglassen des letzten Buchstabens erlaubt hier die zusätzliche Assoziation ans biblische Jericho: die Stadt, die nur um den Preis des Todes eines Erstgeborenen wieder aufgebaut werden darf. Johnsons Roman bildete die Keimzelle zu den "Jahrestagen"; Jan Brandt geht mit "Gegen die Welt", an dem er, wie man hört, zehn Jahre schrieb, gleich aufs Ganze und fordert, wie schon lange kein Debütant mehr, ja wie überhaupt nur wenige Schriftsteller, die Literaturkritik dazu heraus, über ein klassisches Kriterium der Romankunst nachzudenken: Totalität.
Der Lokführer Walter hat Peter Peters schuldlos auf dem Gewissen, der von seinen Mitschülern augenscheinlich in den Selbstmord getrieben wurde, nicht ohne einem von ihnen, dem Drogistensohn Daniel Kuper, einen Wink mit auf den Weg zu geben, der nicht im erstaunt fragenden Sinne Cäsars zu verstehen ist, sondern, nach dem Goethe-Gedicht ("Warte nur, balde ruhest du auch"), als Prophezeiung, mit der die von Anfang an beunruhigende Gesamtstimmung noch geschürt wird. Walters triste Lebensgeschichte wird im ersten Romandrittel unter einem Doppelstrich monologisch referiert, während oben die eigentliche Handlung weiterläuft: die zwischen Langeweile, Alkohol, Tabak und Heavy-Metal-Musik changierende, ungemein genau und ohne ein einziges Klischee erfasste Provinzexistenz der vier Freunde Daniel, Onno, Rainer und Stefan, die Peter Peters dem Lokführer schließlich zutreiben wie ein von überhellem Licht in Panik versetztes Reh, mit denen es aber selbst auch kein gutes Ende nimmt. Erging es Peter Peters wie Johnsons Jakob Abs, war es Selbstmord, Mord oder ein Unfall? Die Lokführer-Einschaltung ist nur das sichtbarste Indiz für die außergewöhnlichen Ambitionen eines Romans, dessen Multiperspektivität Konzentration erfordert, aber nie unübersichtlich wird und in den verschiedene Textsorten wie Briefe, Plakate und Werbebroschüren eingeflochten sind. Es beginnt mit einem anonymen, handschriftlich ergänzten Schreibmaschinenbrief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Er datiert vom 9. August 1999 und warnt den Regierungschef vor einer außerirdischen Invasion, "die am 19.9. 1999 in Jericho beginnen soll". Tatsächlich ist dies der Tag, an dem Stefan, einer der vier Freunde, in einem genialischen mathematisch-physikalischen Experiment buchstäblich verglüht.
Dieser Science-Fiction-Rahmen ist so weit gespannt, dass er für den größten Teil der Handlung keine direkte Rolle spielt; aber es geht von ihm eine Spannung aus, die an Steven Spielbergs "Unheimliche Begegnung der dritten Art" erinnert, wo auch lange nichts Spektakuläres passiert und der Protagonist (Richard Dreyfuss) in der Erwartung auf etwas Unbestimmtes, nur ihm Zugängliches hin lebt. Der ostfriesische Protagonist ist Daniel, mit dessen Kindheit der Roman im Sommer 1983 einsetzt. Es wurde schon Irritation angesichts der nicht nur hier spürbaren Detailverliebtheit geäußert, die den Roman stellenweise in der Tat fast zum Stillstand bringt. Lässt man sich darauf ein, dann merkt man, wie angemessen dies dem sich zäh dahinwälzenden Geschehen ist, das mehr illustriert als die sprichwörtliche Langsamkeit der Provinz. Nicht nur die sorgfältigen Schilderungen von Familien-, Schul- und Dorfszenen, auch die langen Aufzählungen von Personen, Spielzeug, Verkaufsartikeln und Autos lösen die Totalität, um die es dem Autor zu tun ist, ein und erzeugen dabei tatsächlich jenen Sog, von dem im Zusammenhang mit Literatur so oft die Rede ist.
Den markengläubigen Hang zum Archivalischen kennt man von der Popliteratur, aber damit hat dieses Buch nichts zu tun. "Gegen die Welt" ist von anderer Familie: außer Johnson wäre Dostojewski zu nennen, an Zeitgenossen Frank Schulz und dessen "Hagener Trilogie", die nicht nur vom Sujet her ein naher Verwandter ist, sondern auch aufgrund der psychologischen Tiefe bei gleichzeitiger Breite des Erzählens. Wie genau der überwuchernde Roman konstruiert ist, wie sicher der Autor die Fäden über die Distanz in den Händen und die Leitmotivik im Auge behält, merkt man ganz am Anfang und ganz am Ende: In jenem Sommer 1983 schließt Daniels Vater Bernhard, genannt Hard, mit Arne Mengs, dem Vater des Daniel in Hassliebe verbundenen, dicklichen Schulfreunds Volker, in Bierlaune folgende Wette ab: "2013 ist Schatzschneider Bundestrainer. Einsatz: 100,- (+ Zinsen)". Gemeint ist der damalige Hannover-96-Spieler Dieter Schatzschneider. Der Zettel taucht ganz am Ende wieder auf, Vater Mengs zeigt ihn Volker, der inzwischen Pastor in Verden an der Aller ist und bei der Räumung des Jerichoer Elternhauses hilft.
Mit sanfter Entschlossenheit werden wir zuletzt ins Zeitalter von Facebook gebeamt, wo es der Mengs-Sohn auf immerhin einunderteinundvierzig Freunde gebracht hat. Sobald man sich darüber wundert, dass Volker diese als Epilog funktionierende Episode in der Ich-Form erzählt, wird einem die Ungeheuerlichkeit dieser Reminiszenz klar: Volker, das unterprivilegierte Kind aus eigentlich privilegiertem, linksliberal-ökoaktivem Lehrerhaushalt, war einst in Daniel verliebt, der das denkbar schroff zurückwies. Die Rekapitulation dieser einseitigen Liebe gehört zu den vielen Glanzstücken des Romans und ist der Homosexuellen-Schilderung von Hans Castorps Hippe-Erlebnis im "Zauberberg" an Einfühlsamkeit und Kühnheit überlegen. Die zuletzt eisige, gespenstisch abgeklärt wirkende Sprache verrät aber die Gemütsverfassung des "schwulen Doppelmörders", der Volker geworden ist.
Das Schicksal der Hauptfigur ist nicht denkbar ohne den hoffnungslos tiefen Abgrund, der diese vom Dorfgeschehen trennt und naturgemäß den meisten Platz beansprucht. In jenem Sommer 1983 wird Daniel nackt und traumatisiert aufgegriffen, nachdem er auf einem rätselhaft verunstalteten Maisfeld eine Begegnung mit Außerirdischen hatte - oder auch nicht. Jericho wird damit so schnell bekannt, wie wieder Gras über die Sache wächst. Nur Daniels Außenseiterstatus hat sich damit endgültig verfestigt; er gilt als Spinner, wahlweise auch als homosexuell. Das Gymnasium bricht er ab, die alten Freundschaften auch. In diesen Passagen werden die Dramen von eigentlich begabten Kindern gespielt, die auf so persönliche wie typische Weise scheitern. Die Provinz hat schon manchen intellektuell Veranlagten in die Flucht oder in den Wahnsinn getrieben, und die ostfriesische macht dabei sicherlich keine Ausnahme - entweder man macht hier mit, oder man hat es etwas schwerer als andere; das ist überall auf dem Land so. So gesehen, ist Ostfriesland, um die tieferen Konflikte sichtbar werden zu lassen, ein Schauplatz wie jeder andere, den der Autor bemerkenswert unaufdringlich, aber mit kaltem Blick abbildet. Man sehe nur das Kurzporträt von Volkers Mutter: "Ihre Existenz als Nichtostfriesin hat sie seit dem Umzug nach Jericho vor siebenundzwanzig Jahren durch eine übertrieben vollständige Aneignung des Plattdeutschen zu verschleiern versucht."
Daniel fasst vorübergehend Fuß in einer Lokalzeitung, wird aber mit Wandschmierereien in Verbindung gebracht, von denen die Leute gar nicht so genau wissen wollen, ob es Hakenkreuze oder deren Übertünchungen sind. Der Leser sieht ihn als Antifaschisten, der dem rechtsnationalen Bürgermeisterkandidaten und Bauunternehmer Rosing die Stirn bietet. Glänzend in ihrer Perfidie gerät dessen Bewerbungsrede, mit der das latent Politische des Romans genauso an die Oberfläche kommt wie in der Sorge des unverbesserlich fremdgehenden Drogisten Kuper, vom Schlecker-Konzern verdrängt zu werden. Man sollte das Buch deswegen aber nicht als vertrauten Nachwende- und Globalisierungsroman verharmlosen.
Alles steuert auf ein Verhängnis zu; man weiß nur nicht, welches. Daniel wird für alles Unglück verantwortlich gemacht: Diebstähle, Brände und Körperverletzungen; Rosings zurückgebliebene Tochter beschuldigt ihn der Vergewaltigung; dessen ebenfalls strohdummer Sohn könnte ihn damals auf dem Maisfeld bewusstlos geschlagen haben. Aus der Untersuchungshaft entlassen, treibt Daniel sich betrunken auf dem Schützenfest herum und trifft dort auf Volker. Der verrät ihn dem Mob, der ihn im leicht entflammbaren Geräteschuppen vermutet, man hört schon die Sirenen der Feuerwehrautos, dann bricht der Roman, mitten in der Rückblende, ab.
Tief ist ihm eine theologische Dimension eingeschrieben, die bisweilen mit Händen zu greifen ist, etwa in den Disputen, die Daniel im Konfirmandenunterricht mit dem Pastor über Gut und Böse, Freiheit und Notwendigkeit führt und die ohnehin großartige Dialogkunst auf ihren Höhepunkt bringt. Die verschiedenen Spielarten des Gottsuchertums hätten den Brüdern Karamasow alle Ehre gemacht. Diese Dimension wird kurzgeschlossen mit einer sexuellen Dynamik, die schließlich als (ein) geheimer Antrieb aller Handlungen kenntlich wird: "Just zu dem Zeitpunkt", berichtet Volker über ein altes Doktorspiel mit Daniel, "wo aus der kindlichen Spielerei mehr zu werden versprach, verfiel ich, bedingt durch diesen Hormonschub, einem religiösem Wahn."
Und die Einhundert-Mark-Frage: Kann Schatzschneider noch Bundestrainer werden? Hard Kuper sagt: "Die dreißig Jahre sind noch nicht um." Verlieren wird er die Wette trotzdem. Jan Brandt, 1974 in Leer, Ostfriesland, geboren, hat mit diesem gewaltigen Roman viel gewagt und (praktisch) alles gewonnen. Und eher gewinnt er, was sowieso zu hoffen ist, demnächst den Buchpreis, als dass Schatzschneider Bundestrainer wird.
Jan Brandt: "Gegen die Welt". Roman.
Dumont Literaturverlag, Köln 2011. 928 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das ehrgeizigste Debüt der neuen Saison." FAZ "Ein berührendes, aufwühlendes und brillantes Buch und das deutsche Debüt des Jahres!" BÜCHER "Ein Debüt, das aufs Ganze geht." BOERSENBLATT.NET "Eine zu Herzen gehende Geschichte (...) und auch optisch ausnehmend schönes Buch. Ein grandioser Rundumblick auf eine kleine Welt, in der sich mehr von der großen Welt da draußen widerspiegelt als ihre Bewohner manchmal erkennen können." SPIEGEL ONLINE "Ich habe selten etwas von einem neuen Autor gelesen, das mich auf so vielen Ebenen begeistert, erinnert, unterhalten und fasziniert hat, und prognostiziere ihm einen durchschlagenden Erfolg!" EMOTION.DE "Es fehlt ja sonst so oft an Genauigkeit, an Sprachgefühl, Liebe zum Gegenstand und Wut über den Zustand der Welt. All das gibt es in Brandts Buch. (...) Jan Brandt zeigt, was für ein guter Erzähler er ist, wie genau er beobachtet, wie er unterschiedliche Tempi beherrscht und wie er eine Geschichte verknappen und beschleunigen kann." FAS "Brandts halluzinogener Roman "Gegen die Welt" ist ein Wunderwerk über Erwachsenwerden in der Provinz, Freundschaften, weites Ostfriedland, den noch weiteren Pop und sowieso, über den ganzen Rest." STERN "Ein kolossaler Debütroman: Es ist ein Meisterstück, wie nahe er Personen kommt." HAMBURGER ABENDBLATT "(...) eines der ehrgeizigsten Buchprojekte dieses Herbstes." BERLINER MORGENPOST "Gegen die Welt liest sich wie ein Bastard aus dem Uwe Johnson der Jahrestage, der Abgründigkeit von J.D Salinger und dem Horror von Stephen King (...)" "Eine wilde Mixtur aus verstellt autobiografischer Rekonstruktion, Jugendroman, Coming-of-Age-Geschichte und fiebriger Untergangsfantasie. Ein wuchtiges, wunderbar anmaßendes und in seiner Detailversessenheit und seinem lexikalischen Reichtum triumphales Buch, das sich gegen eine Welt der Verhinderung und der Unterdrückung richtet." ROLLING STONE "Ein beeindruckendes Buch." ZEIT ONLINE "Brandt schreibt herrliche Dialoge. (...) Ein hoch ambitioniertes Projekt. Man langweilt sich nicht ein einziges Mal." JOURNAL FRANKFURT "Dass seine pessimistische Weltsicht dennoch nicht zu einer deprimierenden Lektüre führt, verdankt sich der formalen Brillanz, mit der Jan Brandt seinen Stoff präsentiert." WDR3 "Ein erstaunlich stilsicheres, in seinem komplexen Aufbau klug durchdachtes Buch (...) variantenreich, kühn und zugleich sicher." SÜDDEUTSCHE ZEITUNG "Der Roman hat sich vom Gestaltungsfuror seines Schöpfers nicht beirren lassen. Gegen die Welt hat alle Tugenden eines altmodischen Romans: einen Ort, einen Konflikt und viele Figuren, die man nachher zu seinem Bekanntenkreis zählt." DIE WELT "Brandt hat wirklich etwas zu erzählen (...) ein fulminanter Roman über die Provinz und ihre Mentalität." DER TAGESSPIEGEL "Höhepunkt des auch formal famosen Buches ist der sich über 150 Seiten als Fußnote hinziehende Monolog eines Lokführers, dem sich immer wieder jemand vor den Zug wirft." DAS MAGAZIN "Grandios." 1LIVE "Hier hätten die Brüder Karamasow sich einiges abschauen können: ein gewaltiger, beeindruckender Roman, der das Zeug zum Sieger hat (...)Jan Brandt hat mit diesem gewaltigen Roman viel gewagt und (praktisch) alles gewonnen." FAZ "Brandt experimentiert auf Teufel komm raus, teilt Seiten, und kann eben doch, was ein Romancier können muss: beschreiben, Bögen spannen und glaubhafte Charaktere entwerden, kurz: eine Welt schaffen. (...) Dieser Roman rockt." DIE WELT "Ein auch formal famoses Buch." DAS MAGAZIN "Der Leser wird in die Brandt'sche Welt gesogen und zu einem Bewohner Jerichos. (...) Jan Brandt ist (...) ein grandioses Debüt gelungen." BERLINER ZEITUNG "Die Schönheit dieses Buchs liegt, neben allem anderen, im Ehrgeiz seines Autor, in der Anmaßung seines erzählerischen Programms, in seiner großen Geste. (...) Jan Brandt hat nicht einfach einen Roman geschrieben, in diesem Herbst ist "Gegen die Welt" tatsächlich das Buch der Bücher." SPIEGEL "Gegen die Welt" macht von Anfang an süchtig: mit subtilem Humor und entlarvenden Dialogen. (...) Wer noch nach dem großen Herbstroman sucht: hier ist er." NEON "928 Seiten lang glaubt man, in Ostfriesland mitzuleben und mitzuleiden. Das ist es, was ein großer Roman schaffen kann." MUSIKEXPRESS "Eines der überraschendsten Bücher dieses Herbstes." TAZ "Es entsteht ein Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Dass es das 900-Seiten-Wekr auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, ist also keine Überraschung." DEUTSCHLANDRADIO KULTUR "Die Feuilletons der Republik schäumen über vor Lob für Jungautor Brandt. Völlig zu Recht." GQ "In diesem unglaublichen Buch fasziniert jeder Satz." GRAZIA "Große Szene, großes Buch." HAMBURGER ABENDBLATT "Er enthält alles, was einen großen Roman ausmacht." FRANKFURTER NEUE PRESSE "Klug, dunkel und vor allem ein raffiniertes Spiel mit der Wirklichkeit." NDR KULTURJOURNAL "Einer der schönsten, aufregendsten Romane dieses Jahres." FRANKFURTER NEUE PRESSE "Wie Brandt bei allem Aufwand seine erzählerischen Zügel in der Hand behält und am Ende locker einen Trumpf aus dem Ärmel schüttelt, ist schlicht großartig." BUCHJOURNAL
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit großen Namen wirft Edo Reents in seiner Besprechung dieses Riesenromans um sich. Von Dostojewski ist die Rede, von Uwe Johnson, Frank Schulz und auch von Reents' Leib- und Magen-Autor Thomas Mann. Des letzteren Homosexuellen-Episode im "Zauberberg" freilich sei ein vergleichbares Moment von Jan Brandts Roman gar überlegen. Hoch ist dies Lob, mindestens ebenso hoch hinaus ragt es an anderen Stellen dieser Besprechung. Wie hier ein junger Autor sich an eine Essenz des Romanhaften wage, nämlich die Fiktion als Abbildung und Herstellung einer "Totalität", das nötigt Reents nämlich von Anfang bis Ende höchsten Respekt ab. Auch und gerade die anderswo etwas bemängelte Lust am Detail verteidigt er als wichtige Ingredienz der hier beschriebenen Welt. All das, von Heavy Metal bis Fußball, sei wichtig und aufs Ganze bezogen - ein Ganzes, zu dem auch ein der Science Fiction entlehnter Rahmen gehöre. Verschränkt werden die Geschichte des in Jericho (das heißt im ostfriesischen Leer) aufwachsenden Drogistensohns David mit der des in den Selbstmord getriebenen Peter Peters. Wie Brandt die Motive verknüpfe und so eine Welt runde, das ist dem Rezensenten nicht nur über alle 900 Seiten die Lektüre, sondern auch - fordert er unverhohlen - den Deutschen Buchpreis wert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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