Amerika im Jahr 2020: Ben Turnbull, ein betuchter pensionierter Börsenmakler, lebt in einer komplizierten Ehe, die durch die junge Prostituierte Deirdre erotisch aufgehellt wird. Er widmet sich seiner großen Familie, gibt dem Enkel das Fläschchen und lässt sich von der Schwiegertochter bezaubern. Mit den Verhältnissen nach dem Atomkrieg gegen China hat Ben sich ebenso arrangiert wie mit dem zerfallenen Gemeinwesen. Doch dann erkrankt er an Leberkrebs.
«Ein bewegendes und empfehlenswertes Buch.»
«Ein bewegendes und empfehlenswertes Buch.»
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Schwarzfeucht ist das Reh, rostig das Scheunentor
Virtuosen des Verfalls: John Updikes "Bech in Bedrängnis" und "Gegen Ende der Zeit" / Von Elke Schmitter
John Updike ist nun achtundsechzig Jahre alt. Ein durchschnittlicher Angestellter in seiner Hemisphäre wäre schon lange pensioniert, einem besonders wichtigen Mann wäre es vergönnt geblieben, bis zu etwa diesem Zeitpunkt das Elend von Ohnmacht, Reihenuntersuchungen und allzu ausgiebigem Zeitungsstudium hinauszuschieben. Updike, mit dem Privileg des Künstlers, keinen täglichen und keinen lebenszeitlichen Ruhestand zu kennen, schreibt natürlich weiter. Wie eine Hausfrau, deren Pflichten niemals enden, kann er nicht einfach Schluß machen: Er sieht immer noch etwas, das die anderen, längst faul und benommen im Sessel versunken, nicht sehen.
Womit die Geschlechterparallele schon erledigt wäre. Liest man die beiden neuen Bücher Updikes, die in diesem Herbst in deutscher Übersetzung erscheinen, auf ihre inhaltlichen Mitteilungen zu diesem Thema hin, einem großen des zu Ende gehenden Jahrhunderts, dann ist der Befund so karg wie klar: Männer und Frauen passen nicht zueinander. Sie denken und fühlen in parallelen Universen, und sie berühren sich nur im Sex - ekstatisch, zärtlich, gelingend. Jedoch ausnahmslos flüchtig. Durchaus perfekt - erledigt! Es sind Begegnungen auf einer schwankenden Zugbrücke, die vom wilden Land auf eine geheimnisvolle Burg führt - über einen Abgrund hinweg, selbstverständlich -, und im Alter wird die Brücke eben hochgezogen. Dann bleibt, das Funktionieren des Hirns noch vorausgesetzt, allein jene Erinnerung, von der Flauberts Frühpensionäre Frédéric und Deslauriers in jungenhaftem Enthusiasmus sagen: "Das war doch das Beste, was wir gehabt haben!"
Updike, dessen Werk immer auch ein Paarlauf mit den typischen Erfahrungen seiner Generation und (Mittel-)Klasse war - das Leben in der amerikanischen Provinz, die Atmosphären und Ideologien seit den Fünfzigern, schließlich die libidinösen Phasen eines bürgerlichen Mannes -, wählt zu Hauptfiguren in seinen neuen Büchern gealterte Helden: Henry Bech (jüdischer Schriftsteller und Held zweier Erzählungsbände) wie Ben Turnbull (Updikes frischerfundene Hauptfigur des Romans "Gegen Ende der Zeit") sehen ihr Leben zur Neige gehen. Ben ist zum zweiten Mal verheiratet, während Henry, ein Autor par excellence, lange seine Unabhängigkeit genossen hat, von der Gespielin zur Assistentin und wieder zurück: Für beide verknappt sich das Angebot. Auch wird der Atem schwerer, die Augen werden schwächer, und jener Hautsack, der einmal Glück und Vergessen garantierte, zieht sich in ein schlaffes Eigenleben zurück. Doch beide wittern, wo immer die Luft rein genug ist, "Sex, diese Andeutung ewigen Lebens".
Henry hat in diesem Spiel die besseren Karten: Er, der noch immer vom Ruhm seines Erstlings lebt (eines Romans in Kerouac-Nachfolge mit dem Titel "Travel Light") und eine komfortable Karriere die seine nennen darf - zwischendurch beinahe vergessen, ist er nun, nach den verwirrenden Ratschlüssen der literarischen Öffentlichkeit und durch sein schieres Überleben, eine Zelebrität geworden -, kann Genie gegen Gespräche tauschen, Bekanntheit gegen Brüste, Charisma gegen Koitus. Den Regeln der literarischen Satire folgend, scheut Updike hier vor keiner schönen Albernheit zurück. Bech, seinem Erfinder als Autor unterlegen, jedoch vermutlich überlegen an Dreistigkeit und narzißtischer Gier, erlebt und setzt mit ungehemmter Freude ins Werk, wovon die Künstler unserer tristen Wirklichkeit nur träumen dürfen: Er schleppt die schärfsten Weiber ab, erledigt seine Widersacher ungestraft mit Geist und Gift und kriegt, noch obendrauf und außerdem ungerechterweise, als rüstiger Greis und junger Vater den Nobelpreis. (In zwei seiner Geschichten allerdings knüpft Updike enger an jenen Henry Bech an, den seine Anhänger seit dreißig Jahren kennen - indem er Bech zurück nach Osteuropa schickt, wo der amerikanische Jude von Albträumen verfolgt wird, für die ihn nicht einmal all die sexy Dissidentinnen entschädigen können, und indem er Bech nach Kalifornien expediert, wo der Autor einen quälend langen, ebenso überflüssigen wie trivialen Rechtsstreit um eine zwanzig Jahre zurückliegende Formulierung durchstehen muß. Hier hat die Realität den Schriftsteller im Würgegriff, und die Beschreibung der Druckstellen und Male ist nicht weniger faszinierend, aber natürlich weniger komisch als der satirische Eskapismus des reifen Updike zum Ruhme des späten Bech.)
Hingegen Ben: Er hat es schwerer. Er lebt mit seiner zweiten Frau, der er einen zweiten sexuellen Höhenflug seines Lebens verdankt (nachdem er als vierfacher Vater und zuverlässiger Angestellter sein Glück schon abgeheftet wähnte), allein im großen Haus. Der beiderseitige Ehebruch und die darauf folgende Hochzeit, die gemeinsamen Taumel der Besessenheit liegen schon länger zurück. Während Gloria, die wir uns als eine noch immer strahlende, mit der Energie einer Margaret Thatcher bewehrte, blonde Bourgoise vorstellen dürfen, eine Geschenkboutique betreibt, zu diesem Zweck Kongreßchen und Tagungen besucht und überhaupt im lebhaften Stoffwechsel mit der Welt verkehrt, beschränkt sich Ben auf Besuche seiner ehemaligen Investment-Beratungsfirma und bei den Kindern aus seiner ersten Ehe, die allesamt in der Nähe leben und auf ihn den bedenklichen Eindruck von Frühkonservativen machen, sanft und entschieden die Fehler seiner Biographie vermeidend. Hin und wieder eine Runde Golf mit den alten Kumpels, Routineuntersuchungen . . . und dann Prostatakrebs.
Nach einer These von Lacan ist Caritas sublimierte Aggression. Updike illustriert diese These nicht nur, er erweitert sie auch: Caritas ist das, was übrigbleibt, wenn zwischen Mann und Frau die Sexualität endgültig erloschen ist. Gloria, die künftige Alleinbesitzerin von Villa, Park und Wertpapieren, umschwebt den kranken Helden "wie ein heiterer soignierter Geier". Sie dosiert seine Medizin, achtet auf seine Körperpflege, regelt seine Arzttermine und bereitet sich in kultivierter Weise auf sein Ableben vor. "Sie hat einen neuen Friseur aufgetan, an der Newbury Street, der die perfekte Tönung für sie gefunden hat, ein kupfrig überhauchtes blasses Platinblond, das sich so subtil mit dem Grau verbindet, daß ihr Haar nicht im mindesten gefärbt wirkt, sondern nur ganz leicht unirdisch: eine Gloriole, eine Haube für die angehende Witwe." Die Kehrseite, aber auch der eigentliche Ausdruck ihres Wunsches ist die Fürsorge, die sie dem Kranken angedeihen läßt, die Konzentration auf sein tägliches Wohl, die ihn, den Ehemann, zum Ministranten seiner Erkrankung macht, täglich opfernd "auf dem Altar seiner Wunde".
Doch kann Aggression auch Caritas enthalten. Updike variiert ein großes Thema seines Werks, die Wirklichkeit der Ehe, indem er sie - in ihrer ranzig-säkularen Spätphase - in ein kommendes Jahrhundert versetzt. Wie Arno Schmidt in "Schwarze Spiegel" stellte er uns eine Welt vor, die in den siebziger Jahren eine kurrente Rolle unter den schwarzen Utopien spielte: von einem begrenzten atomaren Schlagabtausch versehrt; verseucht, aber nicht vernichtet. Ben Turnbull lebt in einem schwachen, politisch zersplitterten Amerika, in dem Börsenmakler, Dentisten und Friseure wieder gutes Geld verdienen, gigantische Einkaufszentren zwischen den Todeszonen für Abwechslung und Umsatz sorgen, die Sicherheit der Bürger aber Privatsache geworden ist. Die kleine Truppe von Jugendlichen, welcher der Haus- und Parkbesitzer Ben ein monatliches Schutzgeld zahlt, gewährt ihm nicht nur den Windschatten ihrer Aggression, sondern auch Kontakt: mit ihrer juvenilen Verwegenheit, mit ihrer Überlebenslust und, nicht zuletzt, mit einem jungen Mädchen, einer Streunerin, die der alternde Mann an gewissen Stellen berühren darf.
Wie unendlich kunstvoll ist das erdacht und entwickelt - die Ambiguität des trauten Heims mit seiner gutgeölten Ehemaschine, der dubiose und doch so anziehende Gegenentwurf der jungen Wilden da draußen, der Todkranke dazwischen. Lüstern und sentimental, lebensfromm und wehmütig, zärtlich und verschlagen sucht er, das Letzte noch herauszuholen und im Gefecht mit seiner Frau, das er verloren geben muß, noch einmal eine Pause zu erschleichen, noch einmal eine Eskapade in das Unberechenbare. Ein junges Reh, das die gepflegten Büsche beknabbert und von der stählernen Gloria umgehend zum Tode verurteilt wird, öffnet "die rostigen Scheunentore seines Herzens": Er drückt ihm die Daumen, er schießt in die Luft statt in seine Flanken, er wünscht mit Inbrunst das Überleben dieser stummen Anmut, dieser starkschenkligen und ungezähmten Weiblichkeit mit den "schwarzen feuchten Kugelaugen"; er läßt es fliehen. Wie Updike mit diesem Novellenthema - der Wettlauf der Ricke mit dem tödlichen Ordnungswahn der Frau - als einer Art Spange das große Geschehen zusammenhält, das ist so elegant wie eindrucksvoll wie klassisch: der Rahmen eines Meisterwerks.
Updike, der Glückliche im Können, hat verläßliches Glück mit seinen Übersetzern. In beiden Büchern ist seine Sprache auf ihrer eigenen, einsamen Höhe: eine große, zuweilen erhitzte, aber niemals ins Leere laufende Rhetorik, eine alle Nuancen des Humors umfassende stilistische Breite (bis hin zu einer drastischen Selbstüberbietung im Sexuellen, die an Philip Roth erinnert) und schließlich eine einzigartige Verbindung von materialistischer Genauigkeit und lyrischer Präzision, von der Kunst eines Rühmkorf nicht mehr entfernt. Reichtum des Vokabulars, Melodik und Vielgestalt der Sätze und eine geradezu delikate Ausdrucksfähigkeit - all das haben Maria Carlsson und Helmut Frielinghaus ins Deutsche nicht nur gerettet, sondern gestaltet, erfunden. Das eigentlich ermöglicht den Genuß, die Bücher aufeinander bezogen zu lesen, nicht nur die Variation von Updike-Themen, sondern auch deren Spiegelung zu erleben: So kontrastiert dem problematischen, zuzeiten ihm selbst lästigen jüdischen Selbstbewußtsein Henry Bechs ein antisemitischer Ausbruch von Ben Turnbull - ein gespenstischer, ihn selbst erschreckender Wurmfortsatz eines vergangenen Jahrhunderts, der auch den Dritten Weltkrieg überlebt hat.
Durch Turnbull wie Bech kommt der grübelnde Updike zu Wort. In historischen Reminiszenzen, die den utopischen Roman durchziehen, ohne ihn je zu beschweren, erinnert der Autor an das nachpharaonische Ägypten, die Anfänge der Christenheit, das Verröcheln des Römischen Reiches: Epochen von Auflösung und Anomie, in denen die Stärksten und die Findigsten, die Skrupellosen und die besessen Gläubigen die Ruinen einer Welt besetzen, die sich durch Größenwahn, Fixierung und Routine selbst zugrunde richtete. Ben Turnbull ist von der Idee der parallelen Universen fasziniert, und Updike scheint ihm darin zu folgen - alle seine Helden haben aufs unverächtlichste privat philosophiert, sich das Recht auf Gedanken nehmend wie Stephen Daedalus und Leopold Bloom.
Was muß passieren, fragt sich Ben, damit die Welt bleibt, wie sie ist, durch welche Handlung, welches Wort wird der Lauf der Dinge geändert, und wie sind die ideelle und die materielle Welt, wie Natur und Geschichte verbunden? Als ein Vorbote der neuen Ordnung erscheint zum Ende von Updikes Ehegeschichte die Botin von "FedEx" auf dem Villenvorplatz mit sauberer Randbepflanzung: bewaffnet und Mitglied einer wachsenden Organisation, berechnet nun die Postbotin das Schutzgeld für die bürgerlichen Vororte. Wie im alten Europa - von dem übrigens nicht einmal mehr die Rede ist - beginnt die neue Zivilisation mit Thurn & Taxis & Co., aus der Einheit von Kommunikation und Gewalt. Und wie nicht anders zu erwarten, wuchert in den Leerstellen der Gesellschaft die Natur, nimmt sich flink archaische Rechte zurück, wie das Reh, oder gebiert neue Formen des Lebens, parasitär und gefräßig, immun gegen die alten Tötungsmittel, latent bedrohlich und doch auch unendlich interessant für einen passionierten "National Geographic"-Leser wie Ben. Der sitzt gewindelt auf dem Sofa und spielt mit seinen jüngsten Enkeln, die, wie er, den Sphinkter nicht kontrollieren können und also nicht dazugehören, noch mehr Natur als Mensch sind. Sie werfen mit Flocken und Förmchen um sich, entdecken den Raum - so wie der alte Mann, den Tod zwischen den Beinen und im Kopf, sich nun endgültig an die Zeit gewöhnen muß.
Hin und wieder schafft er es noch raus. Er bewundert "das schneidende Gelb der Forsythien", die "kühle, fluoreszierend weiße Pracht der Birnbäume", den "chartreusefarbenen Schaum" der Eschenahorne, diese ihm neue Welt aus Schönheit, Logik, Zufall und Sex. "Wie merkwürdig es sein muß, eine Herbstblume zu sein, zu warten, während all die anderen - Schneeglöckchen und Krokus, Wiesenmargerite und Weiderich, Wilde Möhre und Goldrute - den emsigen Bestäubern schöne Augen machen, und erst wenn die Tage kürzer und die Insektenvölker träge werden und an ihr Ende kommen und nur noch ein paar im Zickzackflug das Gelände erkundende Libellen da sind und ziellos auf und nieder wehende Kohlweißlinge, die eigenen scheuen, jungfräulichen, sterngleichen Reize zu entfalten." Berückend genau bringt Updike gerade bei der Naturbetrachtung seines Helden das Halb- und Vorbewußte ins Ausdrückliche, ohne Einbußen an Subtilität: der individuelle rote Faden, der ständig durchs Gehirn läuft und der so schwer zu fassen ist; das Vage, zugleich Einzigartige, das jede Sekunde menschlichen Lebens prägt; die Flüssigkeit, in der unser Bewußtsein schwimmt. Eine Andacht erobert Bens Herz, vergleichbar seinem Erstaunen über "das wundersame Maschenwerk der Jockey-Unterhose", die sich auf dem Toilettensitz, wo er nun soviel Zeit verbringt, über die Knie spannt. "Die Körper sind morbider geworden", sagt Gottfried Benn in seinem Essay "Altern als Problem für Künstler", "aber sie leben länger."
John Updike: "Bech in Bedrängnis". Fast ein Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helmut Frielinghaus. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2000. 284 S., br., 26,- DM.
John Updike: "Gegen Ende der Zeit". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000. 399 S., geb., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Virtuosen des Verfalls: John Updikes "Bech in Bedrängnis" und "Gegen Ende der Zeit" / Von Elke Schmitter
John Updike ist nun achtundsechzig Jahre alt. Ein durchschnittlicher Angestellter in seiner Hemisphäre wäre schon lange pensioniert, einem besonders wichtigen Mann wäre es vergönnt geblieben, bis zu etwa diesem Zeitpunkt das Elend von Ohnmacht, Reihenuntersuchungen und allzu ausgiebigem Zeitungsstudium hinauszuschieben. Updike, mit dem Privileg des Künstlers, keinen täglichen und keinen lebenszeitlichen Ruhestand zu kennen, schreibt natürlich weiter. Wie eine Hausfrau, deren Pflichten niemals enden, kann er nicht einfach Schluß machen: Er sieht immer noch etwas, das die anderen, längst faul und benommen im Sessel versunken, nicht sehen.
Womit die Geschlechterparallele schon erledigt wäre. Liest man die beiden neuen Bücher Updikes, die in diesem Herbst in deutscher Übersetzung erscheinen, auf ihre inhaltlichen Mitteilungen zu diesem Thema hin, einem großen des zu Ende gehenden Jahrhunderts, dann ist der Befund so karg wie klar: Männer und Frauen passen nicht zueinander. Sie denken und fühlen in parallelen Universen, und sie berühren sich nur im Sex - ekstatisch, zärtlich, gelingend. Jedoch ausnahmslos flüchtig. Durchaus perfekt - erledigt! Es sind Begegnungen auf einer schwankenden Zugbrücke, die vom wilden Land auf eine geheimnisvolle Burg führt - über einen Abgrund hinweg, selbstverständlich -, und im Alter wird die Brücke eben hochgezogen. Dann bleibt, das Funktionieren des Hirns noch vorausgesetzt, allein jene Erinnerung, von der Flauberts Frühpensionäre Frédéric und Deslauriers in jungenhaftem Enthusiasmus sagen: "Das war doch das Beste, was wir gehabt haben!"
Updike, dessen Werk immer auch ein Paarlauf mit den typischen Erfahrungen seiner Generation und (Mittel-)Klasse war - das Leben in der amerikanischen Provinz, die Atmosphären und Ideologien seit den Fünfzigern, schließlich die libidinösen Phasen eines bürgerlichen Mannes -, wählt zu Hauptfiguren in seinen neuen Büchern gealterte Helden: Henry Bech (jüdischer Schriftsteller und Held zweier Erzählungsbände) wie Ben Turnbull (Updikes frischerfundene Hauptfigur des Romans "Gegen Ende der Zeit") sehen ihr Leben zur Neige gehen. Ben ist zum zweiten Mal verheiratet, während Henry, ein Autor par excellence, lange seine Unabhängigkeit genossen hat, von der Gespielin zur Assistentin und wieder zurück: Für beide verknappt sich das Angebot. Auch wird der Atem schwerer, die Augen werden schwächer, und jener Hautsack, der einmal Glück und Vergessen garantierte, zieht sich in ein schlaffes Eigenleben zurück. Doch beide wittern, wo immer die Luft rein genug ist, "Sex, diese Andeutung ewigen Lebens".
Henry hat in diesem Spiel die besseren Karten: Er, der noch immer vom Ruhm seines Erstlings lebt (eines Romans in Kerouac-Nachfolge mit dem Titel "Travel Light") und eine komfortable Karriere die seine nennen darf - zwischendurch beinahe vergessen, ist er nun, nach den verwirrenden Ratschlüssen der literarischen Öffentlichkeit und durch sein schieres Überleben, eine Zelebrität geworden -, kann Genie gegen Gespräche tauschen, Bekanntheit gegen Brüste, Charisma gegen Koitus. Den Regeln der literarischen Satire folgend, scheut Updike hier vor keiner schönen Albernheit zurück. Bech, seinem Erfinder als Autor unterlegen, jedoch vermutlich überlegen an Dreistigkeit und narzißtischer Gier, erlebt und setzt mit ungehemmter Freude ins Werk, wovon die Künstler unserer tristen Wirklichkeit nur träumen dürfen: Er schleppt die schärfsten Weiber ab, erledigt seine Widersacher ungestraft mit Geist und Gift und kriegt, noch obendrauf und außerdem ungerechterweise, als rüstiger Greis und junger Vater den Nobelpreis. (In zwei seiner Geschichten allerdings knüpft Updike enger an jenen Henry Bech an, den seine Anhänger seit dreißig Jahren kennen - indem er Bech zurück nach Osteuropa schickt, wo der amerikanische Jude von Albträumen verfolgt wird, für die ihn nicht einmal all die sexy Dissidentinnen entschädigen können, und indem er Bech nach Kalifornien expediert, wo der Autor einen quälend langen, ebenso überflüssigen wie trivialen Rechtsstreit um eine zwanzig Jahre zurückliegende Formulierung durchstehen muß. Hier hat die Realität den Schriftsteller im Würgegriff, und die Beschreibung der Druckstellen und Male ist nicht weniger faszinierend, aber natürlich weniger komisch als der satirische Eskapismus des reifen Updike zum Ruhme des späten Bech.)
Hingegen Ben: Er hat es schwerer. Er lebt mit seiner zweiten Frau, der er einen zweiten sexuellen Höhenflug seines Lebens verdankt (nachdem er als vierfacher Vater und zuverlässiger Angestellter sein Glück schon abgeheftet wähnte), allein im großen Haus. Der beiderseitige Ehebruch und die darauf folgende Hochzeit, die gemeinsamen Taumel der Besessenheit liegen schon länger zurück. Während Gloria, die wir uns als eine noch immer strahlende, mit der Energie einer Margaret Thatcher bewehrte, blonde Bourgoise vorstellen dürfen, eine Geschenkboutique betreibt, zu diesem Zweck Kongreßchen und Tagungen besucht und überhaupt im lebhaften Stoffwechsel mit der Welt verkehrt, beschränkt sich Ben auf Besuche seiner ehemaligen Investment-Beratungsfirma und bei den Kindern aus seiner ersten Ehe, die allesamt in der Nähe leben und auf ihn den bedenklichen Eindruck von Frühkonservativen machen, sanft und entschieden die Fehler seiner Biographie vermeidend. Hin und wieder eine Runde Golf mit den alten Kumpels, Routineuntersuchungen . . . und dann Prostatakrebs.
Nach einer These von Lacan ist Caritas sublimierte Aggression. Updike illustriert diese These nicht nur, er erweitert sie auch: Caritas ist das, was übrigbleibt, wenn zwischen Mann und Frau die Sexualität endgültig erloschen ist. Gloria, die künftige Alleinbesitzerin von Villa, Park und Wertpapieren, umschwebt den kranken Helden "wie ein heiterer soignierter Geier". Sie dosiert seine Medizin, achtet auf seine Körperpflege, regelt seine Arzttermine und bereitet sich in kultivierter Weise auf sein Ableben vor. "Sie hat einen neuen Friseur aufgetan, an der Newbury Street, der die perfekte Tönung für sie gefunden hat, ein kupfrig überhauchtes blasses Platinblond, das sich so subtil mit dem Grau verbindet, daß ihr Haar nicht im mindesten gefärbt wirkt, sondern nur ganz leicht unirdisch: eine Gloriole, eine Haube für die angehende Witwe." Die Kehrseite, aber auch der eigentliche Ausdruck ihres Wunsches ist die Fürsorge, die sie dem Kranken angedeihen läßt, die Konzentration auf sein tägliches Wohl, die ihn, den Ehemann, zum Ministranten seiner Erkrankung macht, täglich opfernd "auf dem Altar seiner Wunde".
Doch kann Aggression auch Caritas enthalten. Updike variiert ein großes Thema seines Werks, die Wirklichkeit der Ehe, indem er sie - in ihrer ranzig-säkularen Spätphase - in ein kommendes Jahrhundert versetzt. Wie Arno Schmidt in "Schwarze Spiegel" stellte er uns eine Welt vor, die in den siebziger Jahren eine kurrente Rolle unter den schwarzen Utopien spielte: von einem begrenzten atomaren Schlagabtausch versehrt; verseucht, aber nicht vernichtet. Ben Turnbull lebt in einem schwachen, politisch zersplitterten Amerika, in dem Börsenmakler, Dentisten und Friseure wieder gutes Geld verdienen, gigantische Einkaufszentren zwischen den Todeszonen für Abwechslung und Umsatz sorgen, die Sicherheit der Bürger aber Privatsache geworden ist. Die kleine Truppe von Jugendlichen, welcher der Haus- und Parkbesitzer Ben ein monatliches Schutzgeld zahlt, gewährt ihm nicht nur den Windschatten ihrer Aggression, sondern auch Kontakt: mit ihrer juvenilen Verwegenheit, mit ihrer Überlebenslust und, nicht zuletzt, mit einem jungen Mädchen, einer Streunerin, die der alternde Mann an gewissen Stellen berühren darf.
Wie unendlich kunstvoll ist das erdacht und entwickelt - die Ambiguität des trauten Heims mit seiner gutgeölten Ehemaschine, der dubiose und doch so anziehende Gegenentwurf der jungen Wilden da draußen, der Todkranke dazwischen. Lüstern und sentimental, lebensfromm und wehmütig, zärtlich und verschlagen sucht er, das Letzte noch herauszuholen und im Gefecht mit seiner Frau, das er verloren geben muß, noch einmal eine Pause zu erschleichen, noch einmal eine Eskapade in das Unberechenbare. Ein junges Reh, das die gepflegten Büsche beknabbert und von der stählernen Gloria umgehend zum Tode verurteilt wird, öffnet "die rostigen Scheunentore seines Herzens": Er drückt ihm die Daumen, er schießt in die Luft statt in seine Flanken, er wünscht mit Inbrunst das Überleben dieser stummen Anmut, dieser starkschenkligen und ungezähmten Weiblichkeit mit den "schwarzen feuchten Kugelaugen"; er läßt es fliehen. Wie Updike mit diesem Novellenthema - der Wettlauf der Ricke mit dem tödlichen Ordnungswahn der Frau - als einer Art Spange das große Geschehen zusammenhält, das ist so elegant wie eindrucksvoll wie klassisch: der Rahmen eines Meisterwerks.
Updike, der Glückliche im Können, hat verläßliches Glück mit seinen Übersetzern. In beiden Büchern ist seine Sprache auf ihrer eigenen, einsamen Höhe: eine große, zuweilen erhitzte, aber niemals ins Leere laufende Rhetorik, eine alle Nuancen des Humors umfassende stilistische Breite (bis hin zu einer drastischen Selbstüberbietung im Sexuellen, die an Philip Roth erinnert) und schließlich eine einzigartige Verbindung von materialistischer Genauigkeit und lyrischer Präzision, von der Kunst eines Rühmkorf nicht mehr entfernt. Reichtum des Vokabulars, Melodik und Vielgestalt der Sätze und eine geradezu delikate Ausdrucksfähigkeit - all das haben Maria Carlsson und Helmut Frielinghaus ins Deutsche nicht nur gerettet, sondern gestaltet, erfunden. Das eigentlich ermöglicht den Genuß, die Bücher aufeinander bezogen zu lesen, nicht nur die Variation von Updike-Themen, sondern auch deren Spiegelung zu erleben: So kontrastiert dem problematischen, zuzeiten ihm selbst lästigen jüdischen Selbstbewußtsein Henry Bechs ein antisemitischer Ausbruch von Ben Turnbull - ein gespenstischer, ihn selbst erschreckender Wurmfortsatz eines vergangenen Jahrhunderts, der auch den Dritten Weltkrieg überlebt hat.
Durch Turnbull wie Bech kommt der grübelnde Updike zu Wort. In historischen Reminiszenzen, die den utopischen Roman durchziehen, ohne ihn je zu beschweren, erinnert der Autor an das nachpharaonische Ägypten, die Anfänge der Christenheit, das Verröcheln des Römischen Reiches: Epochen von Auflösung und Anomie, in denen die Stärksten und die Findigsten, die Skrupellosen und die besessen Gläubigen die Ruinen einer Welt besetzen, die sich durch Größenwahn, Fixierung und Routine selbst zugrunde richtete. Ben Turnbull ist von der Idee der parallelen Universen fasziniert, und Updike scheint ihm darin zu folgen - alle seine Helden haben aufs unverächtlichste privat philosophiert, sich das Recht auf Gedanken nehmend wie Stephen Daedalus und Leopold Bloom.
Was muß passieren, fragt sich Ben, damit die Welt bleibt, wie sie ist, durch welche Handlung, welches Wort wird der Lauf der Dinge geändert, und wie sind die ideelle und die materielle Welt, wie Natur und Geschichte verbunden? Als ein Vorbote der neuen Ordnung erscheint zum Ende von Updikes Ehegeschichte die Botin von "FedEx" auf dem Villenvorplatz mit sauberer Randbepflanzung: bewaffnet und Mitglied einer wachsenden Organisation, berechnet nun die Postbotin das Schutzgeld für die bürgerlichen Vororte. Wie im alten Europa - von dem übrigens nicht einmal mehr die Rede ist - beginnt die neue Zivilisation mit Thurn & Taxis & Co., aus der Einheit von Kommunikation und Gewalt. Und wie nicht anders zu erwarten, wuchert in den Leerstellen der Gesellschaft die Natur, nimmt sich flink archaische Rechte zurück, wie das Reh, oder gebiert neue Formen des Lebens, parasitär und gefräßig, immun gegen die alten Tötungsmittel, latent bedrohlich und doch auch unendlich interessant für einen passionierten "National Geographic"-Leser wie Ben. Der sitzt gewindelt auf dem Sofa und spielt mit seinen jüngsten Enkeln, die, wie er, den Sphinkter nicht kontrollieren können und also nicht dazugehören, noch mehr Natur als Mensch sind. Sie werfen mit Flocken und Förmchen um sich, entdecken den Raum - so wie der alte Mann, den Tod zwischen den Beinen und im Kopf, sich nun endgültig an die Zeit gewöhnen muß.
Hin und wieder schafft er es noch raus. Er bewundert "das schneidende Gelb der Forsythien", die "kühle, fluoreszierend weiße Pracht der Birnbäume", den "chartreusefarbenen Schaum" der Eschenahorne, diese ihm neue Welt aus Schönheit, Logik, Zufall und Sex. "Wie merkwürdig es sein muß, eine Herbstblume zu sein, zu warten, während all die anderen - Schneeglöckchen und Krokus, Wiesenmargerite und Weiderich, Wilde Möhre und Goldrute - den emsigen Bestäubern schöne Augen machen, und erst wenn die Tage kürzer und die Insektenvölker träge werden und an ihr Ende kommen und nur noch ein paar im Zickzackflug das Gelände erkundende Libellen da sind und ziellos auf und nieder wehende Kohlweißlinge, die eigenen scheuen, jungfräulichen, sterngleichen Reize zu entfalten." Berückend genau bringt Updike gerade bei der Naturbetrachtung seines Helden das Halb- und Vorbewußte ins Ausdrückliche, ohne Einbußen an Subtilität: der individuelle rote Faden, der ständig durchs Gehirn läuft und der so schwer zu fassen ist; das Vage, zugleich Einzigartige, das jede Sekunde menschlichen Lebens prägt; die Flüssigkeit, in der unser Bewußtsein schwimmt. Eine Andacht erobert Bens Herz, vergleichbar seinem Erstaunen über "das wundersame Maschenwerk der Jockey-Unterhose", die sich auf dem Toilettensitz, wo er nun soviel Zeit verbringt, über die Knie spannt. "Die Körper sind morbider geworden", sagt Gottfried Benn in seinem Essay "Altern als Problem für Künstler", "aber sie leben länger."
John Updike: "Bech in Bedrängnis". Fast ein Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helmut Frielinghaus. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2000. 284 S., br., 26,- DM.
John Updike: "Gegen Ende der Zeit". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000. 399 S., geb., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main