Die Frage nach der Modernität Goethes stellt sich für Friedrich Dieckmann nicht - wer Goethe als "Dichterfürsten" vermeintlich rühmt, hat ihn genauso wenig verstanden wie einer, der ihn, in der Nachfolge Ludwig Börnes, als "Fürstenknecht" schmäht. Auch der Klassiker Goethe ist ein Klischee; es sind die Häutungen, die Verwandlungen dieses Autors, die, über die Einschnitte seiner und unserer Zeit hinweg, Gestalt und Werk lebendig machen - man muß nur zu lesen wissen.Hierbei zu helfen ist das Anliegen der zehn Essays, die Dieckmann zum Werk Goethes vorlegt. Der zeitliche Rahmen dieser Essays wird abgesteckt durch den Urfaust, das bestürzend kühne Jugendwerk, das seine Überlieferung der Sorgfalt eines Hoffräuleins verdankt, und den zweiten Teil der Fausttragödie, das große Alterswerk, das Goethe erst nach seinem Tod der Öffentlichkeit übergeben wissen wollte. Dazwischen geht es unter anderem darum, wie schwer sich der Napoleon-Bewunderer Goethe tat, den einschneidenden politischen Wandlungen von 1813/14 standzuhalten, und wie er sie, wenig glücklich, dramatisch verarbeitete, um sich danach in einen Orient der Poesie, den West-östlichen Divan, zu retten. Und in erfrischend unkonventionellen Gedichtinterpretationen zeigt sich die "geglückte Balance" zwischen Liebe und Beruf, Politik und Poesie, die Goethes Lebenshaltung prägt; sie kann heute wie damals ein Anhalt sein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.05.2008Goethes Sudelsack
Goethes Devise, "die Welt ihren Gang gehen zu lassen und sich nicht in die Zwiste der Könige zu mischen", bedeutet keine politische Gleichgültigkeit. Es spricht eher für die Klugheit eines Diplomaten, der als Schriftsteller gleichwohl nicht hinterm Berg hält. Erkennbar wird das in den seit 1984 verfassten Goethe-Essays des Publizisten Friedrich Dieckmann. Aufsätze zum frühen und späten "Faust" bilden den Rahmen: Der Professor zu Beginn der Tragödie, der aus Frustration über die gespreizten Torheiten der Wissenschaft in den teuflischen Liebespakt einwilligt, setzt sich am Schluss als Praktiker der Landgewinnung gegen den Nihilisten Mephisto durch. Fausts Überwindung des Daseinsüberdrusses im Bekenntnis zu Natur und Leben, also zur Forderung des Tages und zur Balance zwischen Tätigkeit und Tändelei, erklärt Dieckmann zur Leitlinie Goethes. Sie zeigt sich in "Alexis und Dora", der Erfüllung im Moment des gebotenen Abschieds, ebenso wie in Gedichten des "Divan" oder in Funden aus Goethes "Sudelsack". Sichtbar wird sie aber auch im geschickten Lavieren des Napoleon-Bewunderers in den Krisenjahren 1806 bis 1814. Es bringt Goethe gleichermaßen Orden Frankreichs, Russlands und Österreichs ein. (Friedrich Dieckmann: "Geglückte Balance. Auf Goethe blickend". Insel Verlag, Frankfurt am Main 2008. 190 S., br., 14,80 [Euro].) kos
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Goethes Devise, "die Welt ihren Gang gehen zu lassen und sich nicht in die Zwiste der Könige zu mischen", bedeutet keine politische Gleichgültigkeit. Es spricht eher für die Klugheit eines Diplomaten, der als Schriftsteller gleichwohl nicht hinterm Berg hält. Erkennbar wird das in den seit 1984 verfassten Goethe-Essays des Publizisten Friedrich Dieckmann. Aufsätze zum frühen und späten "Faust" bilden den Rahmen: Der Professor zu Beginn der Tragödie, der aus Frustration über die gespreizten Torheiten der Wissenschaft in den teuflischen Liebespakt einwilligt, setzt sich am Schluss als Praktiker der Landgewinnung gegen den Nihilisten Mephisto durch. Fausts Überwindung des Daseinsüberdrusses im Bekenntnis zu Natur und Leben, also zur Forderung des Tages und zur Balance zwischen Tätigkeit und Tändelei, erklärt Dieckmann zur Leitlinie Goethes. Sie zeigt sich in "Alexis und Dora", der Erfüllung im Moment des gebotenen Abschieds, ebenso wie in Gedichten des "Divan" oder in Funden aus Goethes "Sudelsack". Sichtbar wird sie aber auch im geschickten Lavieren des Napoleon-Bewunderers in den Krisenjahren 1806 bis 1814. Es bringt Goethe gleichermaßen Orden Frankreichs, Russlands und Österreichs ein. (Friedrich Dieckmann: "Geglückte Balance. Auf Goethe blickend". Insel Verlag, Frankfurt am Main 2008. 190 S., br., 14,80 [Euro].) kos
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Höchstes Lob spendet Gustav Seibt dem Band mit Goethe-Interpretationen von Friedrich Dieckmann und sieht darin stupendes Wissen mit sensibler "Lesekunst" vereint. Die "geglückte Balance" des Titels sieht er auch bei Dieckmanns Lesarten der Goethetexte am Werk, denn dem Autor gelingt es, gleichermaßen den sinnlichen Qualitäten der Texte gerecht zu werden, als auch den zeitgeschichtlichen und biografischen Kontext klug zu erhellen, wie der Rezensent preist. Besonders anregend findet Seibt, dass der Autor nicht etwa, wie es gerade modern ist, Goethe als pessimistischen und obrigkeitshörigen Vertreter der Oberschicht zeichnet, sondern ihn als leidenschaftlichen Humanisten mit "sozialen Neuland-Visionen" konturiert, und hier durchaus frische politische Deutungen des Goethe'schen Werks aufbietet. Von der "historischen Farbenblindheit", mit der nach Seibt die Germanistik gewöhnlich geschlagen ist, ist in diesem Band nichts zu merken und so bejubelt der hingerissene Rezensent diesen Band als "unbedingt zwingende" Lektüre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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