Drei Generationen von Frauen in unserem Jahrhundert ziehen vor dem inneren Auge des Lesers vorbei, während er das Vermächtnis von Olga an die aus der Enge der Familienzwänge nach Amerika geflohene Enkelin liest: ein Brief-Tagebuch, das schöne und schmerzliche Erinnerungen enthält, Weisheit des Alters, vor allem aber das im Angesicht des Todes ausgesprochene Geständnis der tiefen Liebe zur Enkelin.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.1995Sei die Wiese, sei der Wald
Was nach der Utopie kommt: Susanna Tamaro wischt Staub
Dies ist ein schlechtes Buch. Dabei ist es nicht einmal scharlatanesk, denn es trägt seine Armut im Geiste auf jeder Seite offen zur Schau. "So viele Dinge drängen sich in meinem Kopf", schreibt die Ich-Autorin, "um herauszukommen, schubsen sie einander beiseite wie die Damen beim Schlußverkauf." Der Vergleich ist von geradezu homerischer Sagkraft: Wenn Homer seine achäischen Reiterscharen mit Fliegenschwärmen auf einem Butterfaß vergleicht, dann weiß man gleich, daß seine Zuhörer eben keine Ritter, sondern Bauern waren.
So verraten auch Susanna Tamaros Gleichnisse, um wessen Sorgen und Nöte es ihr geht: "Ich habe den Eindruck, das Gedächtnis funktioniert wie eine Tiefkühltruhe. Weißt du, wie es ist, wenn man ein Gericht herausholt, das lange dort drinnen gelegen hat? Am Anfang ist es hart wie ein Backstein, hat keinen Geruch, keinen Geschmack, ist mit einer weißen Patina überzogen; kaum stellst du es aber aufs Feuer, nimmt es nach und nach seine Form, seine Farbe wieder an und erfüllt die Küche mit seinem Aroma. Genauso schlummern die traurigen Erinnerungen . . .": um dann sehr bitter aus dem Vergessen aufzutauchen.
Ja, so ist das. Susanna Tamaro schreibt für sehr müde, abgespannte und trostbedürftige Leser, gestreßte Hausfrauen, die nach dem Chaos und den Enttäuschungen des Alltags ein wenig Besinnung suchen und über das Leben insgesamt nachdenken wollen, ohne sich dabei von ihren alltäglichen Eindrücken allzuweit entfernen zu müssen. Der große Erfolg des Buches in seinem Heimatland Italien, wo es in wenigen Monaten eine Millionenauflage erzielte, hat nichts Rätselhaftes. Es ist eine Trostfibel in einem jedermann verständlichen Ton, dem sermo humilis des Konsumzeitalters, wo es im Kopf zugeht wie beim Schlußverkauf und Erinnerungen wie Gefrierbeutel sind. Man muß hier kein "Phänomen" erklären und dafür im Kaffeesatz der Gesellschaft lesen. Daß Italien die Heimstätte dieses Erbauungsbüchleins ist, zeigt abermals, daß das schöne Land derzeit am Rande des Nervenzusammenbruchs lebt.
Trotzdem hat der Erfolg von Tamaros Opusculum etwas gelinde Beunruhigendes. Es erzählt nämlich, neben allen Feld-, Wald- und Wiesenweisheiten, noch eine Geschichte. Und es deutet diese Geschichte. Erzählung und Deutung ergeben ein verqueres, dabei zeittypisches Weltbild.
Das ist die Geschichte: Die Großmutter Olga schreibt Briefe an ihre nach Amerika ausgebüxte Enkelin, die sie aber nicht absendet. Olgas Tochter Ilaria kam bei einem Autounfall um, so daß die Enkelin, Ilarias uneheliches Kind (der Vater ist unbekannt), von Olga erzogen wurde. Olga erzählt ihrer abwesenden Enkelin nicht nur von diesem Unfall, sondern enthüllt auch, daß ihre Tochter Ilaria nicht vom Großvater stammt, sondern Frucht eines Ehebruchs mit einem Kurarzt ist. Die Briefe hinterläßt sie in ihrem Haus, in das die Enkelin später einmal, wenn Olga tot ist, zurückkehren wird.
Das ist die Deutung der Geschichte: Zwischen der außerehelichen, geheimen Herkunft Ilarias, ihrem flatterhaften Liebesleben und ihrem Unfalltod sowie dem Ausreißen der Enkelin bestehen schicksalhafte Zusammenhänge. Olga hat Ilaria ihren wahren Ursprung erst wenige Stunden vor ihrem tödlichen Unfall aufgedeckt. Ilarias Elternhaß und Liebesunfähigkeit stammen aus Olgas Lebenslüge (die selber natürlich Folge einer harten bürgerlichen und katholischen Erziehung ist). Auch die Psychoanalyse schafft es nicht, Ilaria zu erlösen; sie wird nur ihrem Analytiker hörig. Erst jetzt folgt Olga ihrem Herzen, indem sie ihre testamentarischen Briefe schreibt; so folgte schon die Enkelin ihrem Herzen, als sie floh, und ebenso herzgesteuert wird sie zurückkehren, ihre Oma begraben und den Hund herzen, mit dem sie aufwuchs.
Susanna Tamaros Briefroman entwirft ein Bündnis der Großelterngeneration mit der Enkelgeneration gegen die Elterngeneration. Frauen sichern den Zusammenhang über die Lebensalter, die Männer sind austauschbar, tyrannisch oder anonym und dienen nur der Fortpflanzung. Die rationale Aufklärung des Schuldzusammenhangs mißlingt, die Politik ist nicht mehr das Schicksal: Olga schreibt nicht nur gegen Feminismus und Psychoanalyse, sondern registriert auf ihrem Fernsehsessel auch noch den Zusammenbruch der kommunistischen Utopie. Sie glaubt an die Sterne, an östliche Weisheitslehren wie Seelenwanderung und Reinkarnation. Die Todesfälle werden von schaurigen Omen begleitet wie dem Zusammenbrechen eines Schrankes. Nach dem Ende des Unglaubens überlebt der Aberglaube. Wahr ist, was man sehen kann: "Wenn etwas weiß ist, sage ich, daß es weiß ist, wenn es schwarz ist, sage ich, daß es schwarz ist. Die Lösung der Probleme ergibt sich aus der täglichen Erfahrung, daraus, daß man die Dinge so sieht, wie sie wirklich sind."
Wirklich aber ist bei Tamaro zum Beispiel auch, daß ein soeben Verstorbener anruft und sich telefonisch verabschiedet. Ansonsten herrscht eine weiche Naturfrömmigkeit, die den dunkel-weiblichen Schicksalszusammenhang des Familienunheils überhöht: "Wenn Sie unter der Eiche sitzen, seien Sie nicht Sie selbst, sondern die Eiche, seien Sie im Wald der Wald, auf der Wiese die Wiese, unter den Menschen mit den Menschen."
Gäbe es Aktien für diesen Bestseller, man müßte sie gewiß auch für die vorliegende Übersetzung zum Kauf empfehlen. Die Zielgruppe ist riesig: alle, denen es in der modernen Welt zu laut, zu schnell, zu kompliziert zugeht und die für ihre Nerven ein bißchen Stille, ein bißchen Frieden brauchen und eine sauber gewischte Wohnung: "Die Stille ist wie der feuchte Lappen, sie wischt die Stumpfheit des Staubs für immer fort." Dieser widerstandslos geschriebene Quatsch paßt auch ins deutsche Wohnzimmer. GUSTAV SEIBT
Susanna Tamaro: "Geh, wohin dein Herz dich trägt". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug. Diogenes Verlag, Zürich 1995. 190 S., geb., 32,- DM.
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Was nach der Utopie kommt: Susanna Tamaro wischt Staub
Dies ist ein schlechtes Buch. Dabei ist es nicht einmal scharlatanesk, denn es trägt seine Armut im Geiste auf jeder Seite offen zur Schau. "So viele Dinge drängen sich in meinem Kopf", schreibt die Ich-Autorin, "um herauszukommen, schubsen sie einander beiseite wie die Damen beim Schlußverkauf." Der Vergleich ist von geradezu homerischer Sagkraft: Wenn Homer seine achäischen Reiterscharen mit Fliegenschwärmen auf einem Butterfaß vergleicht, dann weiß man gleich, daß seine Zuhörer eben keine Ritter, sondern Bauern waren.
So verraten auch Susanna Tamaros Gleichnisse, um wessen Sorgen und Nöte es ihr geht: "Ich habe den Eindruck, das Gedächtnis funktioniert wie eine Tiefkühltruhe. Weißt du, wie es ist, wenn man ein Gericht herausholt, das lange dort drinnen gelegen hat? Am Anfang ist es hart wie ein Backstein, hat keinen Geruch, keinen Geschmack, ist mit einer weißen Patina überzogen; kaum stellst du es aber aufs Feuer, nimmt es nach und nach seine Form, seine Farbe wieder an und erfüllt die Küche mit seinem Aroma. Genauso schlummern die traurigen Erinnerungen . . .": um dann sehr bitter aus dem Vergessen aufzutauchen.
Ja, so ist das. Susanna Tamaro schreibt für sehr müde, abgespannte und trostbedürftige Leser, gestreßte Hausfrauen, die nach dem Chaos und den Enttäuschungen des Alltags ein wenig Besinnung suchen und über das Leben insgesamt nachdenken wollen, ohne sich dabei von ihren alltäglichen Eindrücken allzuweit entfernen zu müssen. Der große Erfolg des Buches in seinem Heimatland Italien, wo es in wenigen Monaten eine Millionenauflage erzielte, hat nichts Rätselhaftes. Es ist eine Trostfibel in einem jedermann verständlichen Ton, dem sermo humilis des Konsumzeitalters, wo es im Kopf zugeht wie beim Schlußverkauf und Erinnerungen wie Gefrierbeutel sind. Man muß hier kein "Phänomen" erklären und dafür im Kaffeesatz der Gesellschaft lesen. Daß Italien die Heimstätte dieses Erbauungsbüchleins ist, zeigt abermals, daß das schöne Land derzeit am Rande des Nervenzusammenbruchs lebt.
Trotzdem hat der Erfolg von Tamaros Opusculum etwas gelinde Beunruhigendes. Es erzählt nämlich, neben allen Feld-, Wald- und Wiesenweisheiten, noch eine Geschichte. Und es deutet diese Geschichte. Erzählung und Deutung ergeben ein verqueres, dabei zeittypisches Weltbild.
Das ist die Geschichte: Die Großmutter Olga schreibt Briefe an ihre nach Amerika ausgebüxte Enkelin, die sie aber nicht absendet. Olgas Tochter Ilaria kam bei einem Autounfall um, so daß die Enkelin, Ilarias uneheliches Kind (der Vater ist unbekannt), von Olga erzogen wurde. Olga erzählt ihrer abwesenden Enkelin nicht nur von diesem Unfall, sondern enthüllt auch, daß ihre Tochter Ilaria nicht vom Großvater stammt, sondern Frucht eines Ehebruchs mit einem Kurarzt ist. Die Briefe hinterläßt sie in ihrem Haus, in das die Enkelin später einmal, wenn Olga tot ist, zurückkehren wird.
Das ist die Deutung der Geschichte: Zwischen der außerehelichen, geheimen Herkunft Ilarias, ihrem flatterhaften Liebesleben und ihrem Unfalltod sowie dem Ausreißen der Enkelin bestehen schicksalhafte Zusammenhänge. Olga hat Ilaria ihren wahren Ursprung erst wenige Stunden vor ihrem tödlichen Unfall aufgedeckt. Ilarias Elternhaß und Liebesunfähigkeit stammen aus Olgas Lebenslüge (die selber natürlich Folge einer harten bürgerlichen und katholischen Erziehung ist). Auch die Psychoanalyse schafft es nicht, Ilaria zu erlösen; sie wird nur ihrem Analytiker hörig. Erst jetzt folgt Olga ihrem Herzen, indem sie ihre testamentarischen Briefe schreibt; so folgte schon die Enkelin ihrem Herzen, als sie floh, und ebenso herzgesteuert wird sie zurückkehren, ihre Oma begraben und den Hund herzen, mit dem sie aufwuchs.
Susanna Tamaros Briefroman entwirft ein Bündnis der Großelterngeneration mit der Enkelgeneration gegen die Elterngeneration. Frauen sichern den Zusammenhang über die Lebensalter, die Männer sind austauschbar, tyrannisch oder anonym und dienen nur der Fortpflanzung. Die rationale Aufklärung des Schuldzusammenhangs mißlingt, die Politik ist nicht mehr das Schicksal: Olga schreibt nicht nur gegen Feminismus und Psychoanalyse, sondern registriert auf ihrem Fernsehsessel auch noch den Zusammenbruch der kommunistischen Utopie. Sie glaubt an die Sterne, an östliche Weisheitslehren wie Seelenwanderung und Reinkarnation. Die Todesfälle werden von schaurigen Omen begleitet wie dem Zusammenbrechen eines Schrankes. Nach dem Ende des Unglaubens überlebt der Aberglaube. Wahr ist, was man sehen kann: "Wenn etwas weiß ist, sage ich, daß es weiß ist, wenn es schwarz ist, sage ich, daß es schwarz ist. Die Lösung der Probleme ergibt sich aus der täglichen Erfahrung, daraus, daß man die Dinge so sieht, wie sie wirklich sind."
Wirklich aber ist bei Tamaro zum Beispiel auch, daß ein soeben Verstorbener anruft und sich telefonisch verabschiedet. Ansonsten herrscht eine weiche Naturfrömmigkeit, die den dunkel-weiblichen Schicksalszusammenhang des Familienunheils überhöht: "Wenn Sie unter der Eiche sitzen, seien Sie nicht Sie selbst, sondern die Eiche, seien Sie im Wald der Wald, auf der Wiese die Wiese, unter den Menschen mit den Menschen."
Gäbe es Aktien für diesen Bestseller, man müßte sie gewiß auch für die vorliegende Übersetzung zum Kauf empfehlen. Die Zielgruppe ist riesig: alle, denen es in der modernen Welt zu laut, zu schnell, zu kompliziert zugeht und die für ihre Nerven ein bißchen Stille, ein bißchen Frieden brauchen und eine sauber gewischte Wohnung: "Die Stille ist wie der feuchte Lappen, sie wischt die Stumpfheit des Staubs für immer fort." Dieser widerstandslos geschriebene Quatsch paßt auch ins deutsche Wohnzimmer. GUSTAV SEIBT
Susanna Tamaro: "Geh, wohin dein Herz dich trägt". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug. Diogenes Verlag, Zürich 1995. 190 S., geb., 32,- DM.
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