Wo bist du glücklich gewesen? Warum hast du beim Fußball geweint? Wessen Bücher würdest du auswendig lernen? Fragen eines deutschen Journalisten an einen ukrainischen Schriftsteller, der ein Jahr in Berlin verbringt. Sieben Tage lang sprechen Egon Alt und Juri Andruchowytsch über Habsburg im Sowjetlook, über Bahnhöfe, Grenzpfähle und vergessene Träume, über verbotene Musik, Rekruten in der Roten Armee und die legendären Happenings der Performance-Gruppe BuBaBu. Sieben Kapitel "über mich und die Zeit, in der ich lebe", wie der 48jährige Juri Andruchowytsch im Vorwort zu seinem neuen Buch schreibt. Von der Katastrophe im Jahr 1969, als Dynamo Kiew gegen Spartak Moskau verlor, bis zu dem Moment, als Breschnews Sarg mit voller Wucht ins Grab knallte, vor Millionen Fernsehzuschauern in der ganzen Sowjetunion, deren Zusammenbruch sich hiermit ankündigte. Vom Putsch in Moskau bis zur orangen Revolution und der Katerstimmung danach: Der exzessive Dialog, der ihn mit seinem Leben und Schreiben konfrontiert, ist ein spannendes Stück Zeitgeschichte. Selten greifen Privates und Politisches so eng ineinander wie in diesem ironischen Porträt eines Autors, der sich selbst nicht über den Weg traut.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.10.2008Egon Alt lebt nicht mehr
Schlaflos in Europa: Juri Andruchowytschs Memoiren
Vor einigen Jahren ließ sich Juri Andruchowytsch in Berlin von einem Reporter namens Egon Alt interviewen. Lange hatte sich der ukrainische Schriftsteller gegen ein Treffen gesträubt, weil er noch davon träumte, einen neuen Roman zu schreiben. Die beiden freundeten sich aber sogar an, auch "weil nach dem dritten Brandy" klar war, "dass unsere Lieblingsgetränke in benachbarte Kästchen des alkoholischen Periodensystems gehören, wenn es ein solches gäbe".
Leider starb Egon Alt kurz nach Übersendung der Interview-Mitschnitte auf der A 93. "Sekundenschlaf", bemerkt Andruchowytsch lakonisch im Vorwort zu seinem neuen Buch, das im Ukrainischen den Untertitel "Anstelle eines Romans" trägt und das angebliche Interview enthält. Denn Egon Alt ist natürlich nichts anderes als ein Alter Ego des Meisters des Verwirrspiels, der in diesem Buch einmal sagt: "Es ist wirklich passiert, denn ich habe es mir ausgedacht." Juri Andruchowytsch, geboren 1960 im westukrainischen Iwano-Frankiwsk, ist vor allem für seine Erkundungen und Erfindungen zur Geschichte und Geographie Mittelosteuropas bekannt. In arabeskenreichen Essays und Romanen überschüttete er seine Leser mit Wissen und Phantasmen über eines der größten und zugleich unbekanntesten Länder Europas: die Ukraine.
In "Geheimnis" legt der Autor nun eine ironische Maskerade an, ohne auf den bewährten Stoff zu verzichten. Die Figur "Egon Alt" stellt kritische oder einfühlsame Fragen zu Leben und Werk, die "Juri Andruchowytsch" je nachdem ungeduldig oder ausschweifend beantwortet - wenn er nicht die Textkenntnis seines Gegenübers lobt. Wieder erweist sich der Schriftsteller als Romantiker, als "Gogolianer". Die Herausgeberfiktion lässt eine persönliche Erzählstimmung entstehen - die richtige Temperatur für diese schillernden Memoiren.
Geheim war vor allem das innere Leben des jungen Andruchowytsch, der früh ein heimliches Notizbuch führte und zu Zeiten der sowjetischen Gerontokratie nicht hoffen durfte, veröffentlicht zu werden. Aus dem Versuch, literarische Alternativen für die Ukraine zu entwickeln, entstand fast so etwas wie ein geheimes Paralleluniversum. Schon während des Studiums in Lemberg begann er, sich aus den Sedimenten der ehemals zur Donaumonarchie gehörenden galizischen Stadt "ein anderes, schöneres Lemberg" herbeizuträumen. Natürlich war die Idee einer an Europa orientierten Ukraine auch eine Kampfansage an den Terror der sowjetischen Zentralperspektive. Nach dem Studium arbeitete Andruchowytsch in einer Druckerei in Iwano-Frankiwsk, bevor er 1983 eingezogen wurde. Die Passagen über die Sowjetarmee, die den Rekruten in die innere Emigration zwang, sind besonders eindrücklich. Schwachsinnige Arbeiten, systematischer Schlafentzug, kollektives Prügeln - die "Evolution vom Tierchen zum Vieh" - waren nur durch engen Kontakt zur Familie und zu Freunden wie Mykola Rjabtschuk, dem Spiritus Rector der ukrainischen Literatur, zu überleben.
Zurück in der Druckerei, bedeutete die Perestrojka für Andruchowytsch endloses nächtliches Warten auf die Druckfreigaben für die Reden Gorbatschows; parallel formierte sich die Dichter-Dreieinigkeit BuBaBu - Burleske, Balagan (Jahrmarktsbude), Buffonade - und rollte mit ihrem "lyrischen Karneval" die ukrainische Provinz von hinten auf. Politischer Protest und avantgardistische Poesie griffen ineinander, mit dem Ergebnis, dass die Ukraine unabhängig wurde und Andruchowytsch heute als ihr wichtigster intellektueller Botschafter gilt.
Die neunziger Jahre brachten nicht nur die Abkehr von der Lyrik und die Hinwendung zum Roman; sie waren vor allem ein Jahrzehnt der Reisen. In Zügen und Bussen pendelte Andruchowytsch zwischen Ost und West. Die endlosen holprigen Fahrten sind leitmotivisch verarbeitet. Das funzelige Licht, der Alkohol, die Gerüche und Begegnungen auf engstem Raum schütteln auch den Leser durch. Zum Schluss des Buches fahren Andruchowytsch und Egon Alt mit der S-Bahn durch Berlin, ein Sinnbild für den nach wie vor geteilten Kontinent. Hier definiert der Autor den Begriff "Europa", dessen Dehnfähigkeit er schon in anderen Büchern erprobte, ganz losgelöst vom Raum: "Meiner Ansicht nach ist Europa überall dort, wo Menschen glauben, dass sie in Europa sind."
Im allerletzten Abschnitt sitzt der kleine Juri wieder mit seinem geliebten Vater im Zug nach Prag. Es ist das Jahr 1968, in dem der Achtjährige erstmals die frühlingshafte Verführungskraft von "Europa" und "Westen" entdeckte. Es scheint, als wäre er noch immer unterwegs in eine Stadt der Hoffnung, auf der Suche nach Alternativen zu dem, was real existiert.
JUDITH LEISTER
Juri Andruchowytsch: "Geheimnis". Sieben Tage mit Egon Alt. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 387 S., geb., 24,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schlaflos in Europa: Juri Andruchowytschs Memoiren
Vor einigen Jahren ließ sich Juri Andruchowytsch in Berlin von einem Reporter namens Egon Alt interviewen. Lange hatte sich der ukrainische Schriftsteller gegen ein Treffen gesträubt, weil er noch davon träumte, einen neuen Roman zu schreiben. Die beiden freundeten sich aber sogar an, auch "weil nach dem dritten Brandy" klar war, "dass unsere Lieblingsgetränke in benachbarte Kästchen des alkoholischen Periodensystems gehören, wenn es ein solches gäbe".
Leider starb Egon Alt kurz nach Übersendung der Interview-Mitschnitte auf der A 93. "Sekundenschlaf", bemerkt Andruchowytsch lakonisch im Vorwort zu seinem neuen Buch, das im Ukrainischen den Untertitel "Anstelle eines Romans" trägt und das angebliche Interview enthält. Denn Egon Alt ist natürlich nichts anderes als ein Alter Ego des Meisters des Verwirrspiels, der in diesem Buch einmal sagt: "Es ist wirklich passiert, denn ich habe es mir ausgedacht." Juri Andruchowytsch, geboren 1960 im westukrainischen Iwano-Frankiwsk, ist vor allem für seine Erkundungen und Erfindungen zur Geschichte und Geographie Mittelosteuropas bekannt. In arabeskenreichen Essays und Romanen überschüttete er seine Leser mit Wissen und Phantasmen über eines der größten und zugleich unbekanntesten Länder Europas: die Ukraine.
In "Geheimnis" legt der Autor nun eine ironische Maskerade an, ohne auf den bewährten Stoff zu verzichten. Die Figur "Egon Alt" stellt kritische oder einfühlsame Fragen zu Leben und Werk, die "Juri Andruchowytsch" je nachdem ungeduldig oder ausschweifend beantwortet - wenn er nicht die Textkenntnis seines Gegenübers lobt. Wieder erweist sich der Schriftsteller als Romantiker, als "Gogolianer". Die Herausgeberfiktion lässt eine persönliche Erzählstimmung entstehen - die richtige Temperatur für diese schillernden Memoiren.
Geheim war vor allem das innere Leben des jungen Andruchowytsch, der früh ein heimliches Notizbuch führte und zu Zeiten der sowjetischen Gerontokratie nicht hoffen durfte, veröffentlicht zu werden. Aus dem Versuch, literarische Alternativen für die Ukraine zu entwickeln, entstand fast so etwas wie ein geheimes Paralleluniversum. Schon während des Studiums in Lemberg begann er, sich aus den Sedimenten der ehemals zur Donaumonarchie gehörenden galizischen Stadt "ein anderes, schöneres Lemberg" herbeizuträumen. Natürlich war die Idee einer an Europa orientierten Ukraine auch eine Kampfansage an den Terror der sowjetischen Zentralperspektive. Nach dem Studium arbeitete Andruchowytsch in einer Druckerei in Iwano-Frankiwsk, bevor er 1983 eingezogen wurde. Die Passagen über die Sowjetarmee, die den Rekruten in die innere Emigration zwang, sind besonders eindrücklich. Schwachsinnige Arbeiten, systematischer Schlafentzug, kollektives Prügeln - die "Evolution vom Tierchen zum Vieh" - waren nur durch engen Kontakt zur Familie und zu Freunden wie Mykola Rjabtschuk, dem Spiritus Rector der ukrainischen Literatur, zu überleben.
Zurück in der Druckerei, bedeutete die Perestrojka für Andruchowytsch endloses nächtliches Warten auf die Druckfreigaben für die Reden Gorbatschows; parallel formierte sich die Dichter-Dreieinigkeit BuBaBu - Burleske, Balagan (Jahrmarktsbude), Buffonade - und rollte mit ihrem "lyrischen Karneval" die ukrainische Provinz von hinten auf. Politischer Protest und avantgardistische Poesie griffen ineinander, mit dem Ergebnis, dass die Ukraine unabhängig wurde und Andruchowytsch heute als ihr wichtigster intellektueller Botschafter gilt.
Die neunziger Jahre brachten nicht nur die Abkehr von der Lyrik und die Hinwendung zum Roman; sie waren vor allem ein Jahrzehnt der Reisen. In Zügen und Bussen pendelte Andruchowytsch zwischen Ost und West. Die endlosen holprigen Fahrten sind leitmotivisch verarbeitet. Das funzelige Licht, der Alkohol, die Gerüche und Begegnungen auf engstem Raum schütteln auch den Leser durch. Zum Schluss des Buches fahren Andruchowytsch und Egon Alt mit der S-Bahn durch Berlin, ein Sinnbild für den nach wie vor geteilten Kontinent. Hier definiert der Autor den Begriff "Europa", dessen Dehnfähigkeit er schon in anderen Büchern erprobte, ganz losgelöst vom Raum: "Meiner Ansicht nach ist Europa überall dort, wo Menschen glauben, dass sie in Europa sind."
Im allerletzten Abschnitt sitzt der kleine Juri wieder mit seinem geliebten Vater im Zug nach Prag. Es ist das Jahr 1968, in dem der Achtjährige erstmals die frühlingshafte Verführungskraft von "Europa" und "Westen" entdeckte. Es scheint, als wäre er noch immer unterwegs in eine Stadt der Hoffnung, auf der Suche nach Alternativen zu dem, was real existiert.
JUDITH LEISTER
Juri Andruchowytsch: "Geheimnis". Sieben Tage mit Egon Alt. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 387 S., geb., 24,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ilma Rakusa ist hin und weg von Juri Andruchowytschs Lebensgeschichte "Geheimnis?. Das "erzählerische Glanzstück? bringt dem Leser den Autor und einen bewegenden Abschnitt Zeitgeschichte unglaublich nah, schwärmt Rakusa. Der 1960 geborene Ukrainer rollt in einem Gespräch mit einem hartgesottenen Alter Ego, "Egon Alt?, die eigene Biografie auf. Der Rezensentin zufolge erlebt der Leser Andruchowytschs Kindheit im westukrainischen Iwano-Frankiwsk, seine Jugendexzesse in Lemberg, die Schrecken des Armeedienstes und die Arbeit im Literaturinstitut in Moskau. Besonders die Sequenzen zur russischen Besatzung hält die Rezensentin für bemerkenswert. Die Zeit des Aufbruchs vor dem Zerfall der Sowjetunion mache sich Andruchowytsch mit genauso viel "erzählerischem Impetus? zueigen wie die Phase bis zur Orangen Revolution. Das Politische sei in dieser Erzählung ausschlaggebend, meint Rakusa, und der Leser werde anhand politischer Eckpfeiler mit so viel Schwung durch die Jahrzehnte katapultiert, dass es einem die "Sprache verschlägt?. Rakusas hohem Lob zufolge ist dies ist eine mitreißende, emotionale, aber nie ins Kitschige abdriftende Schilderung, welche den Leser zum Teil schockiert, aber immer auch tröstet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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