Produktdetails
  • Fischer Taschenbücher Bd.13244
  • Verlag: FISCHER Taschenbuch
  • 1998
  • Deutsch
  • Gewicht: 252g
  • ISBN-13: 9783596132447
  • ISBN-10: 3596132444
  • Artikelnr.: 07290154
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.1995

Erziehung vor My Lai
Von der Leichtigkeit, das Töten zu lernen: Tim O'Briens Vietnam-Roman "Geheimnisse und Lügen" Von Paul Ingendaay

Daß der Vietnam-Krieg noch nicht der Geschichte angehört, zeigte sich im Frühjahr, als der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara eingestand, ihm sei schon 1967 - also lange vor den schweren Verlusten, die die amerikanische Öffentlichkeit gegen das militärische Abenteuer mobilisierten - klar gewesen, daß der Krieg in Südostasien ein Fehler sei. Die Empörung, die darauf bei den Veteranenverbänden einsetzte, ist begreiflich. Denn die Teilnehmer des Krieges durften sich fragen, welchen Sinn ihr Einsatz gehabt haben soll, wenn die Führung es längst besser wußte. Dazu kommen individuelle Grausamkeit und Schuld in einem Krieg, der rund sechzigtausend Amerikaner und mehrere Millionen Vietnamesen das Leben kostete.

Schon die Zahlen drücken aus, daß nicht jede private Geschichte, die hier zu erzählen wäre, das Tageslicht verträgt. Vor allem dann nicht, wenn man gelernt hat, Angriffe auf die ungeschützte Zivilbevölkerung, die Sanktionierung hemmungslosen Mordens durch sogenannte free fire zones und das systematische Niederbrennen strategisch belangloser Dörfer für unmoralisch zu halten. Das Massaker von My Lai im März 1968 steht im stillen Zentrum von Tim O'Briens zuverlässig übersetztem Roman "Geheimnisse und Lügen". Daß wir uns auf unsicherem Gebiet bewegen, sagt schon die Ortsbezeichnung: "Pinkville" nannten die amerikanischen Soldaten wegen seines eigentümlichen Lichts das Dorf, in dem sie an einem einzigen Morgen Hunderte von Frauen, Kindern und Alten niedermetzelten; bei den Vietnamesen dagegen hieß der Ort Thuan Yen. Der Name My Lai ist gewissermaßen eine Fiktion der Kartographie, die an der Wirklichkeit der Täter wie der Opfer vorbeigeht.

Als Tim O'Brien 1969 in Vietnam zum Einsatz kam, kursierte My Lai bereits als Gerücht, das die moralische Rechtfertigung des Krieges weiter unterhöhlte. Auch O'Brien tötete Menschen, ohne in ihnen den Feind zu erkennen. Seitdem schreibt er über wenig anderes. Selbstaussagen zufolge quält er sich mit seinen Büchern ziemlich lange herum. Und obwohl er in Amerika als bester Schriftsteller zum Vietnam-Krieg gilt, wurde lediglich eines seiner Bücher ins Deutsche übersetzt: der mittlerweile vergriffene Roman "Die Verfolgung" (Going after Cacciato).

"Geheimnisse und Lügen" erzählt eine erfundene, aber in einen dokumentarischen Zusammenhang eingebettete Geschichte von Schuld, Verschleierung und daraus folgendem Niedergang. John Wade ist einundvierzig Jahre alt und hat soeben eine schlimme Schlappe bei den Wahlen zum amerikanischen Senat erlitten. Bis kurz vor der Wahl führte er in den Umfragen und schien für seine Partei der kommende Mann. Als seine Vergangenheit durchleuchtet wird, stellt sich heraus, daß er an dem Massaker in My Lai beteiligt war und später seinen Namen aus den Unterlagen getilgt hat. Nach der Wahlniederlage, die nur noch Formsache ist, zieht sich Wade mit seiner Frau Kathy in eine Hütte an einem abgelegenen See inmitten der riesigen Wasser- und Waldlandschaft Minnesotas zurück. Kurz darauf verschwindet Kathy, und Wade gerät unter Mordverdacht. Nach zwei Wochen vergeblicher Suche verschwindet auch er. Zuletzt sieht man ihn auf einem Boot in den Weiten des Sees. Ob er sterben oder sich nach Kanada absetzen will, bleibt offen.

Der ambitionierten Bauform des Romans wird diese Zusammenfassung nicht ganz gerecht. Denn was hier an Fakten in sauberer Abfolge aufmarschiert, wächst im Buch gleichsam vor unseren Augen heran und verschafft dem Leser eine ähnliche Beunruhigung, wie sie die Figuren empfinden: Es ist die einschnürende, atemnehmende Gewißheit, daß die lange unterdrückte Wahrheit nicht mehr zu verbergen ist und alles, was auf die Lüge gebaut wurde, mit sich reißen wird. O'Brien hatte den klugen Einfall, die Zweideutigkeit der Vergangenheit wie einen Virus auf die Zukunft überspringen zu lassen. Er verteilt sein Material dabei auf vier Gruppen von Kapiteln: die eine erzählt, was tatsächlich geschieht, eine zweite ("Hypothese" überschrieben) malt aus, was geschehen sein könnte, eine dritte ("Das Wesen der Politik", "Das Wesen der Liebe", "Das Wesen der Dunkelheit") nimmt Tiefenbohrungen vor, und die vierte ("Beweise") versammelt fiktive wie dokumentarische Quellen, die sich zum einen mit John Wade und seiner Frau, zum anderen mit dem Ausrottungskrieg im allgemeinen und My Lai im besonderen befassen.

Das sieht nach erdrückender Materialfülle und Faktenhuberei aus, wird aber so geschickt angeordnet, daß kein Thriller die Geschichte spannender erzählen könnte. Andererseits erweist sich manches an der schicken Fassade des Romans bei näherer Prüfung als reine Dekoration, die nur Literaturseminare beschäftigen soll. Es wäre ein leichtes gewesen, die widersinnigen Fußnoten zu streichen, in denen nicht etwa ein Erzähler oder Arrangeur, sondern der Autor O'Brien kundtut, daß ihm die Geschichte, die er uns gerade erzählt, persönlich sehr nahegeht und daß er beim besten Willen nicht wisse, was sich sein John Wade bei alldem gedacht habe oder wohin seine Kathy verschwunden sei.

Gerade diese Art burschikoser Nichtzuständigkeit haben die Romanciers der Moderne nicht gemeint, als sie nicht nur die Figuren, sondern auch den Erzählvorgang auf unsicheres epistemologisches Fundament stellten. Man muß schon in der ästhetischen Form plausibel machen, was dunkel bleiben soll und warum. O'Brien dagegen tut so, als sei nicht er, sondern jemand anderer der souveräne Erfinder seiner Figuren. Ein unnötiger Lapsus, denn der Riß, die Verdrängung, die an Schizophrenie grenzt, wird im Roman schockierend deutlich gemacht. John Wade, ein Einzelgänger, der sich schon als Kind als Zauberer betätigt, weil er seinem Vater zu gefallen sucht, verliert als Kriegsteilnehmer endgültig das Verhältnis zur Wirklichkeit. Immer wieder beschreibt O'Brien das Fremdartige der Landschaft, in der Wades Einheit, die ihn "Zauberer" nennt, nach einem unsichtbaren Feind forscht und ein ums andere Mal nur auf arglose Dorfbewohner stößt. Wie im "Fremden" von Camus, einer nach wie vor beeindruckenden Darstellung der Xenophobie, muß die Sonne als Erklärung dafür herhalten, daß der Held den Kopf verliert und auf den Abzug drückt.

Der Ich-Verlust, den O'Briens Roman so überzeugend vorführt, spricht auch aus den Selbstaussagen jener, die am Massaker von My Lai beteiligt waren und die der Autor zu Wort kommen läßt: "Wenn man nach zwanzig Jahren auf das zurückblickt, was passiert ist", so heißt es dort, "was später ans Tageslicht kam, was man selbst getan hat, fragt man sich: Warum? Warum habe ich das getan? Das bin ich nicht. Irgend etwas muß mit mir passiert sein."

Wer sich selbst abhanden gekommen ist, muß ein anderer werden, wenn er weiterleben will. John Wade, ein Mitmacher, wie es viele gibt, verzaubert sich durch Lügen in einen anderen. Hat seine Frau ihn oder diesen anderen verlassen? Welcher von beiden ist es, den der Sheriff des Mordes verdächtigt? O'Briens Roman hat seine besten Szenen, wenn er die Auflösung der Ich-Konturen in Bilder faßt. Plötzlich kehrt die Weite der vietnamesischen Reisfelder in der Leere der abweisenden Seenlandschaft nahe der kanadischen Grenze wieder: Es ist ein furchteinflößender Raum, in dem der Mensch nichts über sich erfährt.

Tim O'Brien: "Geheimnisse und Lügen". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Regina Rawlinson. Luchterhand Literaturverlag, München 1995. 304 S., geb., 39,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr