Der große afrikanische Erzähler Nuruddin Farah erhielt 1998 für »Geheimnisse« den Neustadt International Prize for Literature, den, so die New York Times, »wichtigsten literarischen Preis nach dem Nobelpreis«. Mit dieser Auszeichnung wurde ein Roman geehrt, mit dem Farah, dessen Bücher bisher in siebzehn Sprachen erschienen sind, seinem Kontinent Afrika ein Denkmal gesetzt hat, spielt in Mogadischu, eine Woche vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges: Das Land ist voller Unruhe, in der Stadt wird überall gekämpft, da erhält Kalaman überraschend Besuch - von seiner Kindheitsliebe, die, aus Amerika zurückgekehrt, ein altes Versprechen einlösen will. Die Ankunft Sholoongas läßt Kalaman Vergangenes erinnern, in ihm steigen Mythen und Geheimnisse hoch, die er längst vergessen wähnte. Nach und nach erschließen sich ihm die Rätsel, die sich um seinen sagenhaften Großvater, seine starke Mutter und seinen Vater ranken, und Kalaman erkennt, daß er die Geschichte seiner Vorfahren durchleuchten muß, um - dank Sholoonga mit ihren überwältigenden magisch-sinnlichen Kräften, dank aber auch anderer wunderbarer Frauen - zu sich zu kommen. In den Geheimnissen offenbart sich eine uns fremde, zaubervolle Welt, in der die Beziehungen von Mensch und Natur, Mann und Frau, Mystischem und Realem, Stadt und Land ganz eigen gestaltet sind: eine Welt, in der Gerüche, Töne, Gesten und Sexualität, aber auch familiäre Zwänge und Rituale eine überragende Rolle spielen. Farahs Buch ist ein großes Epos, das auch »Die letzten Tage von Mogadischu« (The New York Review) heißen könnte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2000Die Heimat der Nachmittagssonne
An der Grenze der Welten: Nurrudin Farah sammelt Geheimnisse
Somalia ist auf der geistigen Landkarte der Deutschen durch zwei Momente fixiert: 1977 erlaubte der damalige Präsident Siyad Barre der Sondereinheit GSG-9, die gekidnappten Passagiere der Lufthansa-Maschine "Landshut" zu befreien. 1992, ein Jahr nach dem Sturz Barres, gingen UN-Truppen unter den Scheinwerfern der Weltpresse ins Land, um Frieden zu bringen, und zogen, als sich dies als unmöglich erwies, wenig später wieder ab, diesmal freilich ohne entsprechende mediale Begleitung.
Seitdem ist das Land sich selbst und seine Bevölkerung der Willkürherrschaft sich bekriegender Clans überlassen. Das Land hat keine funktionierende Regierung, kein Parlament, keine Justiz. Es herrscht das Recht der Faust und der Maschinenpistole. Dabei sind nicht, wie in nahezu allen anderen afrikanischen Staaten, ethnische Gegensätze die Ursache der Gewalt. Auch der koloniale Hintergrund (ein Teil des Landes wurde früher von England, ein anderer von Italien verwaltet) oder die weltpolitische Frontstellung während des "Kalten Krieges" liefern keine hinreichende Erklärung für die Anarchie, in der Somalia seit vielen Jahren dahintreibt.
In solchen Ausweglosigkeiten sucht man gern Hilfe bei der Literatur. Mancher hat etwa in den Weltkriegs-Romanen Aleksandar Tismas Aufschlüsse über die jugoslawische Selbstzerfleischung finden wollen. Im Fall Somalias scheint geradezu ein Glücksfall vorzuliegen. Mit Nuruddin Farah hat das Land einen Schriftsteller von internationalem Rang hervorgebracht, der, wie er einmal sagte, sein Land lebendig erhalten will, indem er darüber schreibt.
Farah, 1945 geboren und als Sohn einer Geschichtenerzählerin mit dem Rüstzeug mündlicher Tradierung ebenso ausgestattet wie mit einer "westlichen" Ausbildung, hat in Indien studiert und an europäischen, amerikanischen und afrikanischen Universitäten gelehrt. Sein Heimatland hat er so rechtzeitig verlassen, daß ein gegen ihn verhängtes Todesurteil nicht vollstreckt werden konnte. 24 Jahre, von 1974 bis 1998, konnte er Somalia nicht besuchen und schrieb doch über nichts anderes: über diktatorische Regimes, über die verhängnisvollen Auswirkungen der Entwicklungshilfe auf die heimische Landwirtschaft, über die schwierige Rolle der Frauen.
Farah besitzt großes Ansehen in der literarischen Welt. Für seinen jüngsten Roman "Geheimnisse" ist ihm der bedeutende Neustadt-Prize verliehen worden. Dieser Roman ist jetzt auf deutsch erschienen. Sagt er uns das, was wir wissen wollen? Natürlich nicht. Literatur beantwortet selten Fragen, außer denen, die sie selbst gestellt hat. In ihrer Welt sucht man eindeutige Wegweiser zur unsrigen vergeblich, und manchmal führen auch die, denen wir folgen wollen, in die Irre und geben Rätsel um Rätsel auf.
Genau dies ist hier der Fall. "Geheimnisse" ist voll von dem, was es im Titel führt. Daß von diesen beständig geredet wird, ist dabei keine Hilfe, denn wie mit ihnen umzugehen ist, bleibt selbst eines: aufklären oder bewahren? Das eine ist so verführerisch wie gefährlich, das andere so unumgänglich wie unerträglich. Ein zentrales Geheimnis immerhin wird gelüftet: die Herkunft des Helden (und in manchen Kapiteln auch Ich-Erzählers) Kalaman.
Dem vergleichsweise wohlhabenden Mann - er hat sich vom Briefschreiber zum Inhaber einer Computerfirma in Mogadiscio mit 15 Angestellten hochgearbeitet - schwant seit langem, daß mit seiner Abstammung etwas nicht in Ordnung ist. Sein Name - "ein Name wie eine Sackgasse", sagt er selbst - bedeutet nichts und ermöglicht keine Zuordnung zu einem der Clans. Die seinem Großvater (und Namensgeber) abgeforderte Erklärung, er habe ihm mit diesem voraussetzungslosen Namen Freiheit und Zukunft schenken sollen, befriedigt ihn nicht. Zu Recht: "Kalaman" ist, wie sich herausstellt, dem Krächzen eines Vogels nachgebildet. Auch daß er ein ungewolltes Kind war, hat Kalaman schon vermutet. Die Antwort auf seine bohrenden Fragen übertrifft aber seine Vorstellung, er erfährt von einer Gruppenvergewaltigung, sein leiblicher Vater gilt als unbekannt. Wer sucht, der findet: die Fratze der Aufklärung. Anstelle des Ungewissen ist ein viel schlimmeres Nichtwissen getreten. Denn ohne Vater steht Kalaman im sozialen Niemandsland und in den Tagen kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs, in denen der Roman spielt, ohne den Schutz eines Clans.
Auslöser für Kalamans verhängnisvolle Suche nach seinen Ursprüngen ist der Besuch seiner Jugendfreundin Sholoongo, der schillerndsten Gestalt des Romans. Als Kind zum "duugan", einem unheilbringenden Wesen, erklärt und in der Wildnis ausgesetzt, wurde sie von wilden Tieren aufgezogen und - so die psychologische Befrachtung dieser mythischen Konstruktion - kehrte dann voller Rachedurst in die Gesellschaft zurück, die sie einst ausstieß.
Sholoongo, die in den Vereinigten Staaten den Beruf des "Gestaltwandlers" ausübt, verletzt Tabus und Konventionen, vor allem aber männliche Herrschaftsansprüche. Ihre Waffe ist eine offensive Sexualität, der gleich drei Generationen vom Kalamans Familie anheimfallen: Sie verführt den achtjährigen Kalaman, dann seinen (vermeintlichen) Vater und schließlich, in einem Langstrecken-Finale am Ende des Romans, auch den weit über achtzigjährigen und "übermythosgroßen" Großvater. Dieser über viele Seiten ausgeführte Sexualakt ist Kampf und Erlösung - für die Frau, die schwanger werden will, und für den Greis, der endlich sterben kann, als Kalamans Geheimnis gelöst und nichts gewonnen ist. Sholoongo übertritt nicht nur die Tabus der alten und die Regeln der modernen Welt, sondern Grenzen aller Arten. Sie dringt in die Träume von Kalamans Mutter ein und stiftet dort Unheil, und auch daß sie es ist, die sich in einen riesigen Elefanten verwandelt und einen Jäger zu Tode trampelt, mögen die handelnden Personen nicht ausschließen.
Diese Übergänge dringen auch in den Stil ein. Die Bilder Nuruddin Farahs sind zum Teil antiquiert (wenn in den Augen einer Frau "die Erhabenheit der Nachmittagssonne eine Heimstadt gefunden hat"), wirken nur zuweilen auch für westliche Leser frisch (eine Frau sieht aus "wie eine Kuh, die mit ihrem eigenen flüssigen Dung beschmiert ist, so grün wie die Jahreszeit feucht"). Oft überkreuzen sich in den Bildern die Welten, schlägt die unkontrollierbare Modernisierung auf die Metaphernbildung durch: "Seine Worte kommen gerollt heraus wie die Blätter aus einem Faxgerät", heißt es einmal, oder: "Er war hellwach wie eine Reihe Taxis, die auf Kundschaft wartet." Im Bewußtsein des Helden berühren sich das tierisch-totemistische Erbe und die Maschinensymbiose unserer Tage: Die Identität, die solche Spannungen aushalten muß, kann nur zerbrechen.
Allerdings zerbricht auch dem Autor der Stil unter den Händen, führt die Konfrontation der Welten zu wüsten Brüchen. Das Vergnügen der Lektüre wird allzuoft getrübt: "Dem, was sie über ihren Mann sagte, entnahm ich, daß diese Partnerschaft bei ihr einen in vieler Hinsicht äußerst positiven Eindruck hinterlassen hatte." Vor allem die dann und wann den Personen in den Mund gelegten Leitartikelpassagen fallen unangenehm auf, ohne doch mehr als einfachste Wahrheiten zu verkünden.
Schwerer noch wiegt für den deutschen Leser, daß er zwar ahnt, daß alles miteinander zusammenhängt - nämlich Kalamans Identitätssuche mit der Anarchie seines Landes -, aber nicht nachvollziehen kann, auf welche Weise. Dazu - und auch zur gerechten Beurteilung der stilistischen Schwächen - fehlen die Voraussetzungen. Man muß die mündliche Tradition kennen, auch über ethnologische Spezialkenntnisse verfügen. (Daß Menstruationsblut mit einem Tabu belegt ist, kann man sich denken. Aber was genau verbietet das Tabu, und was impliziert seine Verletzung?) Ein schwacher, aber hilfreicher Ersatz wäre eine editorische Begleitung mit Kommentar, Glossar, Einführung oder Nachwort. Nichts davon hat der Suhrkamp Verlag für nötig gehalten. So bleiben unnötig viele Geheimnisse dieses Romans ungelüftet.
MARTIN EBEL
Nuruddin Farah: "Geheimnisse". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Eike Schönfeld. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 396 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
An der Grenze der Welten: Nurrudin Farah sammelt Geheimnisse
Somalia ist auf der geistigen Landkarte der Deutschen durch zwei Momente fixiert: 1977 erlaubte der damalige Präsident Siyad Barre der Sondereinheit GSG-9, die gekidnappten Passagiere der Lufthansa-Maschine "Landshut" zu befreien. 1992, ein Jahr nach dem Sturz Barres, gingen UN-Truppen unter den Scheinwerfern der Weltpresse ins Land, um Frieden zu bringen, und zogen, als sich dies als unmöglich erwies, wenig später wieder ab, diesmal freilich ohne entsprechende mediale Begleitung.
Seitdem ist das Land sich selbst und seine Bevölkerung der Willkürherrschaft sich bekriegender Clans überlassen. Das Land hat keine funktionierende Regierung, kein Parlament, keine Justiz. Es herrscht das Recht der Faust und der Maschinenpistole. Dabei sind nicht, wie in nahezu allen anderen afrikanischen Staaten, ethnische Gegensätze die Ursache der Gewalt. Auch der koloniale Hintergrund (ein Teil des Landes wurde früher von England, ein anderer von Italien verwaltet) oder die weltpolitische Frontstellung während des "Kalten Krieges" liefern keine hinreichende Erklärung für die Anarchie, in der Somalia seit vielen Jahren dahintreibt.
In solchen Ausweglosigkeiten sucht man gern Hilfe bei der Literatur. Mancher hat etwa in den Weltkriegs-Romanen Aleksandar Tismas Aufschlüsse über die jugoslawische Selbstzerfleischung finden wollen. Im Fall Somalias scheint geradezu ein Glücksfall vorzuliegen. Mit Nuruddin Farah hat das Land einen Schriftsteller von internationalem Rang hervorgebracht, der, wie er einmal sagte, sein Land lebendig erhalten will, indem er darüber schreibt.
Farah, 1945 geboren und als Sohn einer Geschichtenerzählerin mit dem Rüstzeug mündlicher Tradierung ebenso ausgestattet wie mit einer "westlichen" Ausbildung, hat in Indien studiert und an europäischen, amerikanischen und afrikanischen Universitäten gelehrt. Sein Heimatland hat er so rechtzeitig verlassen, daß ein gegen ihn verhängtes Todesurteil nicht vollstreckt werden konnte. 24 Jahre, von 1974 bis 1998, konnte er Somalia nicht besuchen und schrieb doch über nichts anderes: über diktatorische Regimes, über die verhängnisvollen Auswirkungen der Entwicklungshilfe auf die heimische Landwirtschaft, über die schwierige Rolle der Frauen.
Farah besitzt großes Ansehen in der literarischen Welt. Für seinen jüngsten Roman "Geheimnisse" ist ihm der bedeutende Neustadt-Prize verliehen worden. Dieser Roman ist jetzt auf deutsch erschienen. Sagt er uns das, was wir wissen wollen? Natürlich nicht. Literatur beantwortet selten Fragen, außer denen, die sie selbst gestellt hat. In ihrer Welt sucht man eindeutige Wegweiser zur unsrigen vergeblich, und manchmal führen auch die, denen wir folgen wollen, in die Irre und geben Rätsel um Rätsel auf.
Genau dies ist hier der Fall. "Geheimnisse" ist voll von dem, was es im Titel führt. Daß von diesen beständig geredet wird, ist dabei keine Hilfe, denn wie mit ihnen umzugehen ist, bleibt selbst eines: aufklären oder bewahren? Das eine ist so verführerisch wie gefährlich, das andere so unumgänglich wie unerträglich. Ein zentrales Geheimnis immerhin wird gelüftet: die Herkunft des Helden (und in manchen Kapiteln auch Ich-Erzählers) Kalaman.
Dem vergleichsweise wohlhabenden Mann - er hat sich vom Briefschreiber zum Inhaber einer Computerfirma in Mogadiscio mit 15 Angestellten hochgearbeitet - schwant seit langem, daß mit seiner Abstammung etwas nicht in Ordnung ist. Sein Name - "ein Name wie eine Sackgasse", sagt er selbst - bedeutet nichts und ermöglicht keine Zuordnung zu einem der Clans. Die seinem Großvater (und Namensgeber) abgeforderte Erklärung, er habe ihm mit diesem voraussetzungslosen Namen Freiheit und Zukunft schenken sollen, befriedigt ihn nicht. Zu Recht: "Kalaman" ist, wie sich herausstellt, dem Krächzen eines Vogels nachgebildet. Auch daß er ein ungewolltes Kind war, hat Kalaman schon vermutet. Die Antwort auf seine bohrenden Fragen übertrifft aber seine Vorstellung, er erfährt von einer Gruppenvergewaltigung, sein leiblicher Vater gilt als unbekannt. Wer sucht, der findet: die Fratze der Aufklärung. Anstelle des Ungewissen ist ein viel schlimmeres Nichtwissen getreten. Denn ohne Vater steht Kalaman im sozialen Niemandsland und in den Tagen kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs, in denen der Roman spielt, ohne den Schutz eines Clans.
Auslöser für Kalamans verhängnisvolle Suche nach seinen Ursprüngen ist der Besuch seiner Jugendfreundin Sholoongo, der schillerndsten Gestalt des Romans. Als Kind zum "duugan", einem unheilbringenden Wesen, erklärt und in der Wildnis ausgesetzt, wurde sie von wilden Tieren aufgezogen und - so die psychologische Befrachtung dieser mythischen Konstruktion - kehrte dann voller Rachedurst in die Gesellschaft zurück, die sie einst ausstieß.
Sholoongo, die in den Vereinigten Staaten den Beruf des "Gestaltwandlers" ausübt, verletzt Tabus und Konventionen, vor allem aber männliche Herrschaftsansprüche. Ihre Waffe ist eine offensive Sexualität, der gleich drei Generationen vom Kalamans Familie anheimfallen: Sie verführt den achtjährigen Kalaman, dann seinen (vermeintlichen) Vater und schließlich, in einem Langstrecken-Finale am Ende des Romans, auch den weit über achtzigjährigen und "übermythosgroßen" Großvater. Dieser über viele Seiten ausgeführte Sexualakt ist Kampf und Erlösung - für die Frau, die schwanger werden will, und für den Greis, der endlich sterben kann, als Kalamans Geheimnis gelöst und nichts gewonnen ist. Sholoongo übertritt nicht nur die Tabus der alten und die Regeln der modernen Welt, sondern Grenzen aller Arten. Sie dringt in die Träume von Kalamans Mutter ein und stiftet dort Unheil, und auch daß sie es ist, die sich in einen riesigen Elefanten verwandelt und einen Jäger zu Tode trampelt, mögen die handelnden Personen nicht ausschließen.
Diese Übergänge dringen auch in den Stil ein. Die Bilder Nuruddin Farahs sind zum Teil antiquiert (wenn in den Augen einer Frau "die Erhabenheit der Nachmittagssonne eine Heimstadt gefunden hat"), wirken nur zuweilen auch für westliche Leser frisch (eine Frau sieht aus "wie eine Kuh, die mit ihrem eigenen flüssigen Dung beschmiert ist, so grün wie die Jahreszeit feucht"). Oft überkreuzen sich in den Bildern die Welten, schlägt die unkontrollierbare Modernisierung auf die Metaphernbildung durch: "Seine Worte kommen gerollt heraus wie die Blätter aus einem Faxgerät", heißt es einmal, oder: "Er war hellwach wie eine Reihe Taxis, die auf Kundschaft wartet." Im Bewußtsein des Helden berühren sich das tierisch-totemistische Erbe und die Maschinensymbiose unserer Tage: Die Identität, die solche Spannungen aushalten muß, kann nur zerbrechen.
Allerdings zerbricht auch dem Autor der Stil unter den Händen, führt die Konfrontation der Welten zu wüsten Brüchen. Das Vergnügen der Lektüre wird allzuoft getrübt: "Dem, was sie über ihren Mann sagte, entnahm ich, daß diese Partnerschaft bei ihr einen in vieler Hinsicht äußerst positiven Eindruck hinterlassen hatte." Vor allem die dann und wann den Personen in den Mund gelegten Leitartikelpassagen fallen unangenehm auf, ohne doch mehr als einfachste Wahrheiten zu verkünden.
Schwerer noch wiegt für den deutschen Leser, daß er zwar ahnt, daß alles miteinander zusammenhängt - nämlich Kalamans Identitätssuche mit der Anarchie seines Landes -, aber nicht nachvollziehen kann, auf welche Weise. Dazu - und auch zur gerechten Beurteilung der stilistischen Schwächen - fehlen die Voraussetzungen. Man muß die mündliche Tradition kennen, auch über ethnologische Spezialkenntnisse verfügen. (Daß Menstruationsblut mit einem Tabu belegt ist, kann man sich denken. Aber was genau verbietet das Tabu, und was impliziert seine Verletzung?) Ein schwacher, aber hilfreicher Ersatz wäre eine editorische Begleitung mit Kommentar, Glossar, Einführung oder Nachwort. Nichts davon hat der Suhrkamp Verlag für nötig gehalten. So bleiben unnötig viele Geheimnisse dieses Romans ungelüftet.
MARTIN EBEL
Nuruddin Farah: "Geheimnisse". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Eike Schönfeld. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 396 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.05.2000Entführt nach Somalia
Nuruddin Farahs dichter Roman über Mythos und Identität: „Geheimnisse”
Nuruddin Farah begann seine Schriftstellerkarriere als Briefschreiber. Er schrieb Ehekontrakte und Suchmeldungen, erbettelte im Auftrag seiner Klienten Geld, Liebe oder schwor Rache. Seine Briefe wirkten, weil sie schön und poetisch geschrieben waren. Das sprach sich in Baidoa und in der dort ansässigen somalischen Verwandtschaft herum.
Der diensteifrige Briefschreiber war erst zwölf Jahre alt, und sein Talent war nicht von den Bäumen gefallen, sondern von der Mutter übernommen. Sie schrieb nicht, sondern sie erzählte. Sie war eine professionelle Geschichtenerzählerin, ein Beruf, den es nur noch in Afrika und Indien gibt. Seinen Vater beschreibt Nuruddin Farah als typischen Patriarchen, streng, selbstgerecht und ohne Zweifel, ein Kaufmann, der sich für die Schulausbildung und das Studium des Sohnes in Indien in der Hoffnung abrackerte, er würde Lehrer werden.
Aber der 1945 in Baidoa, Somalia geborene Nuruddin Farah wurde Schriftsteller, wie V. S. Naipaul, der in Trinidad aufgewachsene Inder, und Salman Rushdie, der in Bombay geborene Moslem. Auch Naipaul und Rushdie beschlossen im Kindesalter Schriftsteller zu werden. Alle drei blicken von Außen, Tausende von Kilometern von ihrem Land entfernt, zurück.
„Mein Name Kalaman”, beginnt Nuruddin Farahs Roman Geheimnisse. „Ich, Saleem Sinai”, schreibt Salman Rushdie auf der ersten Seite seines geschichtensatten Romans Mitternachtskinder. „Ich war elf, nicht älter, als ich beschloß, Schriftsteller zu werden”, resümiert V.S. Naipaul in seinem Essay „Reading & Writing”. Nuruddin Farah stammt aus dem Land der Bürgerkriege, der zerstrittenen Clans und Subclans, der Hungersnöte und Dürrekatastrophen. Er übte in seiner in den frühen 80er Jahren beendeten Triologie (Sweet and Sour Milk, Sardines, Close and Sesame) heftige Kritik an Somalia, von einem Diktator befehligt und von einem Justizsystem tyrannisiert, das Schuldige nach den Gesetzen der islamischen Scharia mit Amputationen, Steinigen und Folter exekutiert. Weil Nuruddin Farah Diktatur und Chauvenismus anklagte, musste er das Land verlassen, zog nach Nigeria und lebt jetzt in Kapstadt, wo er an der Universität unterrichtet.
Der hochgewachsene schlagfertige und weltläufige Schriftsteller, verkörpert eine lässige Internationalität. Bei einer Lesung im März 2000 im berühmten „Y” an der 82nd Street – eine Institution des intellektuellen New York – begeisterte er ein großes Publikum.
Geheimnisse, unter dem Titel Secrets 1998 in New York in der Originalausgabe erschienen und mit dem angesehenen Neustadt International Prize for Literature ausgezeichnet, spielt in Mogadischu eine Woche vor Ausbruch des Bürgerkrieges. Wie Rushdies Ich-Erzähler in den Mitternachtskindern verbindet Geheimnisse das Thema der nationalen Identität mit dem Drama der Zeugung. Kalaman ist nicht der Sohn seines Vaters, nicht der leibliche Enkel des Großvaters Nonno. Kalaman ist das Kind eines Vergewaltigers.
Als Dreißigjähriger beginnt Kalaman das Schicksal seines Landes mit seiner eigenen Biografie gleichzusetzen. „Ich war ein sturmzerzauster, einsamer Mann. Ich war niedergeschlagen. Ich war tief bedrückt. Ich war voller Trauer . . . ich trauerte um mein Land!” Der Computerspezialist Kalaman betreibt in Mogadischu ein Geschäft mit fünfzehn Angestellten, ein global vernetzter Mann, der Talaado heiraten möchte, aber von Sholoongo aus den Bahnen eines erfolgreichen Lebens gerissen wird. Sholoongo ist die Verführerin und die Frau mit mysteriöser Kraft, mehr Fabelwesen als Mensch, von der Mutter im Busch ausgesetzt, weil in der Stunde ihrer Geburt die Sterne ungünstig standen, und, so erzählt es die Legende, von einer Löwin großgezogen. Diese Frau, die in New York als Schamanin somalischen Ursprungs lebt, dringt bei einem Heimatbesuch in Kalamans Wohnung ein.
Der achtjährige Voyeur
Sie will ein Kind von ihm. Nuruddin Farah nutzt Sholoongo als die Verkörperung der Erotik und des überlieferten Aberglaubens. Sholoongo bringt Farbe in den Familienstoff und treibt mit ihrer Vehemenz die Geschichte vorwärts in deren Zentrum, das Nonno besetzt, der weise Mann, der seinem Enkel Kalaman den Schlüssel zu seinem Besitz hinterlässt und ihm die grausame Geschichte seiner gewaltsamen Zeugung offenbart. Sholoongo, die Hexe und Nonno, der Weise sind die Archetypen, von diesen beiden wird der dem modernen Leben zugewandte Computerfreak Kalaman über seine wahre Identität aufgeklärt. Er kann nicht fliehen, Kalaman muss sich der Wahrheit stellen. Das gibt dem Erzähler Farah die Chance, in die Kindheit zurückzublenden und Kalaman in einen achtjährigen Voyeur zurückzuverwandeln, der die Vereinigung eines Dorfbewohners mit einer Kuh beobachtet und all den Geschichten sieht und glaubt, die Zeus im alten Griechenland praktiziert hat.
Kalaman flieht aus dem von bewaffneter Miliz, von plündernden irregulären Armeen in Angst gehaltenen Mogadischu aufs Land, wo sein Vater Namen in marmorne Grabsteine meißelt, seine Mutter einen Laden unterhält und der steinalte Nonno auf seinem Landgut lebt. Im Autoradio hört er, dass der Nachbar Fidow von einem Elefanten totgetreten worden ist. Wie Geier, Krähen und Wassermolche besitzen Elefanten eine totemistische Bedeutung.
Nuruddin Farah teilt seinen Roman in Prolog, Epilog und zwölf Kapitel ein und erzählt aus wechselnden Perspektiven zwischen Kalaman, Kalamans Großvater, Mutter und Sholoongo: „Ich Sholoongo”. „Ich bin Kalamans Mutter” . . . Einige kommentierende Kapitel behält sich der Erzähler vor. Nuruddin Farah erzählt mit der Lust desjenigen, der viel erklären und anschaulich machen möchte. Er entführt in eine dichte Welt, fremd für den Europäer. Farah gibt der afrikanisch islamischen Gesellschaft Somalias Kolorit, ohne zu überzeichnen, fügt wunderbare Liebesszenen ein, Szenen von körperlicher Kraft und Glanz, die die Prunkstücke des Buches sind. Kalamans Mutter beschreibt die Augen ihres dreijähigen Sohnes, „die genauso gut im abgeflachten Gesicht einer Eule hätten sitzen können”. Der Sohn hat das Liebesspiel seiner Eltern, die miteinander auskamen wie „Sommerfliege und Honig”, beobachtet und „ich will, ich will ein Geschwisterchen” gemurmelt. Bei Nuruddin Farah sind die Frauen die Handelnden und die Männer die Behandelten, auch beim Sex.
Auffallend sind die Bezüge zur griechischen Mythologie, Kalamans Mutter hat mehrere Brüste, eine Krähe besitzt heilbringende Kräfte, sie wurde, erklärt Farah, vor der Ausbreitung von Islam und Christentum unter den Völkern „am Horn von Afrika als Gottheit verehrt”. Geheimnisse, sagt der Geheimnishüter Nonno, sind wie ein Acker, den man bestellen müsse. Kalaman ist der Getriebene, ihm gibt der Autor viel zu tun, aber wenig Möglichkeiten, seinen Charakter zu entfalten. Für die Negativzüge der Frauen hat er ein viel stärkeres Sensorium. Sholoongo und Kalamans Mutter ziehen ihre polarisierenden Energien aus dem Zusammenprall von Gut und Böse. Nonno verkörpert in dieser islamischen Gesellschaft die Einheit, die Stärke und Potenz der Familie. Noch in den letzten Minuten seines Lebens vereinigt er sich mit Sholoongo. „Ich bin ein Mensch”; sind Nonnos letzte Worte, „ein Clan ist ein Mob. ”
Nuruddin Farahs Geheimnisse ist ein Buch über Somalia, seine Religion und Tradition, über die Stärke der Frauen und die Weisheit eines alten Mannes. Es ist ein Bericht über den „clash of cultures”, die Brutalität und Mordlust der Männer und über die Schönheit der Sexualität. Die Sprache ist bildhaft, ihre Poesie kommt aus den fremden Mythen und Vergleichen. Nonnos Geschichte ist groß, eindrücklich und anrührend. Kalaman muss akzeptieren, dass sein Vater sein Vater ist, obwohl er ihn nicht gezeugt hat. Seine Existenz ist der Schnittpunkt zwischen der alten und der neuen Welt. Nuruddin Farah, der Weltmann, der vier Sprachen spricht, ist davon überzeugt, daß die Ideen wichtiger sind, als die Sprache. Mit seinen Büchern will er sein Land „am Leben halten”. Nuruddin Farah ist ein Aufklärer, aber kein Eiferer. Die Beschreibungen in seinem Roman Geheimnisse erwecken genau die Neugierde, von der das Geheimnis lebt.
VERENA AUFFERMANN
NURUDDIN FARAH: Geheimnisse. Roman. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000. 398 Seiten, 49,80 Mark.
Blickt von außen auf sein Land zurück: der 1945 geborene, in Kapstadt lebende und lehrende somalische Schriftsteller Nuruddin Farah.
Foto: Brigitte Friedrich
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Nuruddin Farahs dichter Roman über Mythos und Identität: „Geheimnisse”
Nuruddin Farah begann seine Schriftstellerkarriere als Briefschreiber. Er schrieb Ehekontrakte und Suchmeldungen, erbettelte im Auftrag seiner Klienten Geld, Liebe oder schwor Rache. Seine Briefe wirkten, weil sie schön und poetisch geschrieben waren. Das sprach sich in Baidoa und in der dort ansässigen somalischen Verwandtschaft herum.
Der diensteifrige Briefschreiber war erst zwölf Jahre alt, und sein Talent war nicht von den Bäumen gefallen, sondern von der Mutter übernommen. Sie schrieb nicht, sondern sie erzählte. Sie war eine professionelle Geschichtenerzählerin, ein Beruf, den es nur noch in Afrika und Indien gibt. Seinen Vater beschreibt Nuruddin Farah als typischen Patriarchen, streng, selbstgerecht und ohne Zweifel, ein Kaufmann, der sich für die Schulausbildung und das Studium des Sohnes in Indien in der Hoffnung abrackerte, er würde Lehrer werden.
Aber der 1945 in Baidoa, Somalia geborene Nuruddin Farah wurde Schriftsteller, wie V. S. Naipaul, der in Trinidad aufgewachsene Inder, und Salman Rushdie, der in Bombay geborene Moslem. Auch Naipaul und Rushdie beschlossen im Kindesalter Schriftsteller zu werden. Alle drei blicken von Außen, Tausende von Kilometern von ihrem Land entfernt, zurück.
„Mein Name Kalaman”, beginnt Nuruddin Farahs Roman Geheimnisse. „Ich, Saleem Sinai”, schreibt Salman Rushdie auf der ersten Seite seines geschichtensatten Romans Mitternachtskinder. „Ich war elf, nicht älter, als ich beschloß, Schriftsteller zu werden”, resümiert V.S. Naipaul in seinem Essay „Reading & Writing”. Nuruddin Farah stammt aus dem Land der Bürgerkriege, der zerstrittenen Clans und Subclans, der Hungersnöte und Dürrekatastrophen. Er übte in seiner in den frühen 80er Jahren beendeten Triologie (Sweet and Sour Milk, Sardines, Close and Sesame) heftige Kritik an Somalia, von einem Diktator befehligt und von einem Justizsystem tyrannisiert, das Schuldige nach den Gesetzen der islamischen Scharia mit Amputationen, Steinigen und Folter exekutiert. Weil Nuruddin Farah Diktatur und Chauvenismus anklagte, musste er das Land verlassen, zog nach Nigeria und lebt jetzt in Kapstadt, wo er an der Universität unterrichtet.
Der hochgewachsene schlagfertige und weltläufige Schriftsteller, verkörpert eine lässige Internationalität. Bei einer Lesung im März 2000 im berühmten „Y” an der 82nd Street – eine Institution des intellektuellen New York – begeisterte er ein großes Publikum.
Geheimnisse, unter dem Titel Secrets 1998 in New York in der Originalausgabe erschienen und mit dem angesehenen Neustadt International Prize for Literature ausgezeichnet, spielt in Mogadischu eine Woche vor Ausbruch des Bürgerkrieges. Wie Rushdies Ich-Erzähler in den Mitternachtskindern verbindet Geheimnisse das Thema der nationalen Identität mit dem Drama der Zeugung. Kalaman ist nicht der Sohn seines Vaters, nicht der leibliche Enkel des Großvaters Nonno. Kalaman ist das Kind eines Vergewaltigers.
Als Dreißigjähriger beginnt Kalaman das Schicksal seines Landes mit seiner eigenen Biografie gleichzusetzen. „Ich war ein sturmzerzauster, einsamer Mann. Ich war niedergeschlagen. Ich war tief bedrückt. Ich war voller Trauer . . . ich trauerte um mein Land!” Der Computerspezialist Kalaman betreibt in Mogadischu ein Geschäft mit fünfzehn Angestellten, ein global vernetzter Mann, der Talaado heiraten möchte, aber von Sholoongo aus den Bahnen eines erfolgreichen Lebens gerissen wird. Sholoongo ist die Verführerin und die Frau mit mysteriöser Kraft, mehr Fabelwesen als Mensch, von der Mutter im Busch ausgesetzt, weil in der Stunde ihrer Geburt die Sterne ungünstig standen, und, so erzählt es die Legende, von einer Löwin großgezogen. Diese Frau, die in New York als Schamanin somalischen Ursprungs lebt, dringt bei einem Heimatbesuch in Kalamans Wohnung ein.
Der achtjährige Voyeur
Sie will ein Kind von ihm. Nuruddin Farah nutzt Sholoongo als die Verkörperung der Erotik und des überlieferten Aberglaubens. Sholoongo bringt Farbe in den Familienstoff und treibt mit ihrer Vehemenz die Geschichte vorwärts in deren Zentrum, das Nonno besetzt, der weise Mann, der seinem Enkel Kalaman den Schlüssel zu seinem Besitz hinterlässt und ihm die grausame Geschichte seiner gewaltsamen Zeugung offenbart. Sholoongo, die Hexe und Nonno, der Weise sind die Archetypen, von diesen beiden wird der dem modernen Leben zugewandte Computerfreak Kalaman über seine wahre Identität aufgeklärt. Er kann nicht fliehen, Kalaman muss sich der Wahrheit stellen. Das gibt dem Erzähler Farah die Chance, in die Kindheit zurückzublenden und Kalaman in einen achtjährigen Voyeur zurückzuverwandeln, der die Vereinigung eines Dorfbewohners mit einer Kuh beobachtet und all den Geschichten sieht und glaubt, die Zeus im alten Griechenland praktiziert hat.
Kalaman flieht aus dem von bewaffneter Miliz, von plündernden irregulären Armeen in Angst gehaltenen Mogadischu aufs Land, wo sein Vater Namen in marmorne Grabsteine meißelt, seine Mutter einen Laden unterhält und der steinalte Nonno auf seinem Landgut lebt. Im Autoradio hört er, dass der Nachbar Fidow von einem Elefanten totgetreten worden ist. Wie Geier, Krähen und Wassermolche besitzen Elefanten eine totemistische Bedeutung.
Nuruddin Farah teilt seinen Roman in Prolog, Epilog und zwölf Kapitel ein und erzählt aus wechselnden Perspektiven zwischen Kalaman, Kalamans Großvater, Mutter und Sholoongo: „Ich Sholoongo”. „Ich bin Kalamans Mutter” . . . Einige kommentierende Kapitel behält sich der Erzähler vor. Nuruddin Farah erzählt mit der Lust desjenigen, der viel erklären und anschaulich machen möchte. Er entführt in eine dichte Welt, fremd für den Europäer. Farah gibt der afrikanisch islamischen Gesellschaft Somalias Kolorit, ohne zu überzeichnen, fügt wunderbare Liebesszenen ein, Szenen von körperlicher Kraft und Glanz, die die Prunkstücke des Buches sind. Kalamans Mutter beschreibt die Augen ihres dreijähigen Sohnes, „die genauso gut im abgeflachten Gesicht einer Eule hätten sitzen können”. Der Sohn hat das Liebesspiel seiner Eltern, die miteinander auskamen wie „Sommerfliege und Honig”, beobachtet und „ich will, ich will ein Geschwisterchen” gemurmelt. Bei Nuruddin Farah sind die Frauen die Handelnden und die Männer die Behandelten, auch beim Sex.
Auffallend sind die Bezüge zur griechischen Mythologie, Kalamans Mutter hat mehrere Brüste, eine Krähe besitzt heilbringende Kräfte, sie wurde, erklärt Farah, vor der Ausbreitung von Islam und Christentum unter den Völkern „am Horn von Afrika als Gottheit verehrt”. Geheimnisse, sagt der Geheimnishüter Nonno, sind wie ein Acker, den man bestellen müsse. Kalaman ist der Getriebene, ihm gibt der Autor viel zu tun, aber wenig Möglichkeiten, seinen Charakter zu entfalten. Für die Negativzüge der Frauen hat er ein viel stärkeres Sensorium. Sholoongo und Kalamans Mutter ziehen ihre polarisierenden Energien aus dem Zusammenprall von Gut und Böse. Nonno verkörpert in dieser islamischen Gesellschaft die Einheit, die Stärke und Potenz der Familie. Noch in den letzten Minuten seines Lebens vereinigt er sich mit Sholoongo. „Ich bin ein Mensch”; sind Nonnos letzte Worte, „ein Clan ist ein Mob. ”
Nuruddin Farahs Geheimnisse ist ein Buch über Somalia, seine Religion und Tradition, über die Stärke der Frauen und die Weisheit eines alten Mannes. Es ist ein Bericht über den „clash of cultures”, die Brutalität und Mordlust der Männer und über die Schönheit der Sexualität. Die Sprache ist bildhaft, ihre Poesie kommt aus den fremden Mythen und Vergleichen. Nonnos Geschichte ist groß, eindrücklich und anrührend. Kalaman muss akzeptieren, dass sein Vater sein Vater ist, obwohl er ihn nicht gezeugt hat. Seine Existenz ist der Schnittpunkt zwischen der alten und der neuen Welt. Nuruddin Farah, der Weltmann, der vier Sprachen spricht, ist davon überzeugt, daß die Ideen wichtiger sind, als die Sprache. Mit seinen Büchern will er sein Land „am Leben halten”. Nuruddin Farah ist ein Aufklärer, aber kein Eiferer. Die Beschreibungen in seinem Roman Geheimnisse erwecken genau die Neugierde, von der das Geheimnis lebt.
VERENA AUFFERMANN
NURUDDIN FARAH: Geheimnisse. Roman. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000. 398 Seiten, 49,80 Mark.
Blickt von außen auf sein Land zurück: der 1945 geborene, in Kapstadt lebende und lehrende somalische Schriftsteller Nuruddin Farah.
Foto: Brigitte Friedrich
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Richtig gut findet der Rezensent Rüdiger Wartusch diesen Roman und bezeichnet ihn als "Tragödie mit Happy End". Das Buch zeichnet sich seiner Ansicht nach durch eine "simple äußere Handlung" (des Protagonisten Jugendliebe taucht wieder auf und will ein Kind von ihm), aber "komplexe Zusammenhänge" aus. Diese Komplexität werde dargestellt durch einen konstruierten, verwobenen Text, der "Ausdruck einer Welt ist, die sich auch in einem noch so kleinen Ausschnitt nicht mehr auseinander lösen lässt." Auch Politisches sei zwischen den Betrachtungen der individuellen Schicksale zu finden. Wartusch ist angetan vom Metaphernreichtum, von der Bildlichkeit und Dichtheit der Sprache, die seiner Ansicht nach - trotz einiger Versäumnisses des deutschen Lektorats, auf die der Rezensent verweist - die Qualität des Romans ausmachen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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