In seiner zweiten großen Erzählung schildert der Autor eine Kindheit in den Fünfziger- und zu Beginn der Sechzigerjahre, als die Fahrt von Straubing nach Regensburg noch eine Weltreise war. Der Junge, der hier beschrieben wird, dringt immer tiefer ein in eine fremde, rätselhafte Welt, die noch verwüstet ist von der Vergangenheit. Er findet sich allmählich zurecht, gleichzeitig schärft er seinen kritischen Blick auf die Menschen und die Dinge ringsum.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.05.2011Eine Kindheit in der Oberpfalz
15 Jahre hat Harald Grill an seinem neuen Roman gearbeitet, der einen tiefsinnigen Blick auf die Nachkriegsjahre eröffnet
Von Hans Kratzer
München – Wer in den fünfziger und sechziger Jahren in der bayerischen Provinz aufgewachsen ist, der hat Dinge erlebt, von denen heutige Internet-Jugendliche keinen blassen Schimmer mehr haben. Es gab noch Wohnhäuser, die weder ans Stromnetz noch an die Wasserversorgung angeschlossen waren, die Autos fuhren auf staubigen, nicht geteerten Bundesstraßen und es konnte leicht passieren, dass Buben beim Spielen auf eine Weltkriegsbombe stießen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass der in der Oberpfalz lebende Dichter Harald Grill seinen neuen Roman „gehen lernen“ mit einem gefährlichen „Schatzfund“ einleitet. Der Bub, dessen Heranwachsen Grill in präzise ausgefeilten und atmosphärisch dichten Episoden schildert, hat nichtsahnend eine alte Kriegsbombe ausgegraben. Das gefährliche Relikt trat so unverhofft in sein Leben wie so viele andere merkwürdige Phänomene und Gestalten, die damals ein Kind im Guten wie im Schlechten prägten. Ganz bewusst schildert Grill schon am Anfang des Romans den Zwiespalt, den eine Kinderseele in der rauen Realität aushalten musste. Während sich der Bombenfinder bei seinen gleichaltrigen Spezln Respekt erwirbt, fällt die Reaktion der Erwachsenen gegenteilig aus: „Ich glaub, ich hab was ganz Schlimmes gemacht“, resümiert der Knabe, der in jeder Hinsicht erst einmal „gehen lernen“ muss.
Unverkennbar hat Harald Grill in diesem Roman viel Selbsterlebtes verarbeitet. Seine Kindheit in der Nachkriegszeit wirkt wie ein unerschöpflicher Brunnen, aus dem der Dichter sein Leben lang schöpfen kann, sodass man nach der Lektüre betroffen rätselt, was um Gottes willen jene Kinder später erzählen werden, die in einer virtuellen Welt sozialisiert werden, die keine Ahnung von der Natur mehr haben, die den ganzen Tag in der Schule hocken und eigentlich keine Abenteuer mehr erleben. „Alles, was ich geschrieben habe, hat mit meinem Leben zu tun“, sagt Grill, dessen erster Roman „Hochzeit im Dunkeln“ in den neunziger Jahren Aufsehen erregt hat. Er erzählt darin die Liebesgeschichte seiner Eltern, also seines beinamputierten Vaters, der sich als Kriegsheimkehrer auf dem elterlichen Hof nicht mehr zurechtfindet und auch noch – damals unvorstellbar – ein evangelisches Flüchtlingsmädchen aus Schlesien heiratet.
Der neue Roman „gehen lernen“ setzt diese Saga fort. Der Vater hat eine Anstellung in Regensburg gefunden, wo der Sohn im mit Hinterhöfen gesprenkelten Kasernenviertel aufwächst. Grill bedient sich einer einfachen, aber kunstvollen Sprache, mit deren Hilfe er die Empfindungen und das Denken des Kindes rekapituliert. Er musste dazu in eine Zeit zurückgehen, in der die Fahrt von Straubing nach Regensburg noch eine Weltreise war und brave Kinder im Schuhgeschäft ein Lurchi-Heft bekamen. „All diese Erinnerungen musste ich erst aufschlüsseln“, sagt Grill, der als Kind keinen Dialekt reden durfte und dennoch einer der großen bayerischen Dialektlyriker wurde. Man kann den Roman also als die Geschichte einer Emanzipation lesen, die Probleme heutiger Migrationskinder gleichsam vorwegnimmt.
Auf diesem Weg stieß Grill auf existenzielle Fragen: Wie entsteht in einem Buben so etwas wie Heimat, hat Heimat nur mit Orten zu tun, was bedeutet Sprache?
Die Antworten erfordern Zeit, sie erlauben dem Dichter keinen Schnellschuss. Harald Grill ist sowieso gefeit vor Hektik, ihm gehen die Bedächtigkeit, das Nachsinnieren, die Gründlichkeit beim Formulieren über alles. Fast 15 Jahre hat er gebraucht, um diesen Roman fertigzustellen, der die Mysterien der Kindheit auf eine Art und Weise seziert, wie es in der bayerischen Literatur bislang selten geschah. Als Grill vor zehn Jahren vom Nordkap und danach von Syrakus zu Fuß nach Regensburg gewandert ist, hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Im kommenden Jahr will er auch darüber ein Buch vorlegen.
Harald Grill, gehen lernen, Verlag Sankt Michaelsbund, München 2010, 288 Seiten, 16,90 Euro.
Grill seziert die
Mysterien der Kindheit
gründlich und präzise.
Sein Roman „Hochzeit im Dunkeln“ erregte einst großes Aufsehen. 15 Jahre danach hat der Autor Harald Grill einen weiteren autobiografischen Roman vorgelegt. Das Gehen ist, wie so oft bei Grill, ein zentrales Motiv. Foto: Regina Schmeken
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15 Jahre hat Harald Grill an seinem neuen Roman gearbeitet, der einen tiefsinnigen Blick auf die Nachkriegsjahre eröffnet
Von Hans Kratzer
München – Wer in den fünfziger und sechziger Jahren in der bayerischen Provinz aufgewachsen ist, der hat Dinge erlebt, von denen heutige Internet-Jugendliche keinen blassen Schimmer mehr haben. Es gab noch Wohnhäuser, die weder ans Stromnetz noch an die Wasserversorgung angeschlossen waren, die Autos fuhren auf staubigen, nicht geteerten Bundesstraßen und es konnte leicht passieren, dass Buben beim Spielen auf eine Weltkriegsbombe stießen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass der in der Oberpfalz lebende Dichter Harald Grill seinen neuen Roman „gehen lernen“ mit einem gefährlichen „Schatzfund“ einleitet. Der Bub, dessen Heranwachsen Grill in präzise ausgefeilten und atmosphärisch dichten Episoden schildert, hat nichtsahnend eine alte Kriegsbombe ausgegraben. Das gefährliche Relikt trat so unverhofft in sein Leben wie so viele andere merkwürdige Phänomene und Gestalten, die damals ein Kind im Guten wie im Schlechten prägten. Ganz bewusst schildert Grill schon am Anfang des Romans den Zwiespalt, den eine Kinderseele in der rauen Realität aushalten musste. Während sich der Bombenfinder bei seinen gleichaltrigen Spezln Respekt erwirbt, fällt die Reaktion der Erwachsenen gegenteilig aus: „Ich glaub, ich hab was ganz Schlimmes gemacht“, resümiert der Knabe, der in jeder Hinsicht erst einmal „gehen lernen“ muss.
Unverkennbar hat Harald Grill in diesem Roman viel Selbsterlebtes verarbeitet. Seine Kindheit in der Nachkriegszeit wirkt wie ein unerschöpflicher Brunnen, aus dem der Dichter sein Leben lang schöpfen kann, sodass man nach der Lektüre betroffen rätselt, was um Gottes willen jene Kinder später erzählen werden, die in einer virtuellen Welt sozialisiert werden, die keine Ahnung von der Natur mehr haben, die den ganzen Tag in der Schule hocken und eigentlich keine Abenteuer mehr erleben. „Alles, was ich geschrieben habe, hat mit meinem Leben zu tun“, sagt Grill, dessen erster Roman „Hochzeit im Dunkeln“ in den neunziger Jahren Aufsehen erregt hat. Er erzählt darin die Liebesgeschichte seiner Eltern, also seines beinamputierten Vaters, der sich als Kriegsheimkehrer auf dem elterlichen Hof nicht mehr zurechtfindet und auch noch – damals unvorstellbar – ein evangelisches Flüchtlingsmädchen aus Schlesien heiratet.
Der neue Roman „gehen lernen“ setzt diese Saga fort. Der Vater hat eine Anstellung in Regensburg gefunden, wo der Sohn im mit Hinterhöfen gesprenkelten Kasernenviertel aufwächst. Grill bedient sich einer einfachen, aber kunstvollen Sprache, mit deren Hilfe er die Empfindungen und das Denken des Kindes rekapituliert. Er musste dazu in eine Zeit zurückgehen, in der die Fahrt von Straubing nach Regensburg noch eine Weltreise war und brave Kinder im Schuhgeschäft ein Lurchi-Heft bekamen. „All diese Erinnerungen musste ich erst aufschlüsseln“, sagt Grill, der als Kind keinen Dialekt reden durfte und dennoch einer der großen bayerischen Dialektlyriker wurde. Man kann den Roman also als die Geschichte einer Emanzipation lesen, die Probleme heutiger Migrationskinder gleichsam vorwegnimmt.
Auf diesem Weg stieß Grill auf existenzielle Fragen: Wie entsteht in einem Buben so etwas wie Heimat, hat Heimat nur mit Orten zu tun, was bedeutet Sprache?
Die Antworten erfordern Zeit, sie erlauben dem Dichter keinen Schnellschuss. Harald Grill ist sowieso gefeit vor Hektik, ihm gehen die Bedächtigkeit, das Nachsinnieren, die Gründlichkeit beim Formulieren über alles. Fast 15 Jahre hat er gebraucht, um diesen Roman fertigzustellen, der die Mysterien der Kindheit auf eine Art und Weise seziert, wie es in der bayerischen Literatur bislang selten geschah. Als Grill vor zehn Jahren vom Nordkap und danach von Syrakus zu Fuß nach Regensburg gewandert ist, hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Im kommenden Jahr will er auch darüber ein Buch vorlegen.
Harald Grill, gehen lernen, Verlag Sankt Michaelsbund, München 2010, 288 Seiten, 16,90 Euro.
Grill seziert die
Mysterien der Kindheit
gründlich und präzise.
Sein Roman „Hochzeit im Dunkeln“ erregte einst großes Aufsehen. 15 Jahre danach hat der Autor Harald Grill einen weiteren autobiografischen Roman vorgelegt. Das Gehen ist, wie so oft bei Grill, ein zentrales Motiv. Foto: Regina Schmeken
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