Ein Mann verlässt seine Frau, sein Kind, sein Haus. Er beschließt zu gehen, das Leben eines Landstreichers zu führen, und macht sich auf den Weg, der ihn zu sich selbst bringen soll. Er scheitert, trinkt, beginnt von Neuem. Den Leser nimmt er mit auf diese delirierenden, existenziellen und besessenen Reisen zu Fuß von Norwegen durch Deutschland nach Frankreich, nach Griechenland, durch ein Europa der Kunst, der Mythen,
der Städte. Bestimmt vom Rhythmus harten Gehens, von der Dunkelheit der Trunkenheit und der vollständigen physischen Erschöpfung, tritt er in Dialog mit Rousseau, Rimbaud, Satie, Giacometti, Heidegger und erlebt ein Abenteuer des Denkens: Mit nichts als sich selbst, ganz auf sich zurückgeworfen, was
bleibt, wer ist man?
der Städte. Bestimmt vom Rhythmus harten Gehens, von der Dunkelheit der Trunkenheit und der vollständigen physischen Erschöpfung, tritt er in Dialog mit Rousseau, Rimbaud, Satie, Giacometti, Heidegger und erlebt ein Abenteuer des Denkens: Mit nichts als sich selbst, ganz auf sich zurückgeworfen, was
bleibt, wer ist man?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.2012Wandersmann
Tomas Espedal träumt von besseren Menschen
Tomas Espedal wurde 1961 in Bergen geboren und debütierte 1988 mit dem Roman "Eine wilde Flucht vor dem Parfüm". Das "Wilde" scheint ihm unabdingbar für eine echte und wahre Existenz zu sein. Das vorliegende Buch, sein erstes auf Deutsch, handelt vom Gehen als Voraussetzung für ein "wildes" Leben. Sein Held, er selbst, sehnt sich danach, "eines Tages zur Tür hinauszugehen und nicht wiederzukehren". Er verlässt Frau und Kind. Sein Traum: Er will ein anderer werden. Sein Albtraum: sich selbst zu begegnen.
Die Furcht ist berechtigt, denn dieses Selbst will ihn zerstören, Espedal steckt in einer tiefen Depression, die Ehe kriselt, er trinkt, er steckt in einer "harten und ernsten Untergangsarbeit". Als er losgeht, empfindet er zum ersten Mal so etwas Altmodisches wie Glück, durch das Gehen "geht" es ihm besser.
Es wird viel zitiert in diesem Buch, darüber werden manche die Nase rümpfen. Ja, Espedal hält sich an (längst verstorbene) Geistesverwandte, doch angeberhaft ist seine Belesenheit nicht, denn wie das Gehen die Wanderung durch die Welt ist, ist das Lesen die Wanderung durch die Weltliteratur. Mit diesen Vorgängern kann er seine Gespräche führen. Nur mit ihnen kann er der andere sein, der er sein will. Er spricht mit dem überzeugten Spaziergänger und Theoretiker des Gehens Jean-Jacques Rousseau. Er stellt den Einzelgänger Erik Satie vor, der fast täglich von seiner ärmlichen Wohnung in Arceuil zu den Kneipen von Montmartre wandert, zwölf Kilometer, die seine Musik beeinflussen.
Vom Amerikaner Henry David Thoreau lernt er, dass man schon frei sein muss, ehe man überhaupt auf Reisen gehen darf. Und beim englischen Essayisten William Hazlitt findet er den Satz: "Ich bin niemals weniger allein, als wenn ich allein bin", gibt dann aber zu bedenken, dass man gerade als einsamer Wanderer das Gefühl der Freiheit verlieren kann, weil man sich heikel erscheinende Wege vorsichtshalber verbietet. Und dann verweist er auf Bruce Chatwin, der in "Traumpfade" schrieb, das englische "travel" und das französische "travail" hätten denselben Stamm: Arbeit. Dabei stammen beide Wörter sogar vom lateinischen "trepalium", einem Folterinstrument! Endlich hat unser norwegischer Müßiggänger einen Beruf gefunden: Wandersmann.
Ein einziges Mal erlebt Espedal, dass es möglich ist, auch im realen Leben ein anderer zu werden, es ist eine zentrale, vielleicht die schönste Passage dieses schönen Buches. Eine Geschichte aus Paris, sie ist wahr und doch eine Geschichte, ihre Wucht und Suggestion, Spannung und Zärtlichkeit sind umwerfend, da verwandelt er sich - und mit ihm das Mädchen, mit dem er zusammen ist, es geschieht durch einen Rausch bei klarem Verstand, nie hat man so ein schönes (und nicht kafkaeskes) Verwandlungsszenario gelesen. In diesem Buch ist der alte Traum, ein neuer Mensch zu werden, immer da und immer gefährdet. Das wilde Leben ist für Espedal gleichbedeutend mit einem poetischen Leben; er verbindet reflexive und kritische mit epischen und autobiographischen Passagen. "Gehen" ist ein offenes Kunstwerk im Schlegelschen Sinne. In dieser essayistisch-erzählerischen Darstellung des Gehens wird das Leben selbst zu einem Essay, einem Versuch.
PETER URBAN-HALLE
Tomas Espedal: "Gehen oder Die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen".
Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Matthes & Seitz, Berlin 2011. 240 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tomas Espedal träumt von besseren Menschen
Tomas Espedal wurde 1961 in Bergen geboren und debütierte 1988 mit dem Roman "Eine wilde Flucht vor dem Parfüm". Das "Wilde" scheint ihm unabdingbar für eine echte und wahre Existenz zu sein. Das vorliegende Buch, sein erstes auf Deutsch, handelt vom Gehen als Voraussetzung für ein "wildes" Leben. Sein Held, er selbst, sehnt sich danach, "eines Tages zur Tür hinauszugehen und nicht wiederzukehren". Er verlässt Frau und Kind. Sein Traum: Er will ein anderer werden. Sein Albtraum: sich selbst zu begegnen.
Die Furcht ist berechtigt, denn dieses Selbst will ihn zerstören, Espedal steckt in einer tiefen Depression, die Ehe kriselt, er trinkt, er steckt in einer "harten und ernsten Untergangsarbeit". Als er losgeht, empfindet er zum ersten Mal so etwas Altmodisches wie Glück, durch das Gehen "geht" es ihm besser.
Es wird viel zitiert in diesem Buch, darüber werden manche die Nase rümpfen. Ja, Espedal hält sich an (längst verstorbene) Geistesverwandte, doch angeberhaft ist seine Belesenheit nicht, denn wie das Gehen die Wanderung durch die Welt ist, ist das Lesen die Wanderung durch die Weltliteratur. Mit diesen Vorgängern kann er seine Gespräche führen. Nur mit ihnen kann er der andere sein, der er sein will. Er spricht mit dem überzeugten Spaziergänger und Theoretiker des Gehens Jean-Jacques Rousseau. Er stellt den Einzelgänger Erik Satie vor, der fast täglich von seiner ärmlichen Wohnung in Arceuil zu den Kneipen von Montmartre wandert, zwölf Kilometer, die seine Musik beeinflussen.
Vom Amerikaner Henry David Thoreau lernt er, dass man schon frei sein muss, ehe man überhaupt auf Reisen gehen darf. Und beim englischen Essayisten William Hazlitt findet er den Satz: "Ich bin niemals weniger allein, als wenn ich allein bin", gibt dann aber zu bedenken, dass man gerade als einsamer Wanderer das Gefühl der Freiheit verlieren kann, weil man sich heikel erscheinende Wege vorsichtshalber verbietet. Und dann verweist er auf Bruce Chatwin, der in "Traumpfade" schrieb, das englische "travel" und das französische "travail" hätten denselben Stamm: Arbeit. Dabei stammen beide Wörter sogar vom lateinischen "trepalium", einem Folterinstrument! Endlich hat unser norwegischer Müßiggänger einen Beruf gefunden: Wandersmann.
Ein einziges Mal erlebt Espedal, dass es möglich ist, auch im realen Leben ein anderer zu werden, es ist eine zentrale, vielleicht die schönste Passage dieses schönen Buches. Eine Geschichte aus Paris, sie ist wahr und doch eine Geschichte, ihre Wucht und Suggestion, Spannung und Zärtlichkeit sind umwerfend, da verwandelt er sich - und mit ihm das Mädchen, mit dem er zusammen ist, es geschieht durch einen Rausch bei klarem Verstand, nie hat man so ein schönes (und nicht kafkaeskes) Verwandlungsszenario gelesen. In diesem Buch ist der alte Traum, ein neuer Mensch zu werden, immer da und immer gefährdet. Das wilde Leben ist für Espedal gleichbedeutend mit einem poetischen Leben; er verbindet reflexive und kritische mit epischen und autobiographischen Passagen. "Gehen" ist ein offenes Kunstwerk im Schlegelschen Sinne. In dieser essayistisch-erzählerischen Darstellung des Gehens wird das Leben selbst zu einem Essay, einem Versuch.
PETER URBAN-HALLE
Tomas Espedal: "Gehen oder Die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen".
Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Matthes & Seitz, Berlin 2011. 240 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Und los geht's. Der Autor nimmt seinen Leser huckepack, und Andreas Breitenstein sieht dem Aussteiger mit Amex im Gepäck nur allzu gerne über die Schulter. Wie bei Handke oder Ransmayr lockt ihn hier das Versprechen im Abseitigen, im Kleinen, Fremden das Eigentliche zu entdecken: Sex, Revolution? Daneben sind es die Dichter und Denker, die Tomas Espedal unterwegs aufruft, Rilke, Dylan Thomas, die Breitenstein glücklich machen. Beim Gehen und vor lauter Begeisterung für diesen Roman, Reisebericht, Essay, Daseinsbrevier vergisst der Rezensent allerdings nicht zu fragen, was eigentlich der Grund für die Reise ist, die den Autor immerhin bis nach Griechenland und in die Türkei führt, mit glasklarer Sprache und beschwingt den Leser mitnehmend. Breitenstein kann es sich nur vorstellen: Übermut oder Überdruss. Etwas Widersprüchliches wohnt diesem Gang inne, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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