Die Evolution und ihre Theorie benötigen ein neues Drehbuch. Zufall, strukturelle Zwänge und das Treiben "egoistischer Gene" erklären nicht alles. Das Auftreten des menschlichen Gehirns auf der Bühne der Evolution stellt eine Zäsur dar. Seitdem haben das Stück und seine Inszenierung entscheidende Dimensionen hinzugewonnen.
Die Evolution des Menschen vollzog sich zwar auf genetischer Grundlage, läßt sich aber dadurch allein nicht hinreichend erklären. Erbgut und Gehirn trugen und tragen auf je eigene, durchaus konkurrierende Weise zur Dynamik des evolutionären Geschehens bei. Schon in ihren zeitlichen Dimensionen unterscheiden sie sich gewaltig. Der Beitrag des Genoms zur Evolution wird in Tausenden bis Millionen von Jahren oder in Hunderten bis Tausenden von Generationen gemessen, der Beitrag des Gehirns jedoch in Minuten, Tagen, Jahren bzw. in einer einzigen Generation. Das Menschengehirn ist in der Lage, aus seinen Auseinandersetzungen mit der Umwelt etwas ganz anderes zu machen als die Erbanlagen. Die Mehrzahl seiner Hervorbringungen sind autonome Leistungen, für die das Genom keine Anweisungen parat hat. Der international renommierte Evolutionsbiologe Wolfgang Wieser zeichnet ein neues, revolutionäres Bild der Evolution, in der neben dem "egoistischen Gen" das Gehirn die zweite Hauptrolle spielt und es auch auf die Vererbung erworbener Eigenschaften ankommt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die Evolution des Menschen vollzog sich zwar auf genetischer Grundlage, läßt sich aber dadurch allein nicht hinreichend erklären. Erbgut und Gehirn trugen und tragen auf je eigene, durchaus konkurrierende Weise zur Dynamik des evolutionären Geschehens bei. Schon in ihren zeitlichen Dimensionen unterscheiden sie sich gewaltig. Der Beitrag des Genoms zur Evolution wird in Tausenden bis Millionen von Jahren oder in Hunderten bis Tausenden von Generationen gemessen, der Beitrag des Gehirns jedoch in Minuten, Tagen, Jahren bzw. in einer einzigen Generation. Das Menschengehirn ist in der Lage, aus seinen Auseinandersetzungen mit der Umwelt etwas ganz anderes zu machen als die Erbanlagen. Die Mehrzahl seiner Hervorbringungen sind autonome Leistungen, für die das Genom keine Anweisungen parat hat. Der international renommierte Evolutionsbiologe Wolfgang Wieser zeichnet ein neues, revolutionäres Bild der Evolution, in der neben dem "egoistischen Gen" das Gehirn die zweite Hauptrolle spielt und es auch auf die Vererbung erworbener Eigenschaften ankommt.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.06.2008Was kann eine Zelle wollen
Wolfgang Wieser entwirft ein neues Drehbuch der Evolution
Noch nicht lange ist es her, da schien das Geheimnis des Menschen gelüftet zu sein. Hatte man nicht in Rekordzeit sein Erbgut entschlüsselt und damit das Rezept in der Hand, nach dem ein jeder Mensch gemacht wird? Das schon; aber es erwies sich, dass zwischen dem Rezept und dem Servieren des fertigen Mahls eine riesige Lücke klafft; dass hier nämlich auch die Zutaten, die Küche und der Koch eine entscheidende Rolle spielen.
Diese Lücke will der Innsbrucker Zoologe Wolfgang Wieser schließen helfen. Es sei an der Zeit, meint er, ein „neues Drehbuch für die Evolution” zu verfassen. Ein solches „Drehbuch”, wenn man bei dieser etwas legeren Formulierung des Untertitels bleiben will, müsste über den engen und strengen Horizont von Darwins Theorie hinausblicken und zu einem umfassenderen Bild dessen gelangen, was im Reich des Lebendigen Veränderung bedingt. Die drei zentralen Größen der Selektion (wer nicht taugt, stirbt oder hat zumindest geringeren Fortpflanzungserfolg), der Stabilität (das Erbgut wird von Generation zu Generation weitergegeben) und der Mutation (gelegentlich treten dennoch zufällige Veränderungen im Erbgut auf, die sich kumulieren) bedürften einer konstruktiven Erweiterung, die die höchst komplexen Vorgänge in der Entwicklung des Individuums und der Gruppen berücksichtigt.
Tatsächlich hat die jüngere Forschung sehr viele Dinge gefunden, die sie mit Darwin allein nicht erklären kann. Zum einen wusste Darwin noch so gut wie nichts von den Mikroben. Auf sie lässt sich der traditionelle Begriff der Spezies nicht anwenden, da zwischen ihnen ein Prozess der „horizontalen Weitergabe” stattfindet, das heißt sie paaren sich nicht, um modifizierte Nachkommen zu erzeugen (das wäre die „vertikale Weitergabe”), sondern tauschen zu Lebzeiten Teile des Genoms aus, sterben prinzipiell nie und ändern sich unaufhörlich. Hier hält das Individuum nicht still, was nach Darwin die Voraussetzung dafür wäre, dass die Selektion ansetzen kann.
Zum anderen beginnt man allmählich doch die Vorgänge der Epigenese zu verstehen, durch die aus einer befruchteten Eizelle ein komplettes Lebewesen hervorgeht. Der erblichen Matrix scheint hierbei eine geringere Rolle zuzufallen, als man bislang glaubte. Sehr viel hängt davon ab, welche Gene wann ein- und ausgeschaltet werden; außerdem kommt es in großem Umfang zum „Spleißen”, der freien Rekombination von Stücken der DNS, die offenbar gemischt werden kann wie ein Kartenspiel – die Karten bleiben konstant, aber die „Hand”, die man kriegt, ist in jedem Spiel eine andere. Wie wäre es ohne die außerordentlich verwickelte Steuerung dieser Vorgänge auch möglich, fragt Wieser, dass bei nur 25 000 menschlichen Genen dennoch ein Gehirn mit 100 Milliarden Nervenzellen entsteht, die untereinander viele Billionen Verbindungen eingehen? Das kann nicht alles nach Blaupause laufen, da sind Entscheidungen vor Ort gefragt.
Und natürlich wird eine grundlegend neue Qualität erreicht, sobald das Großhirn als Steuerungsorgan entsteht, speziell beim Menschen: Es befähigt ihn, den Prozess der Veränderung, der sonst Tausende, wenn nicht Millionen von Generationen benötigt, ungemein zu beschleunigen. Wieser sieht in der Erfindung der kulturellen Kommunikation gewissermaßen die Rückkehr der horizontalen Weitergabe, wie die Mikroben sie pflegen.
Die Veränderung der Lebewesen erfolgt also durchaus gezielt, eine Aussage, die dem klassischen Darwinismus wie ein ketzerischer Rückfall in den überwundenen Lamarckismus erscheinen muss – was Wieser vehement bestreitet. Lamarck hatte angenommen, erworbene Eigenschaften und Gewohnheiten würden direkt vererbt – der berühmte Fall der Giraffe, deren Hals länger wird, damit sie an die Blätter hoch droben herankommt. Ein solches „Damit” gilt harten Wissenschaftlern als verpönt, das wäre Teleologie, um nicht zu sagen Theologie!
Wieser beabsichtigt, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Eingestandenermaßen will er die reichen neuen Befunde der Biologie in ein größeres theoretisches Gebäude integrieren. Uneingestanden jedoch versucht er, die furchtbare Last der Unwahrscheinlichkeit, unter der die Evolutionstheorie ächzt, seit es sie gibt, zu verringern. Wie soll aus der Sinnlosigkeit der Mutation das frappierend Zweckmäßige hervorgegangen sein, durch das sich Lebewesen nun einmal auszeichnen – aus einer Serie von Unfällen der neue Fahrzeugtyp sozusagen? Wiesers Antwort lautet, es handle sich bei den Figuren der Variation eben doch nicht bloß um lauter blind streuende Schrapnellsplitter, sondern es gebe auch den wohlbedachten Schuss mit einer einzigen Kugel. Das scheint auch zu stimmen, es kommen immer komplexere Lenkungsvorgänge ans Licht, mit denen das Lebendige an den Kreuzungsstellen autonom seine Bahn bestimmt.
Aber das ist keine Lösung, das ist das Problem. Soll die Evolutionstheorie in Geltung bleiben, muss sie dartun, wie solche gleichsam intelligenten Prozesse entstehen konnten. Es muss nach wie vor der blinde Zufall gewesen sein, aus dem das höchst Unzufällige entsprang! Wie das gehen soll, ist dunkler denn je.
Wieser liefert eine Fundgrube neueren biologischen Wissens, und um dessentwillen lohnt sich die Lektüre des Buchs; aber diese Schwierigkeit geht er nicht an. Er postuliert ein großes „DEVO-EVO”-Modell, in dem Darwin um die Erkenntnisse der modernen Zellforschung, Genetik, Neurologie und Biochemie ergänzt werden würde. Das aber legt er keineswegs vor. Stattdessen verwischt er in seinem Bemühen um die Synthese die Grenze zwischen dem planhaften Aufbau eines Embryos aus den Keimzellen und die ungeplante Plastizität, mit der neue aus alten Arten entstehen; er leistet der Verunklärung der Vokabeln „Evolution” und „Entwicklung” Vorschub, als wären beide so ungefähr dasselbe.
Es sind immer wieder dieselben intellektuellen Fehlstellen, auf die man in derartigen Büchern trifft. Passen sie nur einen Augenblick nicht auf, sprechen sie sofort von den „Strategien” des Lebens, was in ihren eigenen Augen doch eine teleologische Todsünde bedeuten muss. Auch die „Selbstorganisation” darf nicht fehlen, ein Wort, das sich in den Schwanz beißt, denn was wäre das Selbst wenn nicht eben jenes Gebilde, das über die bemerkenswerte Gabe verfügt, sich aus seinem Inneren heraus zu organisieren, „selbst” eben? Ein Ausruf des Erstaunens ist es, und soll durchgehen als Erklärung. Oder es findet sich der Satz: „Die Zelllinien des Embryos konkurrieren um den Zugang in die Keimbahn, denn ein Erfolg in diesem Spiel verheißt potentielle Unsterblichkeit.”
Man fasse einmal scharf ins Auge, was diesem „Denn” zugemutet wird. Es setzt voraus, dass eine „Zelllinie”, also ein Etwas, das sich äußerst schwach von den sehr viel deutlicheren Einheiten der kleineren Zelle und des größeren Individuums abhebt, ein mit Vernunft und Wille begabtes Wesen eigenen Rechts sei, welches genau zuzuhören vermag, wenn ihm etwas „verheißen” wird, und dann entsprechend handelt. Wieser würde natürlich erwidern, so habe er es nicht gemeint. Doch wie meint er es dann? Er kann auf diese gefährlich wackelnde Brücke nachlässig uneigentlichen Sprechens nicht verzichten, wenn er über den Abgrund des Widerspruchs in seiner Theorie hinweg, wenn er vom Strand des subjekt- und planlosen kosmischen Zufalls an das Ufer des geheimnisvoll seinen Sinn in sich tragenden Einzelwesens gelangen will.
Und zuletzt versucht er den Griff, der sich der menschlichen Kulturentwicklung als einer Sonderform der Evolution bemeistert. Das geht nur, wenn man alle Termini der Evolutionstheorie endgültig dermaßen überanstrengt, dass sie ausleiern oder reißen und ihren explikatorischen Gehalt weitgehend verlieren. Das, so scheint es, ist das Schicksal der großen Theorien wie der großen Reiche: Im Übermut neigen sie zum „imperial overreach”, brechen eroberungslustig in fremde Räume ein und erleiden dort, an ihrem Rand, eine Niederlage, die zurückwirkt bis in ihr Herz. BURKHARD MÜLLER
WOLFGANG WIESER: Gehirn und Genom. Ein neues Drehbuch für die Evolution. Verlag C. H. Beck, München 2007. 285 Seiten, 22,90 Euro.
Entsteht aus einer Unfallserie der neue Fahrzeugtyp?
Große Theorien neigen wie große Reiche zum Übermut
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Wolfgang Wieser entwirft ein neues Drehbuch der Evolution
Noch nicht lange ist es her, da schien das Geheimnis des Menschen gelüftet zu sein. Hatte man nicht in Rekordzeit sein Erbgut entschlüsselt und damit das Rezept in der Hand, nach dem ein jeder Mensch gemacht wird? Das schon; aber es erwies sich, dass zwischen dem Rezept und dem Servieren des fertigen Mahls eine riesige Lücke klafft; dass hier nämlich auch die Zutaten, die Küche und der Koch eine entscheidende Rolle spielen.
Diese Lücke will der Innsbrucker Zoologe Wolfgang Wieser schließen helfen. Es sei an der Zeit, meint er, ein „neues Drehbuch für die Evolution” zu verfassen. Ein solches „Drehbuch”, wenn man bei dieser etwas legeren Formulierung des Untertitels bleiben will, müsste über den engen und strengen Horizont von Darwins Theorie hinausblicken und zu einem umfassenderen Bild dessen gelangen, was im Reich des Lebendigen Veränderung bedingt. Die drei zentralen Größen der Selektion (wer nicht taugt, stirbt oder hat zumindest geringeren Fortpflanzungserfolg), der Stabilität (das Erbgut wird von Generation zu Generation weitergegeben) und der Mutation (gelegentlich treten dennoch zufällige Veränderungen im Erbgut auf, die sich kumulieren) bedürften einer konstruktiven Erweiterung, die die höchst komplexen Vorgänge in der Entwicklung des Individuums und der Gruppen berücksichtigt.
Tatsächlich hat die jüngere Forschung sehr viele Dinge gefunden, die sie mit Darwin allein nicht erklären kann. Zum einen wusste Darwin noch so gut wie nichts von den Mikroben. Auf sie lässt sich der traditionelle Begriff der Spezies nicht anwenden, da zwischen ihnen ein Prozess der „horizontalen Weitergabe” stattfindet, das heißt sie paaren sich nicht, um modifizierte Nachkommen zu erzeugen (das wäre die „vertikale Weitergabe”), sondern tauschen zu Lebzeiten Teile des Genoms aus, sterben prinzipiell nie und ändern sich unaufhörlich. Hier hält das Individuum nicht still, was nach Darwin die Voraussetzung dafür wäre, dass die Selektion ansetzen kann.
Zum anderen beginnt man allmählich doch die Vorgänge der Epigenese zu verstehen, durch die aus einer befruchteten Eizelle ein komplettes Lebewesen hervorgeht. Der erblichen Matrix scheint hierbei eine geringere Rolle zuzufallen, als man bislang glaubte. Sehr viel hängt davon ab, welche Gene wann ein- und ausgeschaltet werden; außerdem kommt es in großem Umfang zum „Spleißen”, der freien Rekombination von Stücken der DNS, die offenbar gemischt werden kann wie ein Kartenspiel – die Karten bleiben konstant, aber die „Hand”, die man kriegt, ist in jedem Spiel eine andere. Wie wäre es ohne die außerordentlich verwickelte Steuerung dieser Vorgänge auch möglich, fragt Wieser, dass bei nur 25 000 menschlichen Genen dennoch ein Gehirn mit 100 Milliarden Nervenzellen entsteht, die untereinander viele Billionen Verbindungen eingehen? Das kann nicht alles nach Blaupause laufen, da sind Entscheidungen vor Ort gefragt.
Und natürlich wird eine grundlegend neue Qualität erreicht, sobald das Großhirn als Steuerungsorgan entsteht, speziell beim Menschen: Es befähigt ihn, den Prozess der Veränderung, der sonst Tausende, wenn nicht Millionen von Generationen benötigt, ungemein zu beschleunigen. Wieser sieht in der Erfindung der kulturellen Kommunikation gewissermaßen die Rückkehr der horizontalen Weitergabe, wie die Mikroben sie pflegen.
Die Veränderung der Lebewesen erfolgt also durchaus gezielt, eine Aussage, die dem klassischen Darwinismus wie ein ketzerischer Rückfall in den überwundenen Lamarckismus erscheinen muss – was Wieser vehement bestreitet. Lamarck hatte angenommen, erworbene Eigenschaften und Gewohnheiten würden direkt vererbt – der berühmte Fall der Giraffe, deren Hals länger wird, damit sie an die Blätter hoch droben herankommt. Ein solches „Damit” gilt harten Wissenschaftlern als verpönt, das wäre Teleologie, um nicht zu sagen Theologie!
Wieser beabsichtigt, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Eingestandenermaßen will er die reichen neuen Befunde der Biologie in ein größeres theoretisches Gebäude integrieren. Uneingestanden jedoch versucht er, die furchtbare Last der Unwahrscheinlichkeit, unter der die Evolutionstheorie ächzt, seit es sie gibt, zu verringern. Wie soll aus der Sinnlosigkeit der Mutation das frappierend Zweckmäßige hervorgegangen sein, durch das sich Lebewesen nun einmal auszeichnen – aus einer Serie von Unfällen der neue Fahrzeugtyp sozusagen? Wiesers Antwort lautet, es handle sich bei den Figuren der Variation eben doch nicht bloß um lauter blind streuende Schrapnellsplitter, sondern es gebe auch den wohlbedachten Schuss mit einer einzigen Kugel. Das scheint auch zu stimmen, es kommen immer komplexere Lenkungsvorgänge ans Licht, mit denen das Lebendige an den Kreuzungsstellen autonom seine Bahn bestimmt.
Aber das ist keine Lösung, das ist das Problem. Soll die Evolutionstheorie in Geltung bleiben, muss sie dartun, wie solche gleichsam intelligenten Prozesse entstehen konnten. Es muss nach wie vor der blinde Zufall gewesen sein, aus dem das höchst Unzufällige entsprang! Wie das gehen soll, ist dunkler denn je.
Wieser liefert eine Fundgrube neueren biologischen Wissens, und um dessentwillen lohnt sich die Lektüre des Buchs; aber diese Schwierigkeit geht er nicht an. Er postuliert ein großes „DEVO-EVO”-Modell, in dem Darwin um die Erkenntnisse der modernen Zellforschung, Genetik, Neurologie und Biochemie ergänzt werden würde. Das aber legt er keineswegs vor. Stattdessen verwischt er in seinem Bemühen um die Synthese die Grenze zwischen dem planhaften Aufbau eines Embryos aus den Keimzellen und die ungeplante Plastizität, mit der neue aus alten Arten entstehen; er leistet der Verunklärung der Vokabeln „Evolution” und „Entwicklung” Vorschub, als wären beide so ungefähr dasselbe.
Es sind immer wieder dieselben intellektuellen Fehlstellen, auf die man in derartigen Büchern trifft. Passen sie nur einen Augenblick nicht auf, sprechen sie sofort von den „Strategien” des Lebens, was in ihren eigenen Augen doch eine teleologische Todsünde bedeuten muss. Auch die „Selbstorganisation” darf nicht fehlen, ein Wort, das sich in den Schwanz beißt, denn was wäre das Selbst wenn nicht eben jenes Gebilde, das über die bemerkenswerte Gabe verfügt, sich aus seinem Inneren heraus zu organisieren, „selbst” eben? Ein Ausruf des Erstaunens ist es, und soll durchgehen als Erklärung. Oder es findet sich der Satz: „Die Zelllinien des Embryos konkurrieren um den Zugang in die Keimbahn, denn ein Erfolg in diesem Spiel verheißt potentielle Unsterblichkeit.”
Man fasse einmal scharf ins Auge, was diesem „Denn” zugemutet wird. Es setzt voraus, dass eine „Zelllinie”, also ein Etwas, das sich äußerst schwach von den sehr viel deutlicheren Einheiten der kleineren Zelle und des größeren Individuums abhebt, ein mit Vernunft und Wille begabtes Wesen eigenen Rechts sei, welches genau zuzuhören vermag, wenn ihm etwas „verheißen” wird, und dann entsprechend handelt. Wieser würde natürlich erwidern, so habe er es nicht gemeint. Doch wie meint er es dann? Er kann auf diese gefährlich wackelnde Brücke nachlässig uneigentlichen Sprechens nicht verzichten, wenn er über den Abgrund des Widerspruchs in seiner Theorie hinweg, wenn er vom Strand des subjekt- und planlosen kosmischen Zufalls an das Ufer des geheimnisvoll seinen Sinn in sich tragenden Einzelwesens gelangen will.
Und zuletzt versucht er den Griff, der sich der menschlichen Kulturentwicklung als einer Sonderform der Evolution bemeistert. Das geht nur, wenn man alle Termini der Evolutionstheorie endgültig dermaßen überanstrengt, dass sie ausleiern oder reißen und ihren explikatorischen Gehalt weitgehend verlieren. Das, so scheint es, ist das Schicksal der großen Theorien wie der großen Reiche: Im Übermut neigen sie zum „imperial overreach”, brechen eroberungslustig in fremde Räume ein und erleiden dort, an ihrem Rand, eine Niederlage, die zurückwirkt bis in ihr Herz. BURKHARD MÜLLER
WOLFGANG WIESER: Gehirn und Genom. Ein neues Drehbuch für die Evolution. Verlag C. H. Beck, München 2007. 285 Seiten, 22,90 Euro.
Entsteht aus einer Unfallserie der neue Fahrzeugtyp?
Große Theorien neigen wie große Reiche zum Übermut
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
In einem sehr dichten Überblick über neue Bücher zur Evolution und dem Selbstverständnis des Menschen erwähnt Rezensent Helmut Mayer auch das Buch "Gehirn und Genom" des Evolutionsbiologen Wolfgang Wieser. Wie Mayer darlegt, der Autor darin den in der Evolutionsbiogie zunehmend beachteten Ansatz, nicht nur die Phylogenese zu betrachten, sondern auch die individuelle Entwicklung der Organismen. Allerdings räumt der Rezensent ein, dass dieser Ansatz bisher mehr Fragen stelle als Antworten liefere, doch Wiesers "recht grundsätzliche Überlegungen" haben ihm immerhin eine Vorstellung von den "komplexen Wechselwirkungen und evolvierenden Regelkreisen" gegeben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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