Zusammengepfercht stehen die Menschen in verriegelten Waggons, die am Bahnsteig auf die Abfahrt warten. Es geht ins Verderben - das ahnen längst alle. Plötzlich hält ein Mann sein Instrument durch eine Luke nach draußen und ruft einem Passanten zu: "Nehmen Sie die Geige! Ich werde ohnehin nie mehr spielen." Zwei Hände greifen in letzter Minute danach, ehe sich der Deportationszug in Bewegung setzt.Fast 40 Jahre später beugt sich Amnon Weinstein über eine zerkratzte und verfärbte Geige. Mühsam restauriert der Geigenbauer das ramponierte Instrument. Über 60 Geigen hat Amnon Weinstein im Lauf der Jahre aufgespürt und wieder zum Klingen gebracht. Diese "Violins of Hope" werden heute in den größten Konzertsälen der Welt gespielt - und erinnern daran, dass wir das Leid der Opfer nie vergessen dürfen.Für Recherchen zum Buch war Journalistin Christa Roth mehrfach bei Amnon Weinstein in Tel Aviv zu Gast.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2017Sie werden weiter gespielt
Klingende Zeugen des Holocaust: Zwei Bücher berichten von der Rettung der Streichinstrumente ermordeter Juden
Amnon Weinstein hat in seiner Werkstatt in Tel Aviv viele Geigen gebaut und repariert. Früh hatte er das Handwerk von seinem Vater Moshe gelernt. Der war 1938 mit seiner Frau Golda aus dem damals polnischen Vilnius in das britische Mandatsgebiet Palästina geflohen. Der Vater reparierte nicht nur, er sammelte auch: alte Geigen, die er in einem Schrank verstaute und über die er nie sprach. Geigen, die Juden gehört hatten, die in Konzentrationslagern gespielt wurden. Manchem hat die Geige im Lager das Leben gerettet, wo die nationalsozialistischen Peiniger Häftlinge in Orchestern spielen ließen.
Nie öffnete Moshe Weinstein den Schrank, auch sein 1939 in Tel Aviv geborener Sohn tat es lange nicht. Bis ihm 1992 Daniel Schmidt, ein Bogenbaumeister aus Dresden, viele Fragen zu diesen Geigen stellte und nicht lockerließ. Erst jetzt war Amnon Weinstein bereit, die Geschichte nicht länger zu verdrängen.
Weinstein begann, sich mit der Geschichte der Geigen zu beschäftigen und sie zu restaurieren. Meist waren die Instrumente aus den Lagern und Gettos in fast hoffnungslosem Zustand. Weinstein suchte weitere Geigen, die während der Judenverfolgung von jüdischen Musikern gespielt worden waren. So wuchs die Sammlung auf sechsundsechzig Geigen. Eine, die des jungen Mordechai "Motele" Schlein, der als Zwölfjähriger mitansehen musste, wie seine Eltern getötet wurden, liegt heute in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Die Geigen erklangen erstmals wieder 2006 in Istanbul, dann zwei Jahre später in Jerusalem vor der Klagemauer. Seither fanden Konzerte an vielen Orten statt - in der Synagoge von Worms, im Konzerthaus von Cleveland, in Paris und Madrid, in London und Rom. Vor zwei Jahren, am siebzigsten Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, erklangen die Geigen in Berlin: Israelische und deutsche Musiker spielten sie unter Leitung von Simon Rattle in der Berliner Philharmonie. Dazu hatte der israelische Pianist Ohad Ben-Ari das Stück "Violinen der Hoffnung" komponiert. Titus Müller und Christa Roth erzählen diese Geschichte und die Geschichte des Amnon Weinstein in ihrem Buch.
Der amerikanische Musikwissenschaftler James A. Grymes verfolgt einen anderen Ansatz. Akribisch hat er die Geschichte einzelner Geigen in Weinsteins Sammlung erforscht. Er erzählt, wie das Palestine Orchestra entstanden ist, das heute Israel Philharmonic Orchestra heißt. Gegründet hat es der polnische Geiger Bronislaw Huberman, der so jüdischen Musikern aus Europa das Leben rettete. Grymes' Buch ist mehr als nur die Geschichte individueller Schicksale. Wer das Buch liest, hat immer auch die Ermordung der Juden im Blick.
Grymes schildert etwa, wie Erich Weininger von Wien über Dachau, Buchenwald, Bratislawa und Mauritius nach vielen Jahren endlich nach Palästina kam - mit seiner Geige. Anhand des Schicksals des Dresdner Geigenvirtuosen Henry Meyer erzählt Grymes die wahnwitzige Geschichte des Orchesters im Konzentrationslager Auschwitz. Im Februar 2018 werden die Geigen, die Amnon Weinstein gesammelt und restauriert hat, in der KZ-Gedenkstätte Dachau zu hören sein.
RAINER HERMANN
Titus Müller und Christa Roth: "Geigen der Hoffnung". Damit
ihr Lied nie verklingt.
Adeo Verlag, Asslar 2016. 208 S., Abb., geb., 17,99 [Euro].
James A. Grymes: "Die Geigen des Amnon Weinstein".
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Reuß. Open House Verlag, Leipzig 2017. 287 S., Abb., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klingende Zeugen des Holocaust: Zwei Bücher berichten von der Rettung der Streichinstrumente ermordeter Juden
Amnon Weinstein hat in seiner Werkstatt in Tel Aviv viele Geigen gebaut und repariert. Früh hatte er das Handwerk von seinem Vater Moshe gelernt. Der war 1938 mit seiner Frau Golda aus dem damals polnischen Vilnius in das britische Mandatsgebiet Palästina geflohen. Der Vater reparierte nicht nur, er sammelte auch: alte Geigen, die er in einem Schrank verstaute und über die er nie sprach. Geigen, die Juden gehört hatten, die in Konzentrationslagern gespielt wurden. Manchem hat die Geige im Lager das Leben gerettet, wo die nationalsozialistischen Peiniger Häftlinge in Orchestern spielen ließen.
Nie öffnete Moshe Weinstein den Schrank, auch sein 1939 in Tel Aviv geborener Sohn tat es lange nicht. Bis ihm 1992 Daniel Schmidt, ein Bogenbaumeister aus Dresden, viele Fragen zu diesen Geigen stellte und nicht lockerließ. Erst jetzt war Amnon Weinstein bereit, die Geschichte nicht länger zu verdrängen.
Weinstein begann, sich mit der Geschichte der Geigen zu beschäftigen und sie zu restaurieren. Meist waren die Instrumente aus den Lagern und Gettos in fast hoffnungslosem Zustand. Weinstein suchte weitere Geigen, die während der Judenverfolgung von jüdischen Musikern gespielt worden waren. So wuchs die Sammlung auf sechsundsechzig Geigen. Eine, die des jungen Mordechai "Motele" Schlein, der als Zwölfjähriger mitansehen musste, wie seine Eltern getötet wurden, liegt heute in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Die Geigen erklangen erstmals wieder 2006 in Istanbul, dann zwei Jahre später in Jerusalem vor der Klagemauer. Seither fanden Konzerte an vielen Orten statt - in der Synagoge von Worms, im Konzerthaus von Cleveland, in Paris und Madrid, in London und Rom. Vor zwei Jahren, am siebzigsten Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, erklangen die Geigen in Berlin: Israelische und deutsche Musiker spielten sie unter Leitung von Simon Rattle in der Berliner Philharmonie. Dazu hatte der israelische Pianist Ohad Ben-Ari das Stück "Violinen der Hoffnung" komponiert. Titus Müller und Christa Roth erzählen diese Geschichte und die Geschichte des Amnon Weinstein in ihrem Buch.
Der amerikanische Musikwissenschaftler James A. Grymes verfolgt einen anderen Ansatz. Akribisch hat er die Geschichte einzelner Geigen in Weinsteins Sammlung erforscht. Er erzählt, wie das Palestine Orchestra entstanden ist, das heute Israel Philharmonic Orchestra heißt. Gegründet hat es der polnische Geiger Bronislaw Huberman, der so jüdischen Musikern aus Europa das Leben rettete. Grymes' Buch ist mehr als nur die Geschichte individueller Schicksale. Wer das Buch liest, hat immer auch die Ermordung der Juden im Blick.
Grymes schildert etwa, wie Erich Weininger von Wien über Dachau, Buchenwald, Bratislawa und Mauritius nach vielen Jahren endlich nach Palästina kam - mit seiner Geige. Anhand des Schicksals des Dresdner Geigenvirtuosen Henry Meyer erzählt Grymes die wahnwitzige Geschichte des Orchesters im Konzentrationslager Auschwitz. Im Februar 2018 werden die Geigen, die Amnon Weinstein gesammelt und restauriert hat, in der KZ-Gedenkstätte Dachau zu hören sein.
RAINER HERMANN
Titus Müller und Christa Roth: "Geigen der Hoffnung". Damit
ihr Lied nie verklingt.
Adeo Verlag, Asslar 2016. 208 S., Abb., geb., 17,99 [Euro].
James A. Grymes: "Die Geigen des Amnon Weinstein".
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Reuß. Open House Verlag, Leipzig 2017. 287 S., Abb., geb., 25,- [Euro].
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