»Seydack schreibt so unmittelbar, ehrlich und poetisch, dass man sich fühlt wie auf einer atemlosen Zeitreise von den 90ern bis in die Gegenwart.« Caroline Wahl
Kindheit in den 90ern. Lego, Nutellabrote und Samstagabend mit der Familie Wetten, dass..? Eine Idylle. Bis zum 11. September 2001. Dann Schweigeminuten in der Schule und die erste Liebe auf ICQ. Verkürztes Studium, unbezahlte Praktika, Berufsstart im Lockdown. Erst eine neue Rechte. Dann ein neuer Krieg. Zwischendurch Trichtersaufen. Es gilt: Je düsterer die Zukunft, desto knalliger die Klamotten. Willkommen im Leben der Millennials. Was für eine geile Zeit!
Die ersten Jahre leben die meisten Millennials noch im analogen Bullerbü der 90er. Saure Schnüre vom Dorfbäcker für 10 Pfennig. Dann folgt das jähe Erwachen. 9/11. Amokläufe an Schulen. Schweigeminuten. Trichtersaufen als gemeinsames Hobby. Ecstasy als Erziehung der Gefühle. Likes statt Liebesbriefe. Nach unzähligen Praktika endlich die erste Festanstellung. Und dann Lockdown. Statt zusammen mit neuen Kollegen, allein in einer winzigen Wohnung, die Mietpreise sind astronomisch. Zweimal leuchtet der Stern der Millennials auf: Lena gewinnt den Eurovision Song Contest. Mario Götze schießt Deutschland zum WM-Titel. Doch das Licht dieser vermeintlichen Ikonen verglüht schnell. Niclas Seydack erzählt warmherzig von einer kalten Zeit. Dauerkrise, digitaler Aufbruch und eine neue Sensibilität - während die Millennials erwachsen werden, ist die Welt mehrmals eine andere geworden. Nur Wetten, dass..? feiert noch ein Comeback.
»Wichtig, witzig, wehmütig. Gut.« Ronja von Rönne
»Ein Buch wie eine Flaschenpost aus einer anderen, schmerzhaft naiven Zeit. Ein bisschen unheimlich. Aber auch unheimlich gut.« Friedemann Karig
Kindheit in den 90ern. Lego, Nutellabrote und Samstagabend mit der Familie Wetten, dass..? Eine Idylle. Bis zum 11. September 2001. Dann Schweigeminuten in der Schule und die erste Liebe auf ICQ. Verkürztes Studium, unbezahlte Praktika, Berufsstart im Lockdown. Erst eine neue Rechte. Dann ein neuer Krieg. Zwischendurch Trichtersaufen. Es gilt: Je düsterer die Zukunft, desto knalliger die Klamotten. Willkommen im Leben der Millennials. Was für eine geile Zeit!
Die ersten Jahre leben die meisten Millennials noch im analogen Bullerbü der 90er. Saure Schnüre vom Dorfbäcker für 10 Pfennig. Dann folgt das jähe Erwachen. 9/11. Amokläufe an Schulen. Schweigeminuten. Trichtersaufen als gemeinsames Hobby. Ecstasy als Erziehung der Gefühle. Likes statt Liebesbriefe. Nach unzähligen Praktika endlich die erste Festanstellung. Und dann Lockdown. Statt zusammen mit neuen Kollegen, allein in einer winzigen Wohnung, die Mietpreise sind astronomisch. Zweimal leuchtet der Stern der Millennials auf: Lena gewinnt den Eurovision Song Contest. Mario Götze schießt Deutschland zum WM-Titel. Doch das Licht dieser vermeintlichen Ikonen verglüht schnell. Niclas Seydack erzählt warmherzig von einer kalten Zeit. Dauerkrise, digitaler Aufbruch und eine neue Sensibilität - während die Millennials erwachsen werden, ist die Welt mehrmals eine andere geworden. Nur Wetten, dass..? feiert noch ein Comeback.
»Wichtig, witzig, wehmütig. Gut.« Ronja von Rönne
»Ein Buch wie eine Flaschenpost aus einer anderen, schmerzhaft naiven Zeit. Ein bisschen unheimlich. Aber auch unheimlich gut.« Friedemann Karig
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als Nicht-Angehörige der Generation der Millenials blickt Kritikerin Katharina Teutsch auf das Buch, das der Journalist Niclas Seydack über diese und damit auch über sich geschrieben hat: Er ist 1990 geboren und zeichnet eine Jugend, die zentral durch das Aufkommen des Internets und in immer rasanterer Folge ablaufende Gewaltakte, von Terror bis Amok, geprägt ist. Die "geile Zeit", die sich diese Generation versprochen hatte, wird nicht eingelöst, zu viele weltpolitische Krisen gibt es, stellt Teutsch bei der Lektüre fest, die ihr zum Teil eher autobiografisch, zum anderen Teil "kohortenanalytisch" scheint. Ein Generationenporträt, das sie "mit Gewinn" liest.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.07.2024Welches „Wir“ soll das abbilden?
Niclas Seydack schreibt mit „Geile Zeit“ ein Porträt der sogenannten Millennials und geht dabei großzügig
von sich selbst aus. Mit dieser Art der Generationen-Diskussion muss endlich Schluss sein.
Eigentlich müsste diese Rezension in der Ich-Form verfasst sein, typisch Millennial halt, immer schreiben wir über uns und meinen eigentlich ich, ich, immer nur ich. Aber interessiert es jemanden, dass ich etwa so alt bin wie das wiedervereinigte Deutschland, geboren 1988, in einem mittleren Millennial-Jahrgang? Ein bisschen? Eher nicht? Tut mir leid, wir Millennials sind eben immer von uns selbst abgelenkt, wenn wir nicht gerade von unseren Handys abgelenkt sind. Wir sind wirklich ganz üble Klischees.
Wobei, nichts gegen Klischees, man kann damit eine Menge anstellen. Niclas Seydack, 1990 geboren, Autor, Journalist, Millennial, hat ein ganzes Buch daraus gemacht. In „Geile Zeit“, das er die „Autobiografie einer Generation“ nennt, schildert er sein Heranwachsen unter besonderer Berücksichtigung des geschichtlichen Hintergrundrauschens, von 9/11 bis zur Post-Corona-Rechtsruck-Gegenwart.
In seiner literarischen Form erfunden hat den Generationendiskurs Florian Illies, der sich 1998 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über eine VW-Anzeige für die „Generation Golf“ mokierte. Sie wirke, schrieb er, „als habe sie ein ratloser Werbetexter auf einen Zettel gekritzelt, irgendwann nachts, nach dem zwölften Prosecco“. Er nannte dann aber auch sein Buch so. Es erschien im Jahr 2000, darin spottete er über den langweiligen Konsumhunger der Menschen, die, wie er, in den Achtzigern jung gewesen waren, ihren dünnen Pop, ihre Barbour-Jacken, ihre ölige Harald-Schmidt-Weltironie. „Gottlob haben wir den Feminismus überwunden“, solche Sätze standen darin. Es war eine Arbeit am Klischee, mit den Mitteln des Klischees. Also: öligste Ironie.
Seydack dankt nun Illies im Nachwort „für die Geburtshilfe zu diesem Buch“. Wie damals blickt hier ein junger Mann um die dreißig zurück auf eine Jugend, die einem, kaum ist sie vorüber, plötzlich fremd wird – so als gehörten einem die eigenen, gerade überstandenen Träume und Leiden gar nicht exklusiv. Die Subjektivität verdampft, und zurückbleiben Erinnerungen an Medienereignisse. Geox, „der Schuh, der atmet“, taucht da auf, kurz nachdem die Flugzeuge in die Twin Towers geflogen waren. Auf RTL Zwei lief am 11. September 2001 während der Liveübertragung des Terroranschlags gleichzeitig „Dragonball Z“. Schweigeminute in der Schule, „ich wusste nicht, woran ich in der Stille denken sollte“. Mit Papas Diktiergerät Rülpser aufnehmen. Zappelphilipp-Diagnose vom Grundschullehrer. All-inclusive mit der Familie nach Antalya. Das Video von Voll-Assi-Toni („Die Figgerei, die macht misch wahnsinnig“). „TV Total“. Wok-WM. Rotten.com. Two Girls, One Cup. „Jiggy Siggi von den Jiggy Brothers“. Der EMP-Katalog. Rücksäcke von Eastpak. Das Fußball-Sommermärchen. Opas, die plötzlich über „Leitkultur“ sprechen.
„An was sollten diese neuen Geburtsdeutschen sich anpassen?“, fragt Seydack. „Mülltrennung und Autobahn? Unsere Skisprungadler? Loddar und Bobbele, Schumi und Ulle?“
Es sind die Details, an denen sich Identität befestigt. Viele von denen, die Seydack referiert, erkennt man wieder, genauer gesagt: Ich, der Rezensent, erkenne sie wieder, weil ich etwa gleich alt bin wie er, weil ich aus demselben liberalen, kartoffeldeutschen West-Mittelstandsmilieu stamme. Wer kriegt, wie im Buch geschildert, eine Benjamin-Blümchen-Torte zum dreißigsten Geburtstag – weil „wir“ angeblich so ironisch zum Leben stehen? Ich vielleicht. Niclas Seydack vielleicht. Wir beide haben sogar denselben Beruf, Seydack ist Journalist und hat, ausweislich seiner Danksagung, fast ausschließlich Journalistinnen und Journalisten zu ihren Jugenderinnerungen befragt. Was sich da bei ihm zum „Wir“ synthetisiert, dürfte, rein empirisch, ein verschwindend kleines Wir sein.
Umso mehr gilt das, je weiter seine Erzählung in der Zeit voranschreitet, das Ich differenziert sich im Verlauf der Identitätssuche der Jugend ja immer weiter aus. Dabei wandelt sich auch der Ton. Etwa ab Ende der Schulzeit kippen die konkreten Erinnerungen in der Ich-Form – etwa an den Schulamoklauf von Erfurt, an Elternwarnungen vor „Alkopops“ und so weiter – in Seufzer über Lebensumstände, in denen „wir“ angeblich gefangen sind. Manche der kollektiven Naherinnerungen klingen plötzlich ausgedacht. Abgeschrieben.
Da ist etwa der Chef, der auf einem Longboard ins „Headquarter“ fährt und nach erreichten „Milestones“ „eine lange weiße Bahn für jeden auf den Büroküchentresen“ legt, statt Überstunden zu bezahlen. Voll die neoliberale Ausbeute, ey. Klar, dass „wir“ das Drogenangebot vom Chef nicht ablehnen und auch nicht in der Gewerkschaft sind, selbstoptimierungsgeil, wie „wir“ sind, kennt man ja, weiß man ja. Oder kennt und weiß man das etwa doch nicht? Christians, die so reden, mag es geben, aber als Breitenphänomen tauchen sie wohl vor allem in schlechten Zeitungsartikeln auf. Es sind die Schreckgestalten der Moral Panic junger, aber nicht mehr ganz junger Medienmeinungsmacher, die glauben, ihr Standpunkt sei der einer „Generation“.
Gegen den Strich lässt sich das Buch als Selbstbekenntnis einer neuen Bürgerlichkeit lesen, die gerade dabei ist, wichtige Posten im Land zu übernehmen. Sie versteht sich, wie die von ihnen verachteten alten Boomer-Säcke, offenbar als Maßstab und Subjekt der Gesellschaft, als diejenigen, die „ich“ sagen und breitbeinig „wir alle“ damit meinen, voll ironisch und soft und tränenreich, aber doch. Eigentlich wissen „wir“ heute, dass die Gesellschaft in viele verschiedene Perspektiven zerfällt, dass es ein großes „Wir“ auch schon zur Zeit der „Generation Golf“ gar nicht wirklich gab und zumal heute nicht mehr gibt – nur ist das keineswegs die Folge kapitalistischer Entfremdungsmechaniken, wie das bei Seydack so jammervoll klingt. Sondern die Definition von Vielfalt. Der Versuch, all diese aufbrechenden Unterschiede zu nivellieren, sie plattzuwalzen durch die angeblich kollektiv gültige Erfahrungswelt einer „Generation“ – eine solche Konstruktion ist bestenfalls nostalgisch, schlimmstenfalls reaktionär.
Die Illusion einer Leitkultur kehrt also auf dem Longboard zurück in Gestalt einer großen Klage, artikuliert für die vermeintlich (wirklich?) erste Generation, für die das liberale Wachstumsversprechen, es gehe fortlaufend aufwärts, nicht mehr gelte. Für diese mit digitalem Unsinn Betäubten, schreibt Seydack, sei die nächste Lebenskrise stets „nur eine Eigenbedarfskündigung entfernt“.
Die Klage vereint einen Chor angeblich hoffnungslos vereinsamter Individuen durch Rekurs auf dieses „ganze total ironische Guilty-Pleasure-Selbstverhätscheln“ mit Kindheitsreminiszenzen, mit Benjamin Blümchen und Harry Potter, mit Mental-Health-Gedöns und diffus linkem Weltschmerz: „Wir hatten Jobs, manche sogar in Führungspositionen. Wir hatten das Internet, um uns zu vernetzen. Es war an der Zeit, alles anders zu machen. Nach der Pandemie. Das war doch ein guter Anfang für eine Geschichte, die wir mitschreiben würden. Das richtige Alter hatten wir mittlerweile. Wir hätten gekonnt. Hätten wir gewollt. Hätten sie uns gelassen.“
Sorry, aber ist das nicht, um es mal voll millennialmäßig zu sagen, ziemlicher Bullshit? „Geile Zeit“, das als Lumpensammlerei im Sinne Walter Benjamins beginnt, als Collage scheinbarer historischer Nebensächlichkeiten, kommt am Ende dort heraus, wo sich der vulgäre Generationendiskurs immer schon befand: bei Phrasen, die politische und soziologische Analysen billig ersetzen, indem sie sie in der ersten Person Plural verautobiografisieren. Die Übergriffigkeiten eines sich entgrenzenden „Wir“ hatten zu allen Zeiten ihre Funktion. Auch heute klickt sich das Zeug wahnsinnig gut.
PHILIPP BOVERMANN
Millennials feiern kindliche „Guilty Pleasures“ und haben jetzt sogar Führungspositionen, sagt Niclas Seydack über seine Generation.
Foto: xViewApartx / IMAGO/Panthermedia
Niclas Seydack:
Geile Zeit.
Autobiographie einer Generation. Tropen, Stuttgart 2024. 224 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Niclas Seydack schreibt mit „Geile Zeit“ ein Porträt der sogenannten Millennials und geht dabei großzügig
von sich selbst aus. Mit dieser Art der Generationen-Diskussion muss endlich Schluss sein.
Eigentlich müsste diese Rezension in der Ich-Form verfasst sein, typisch Millennial halt, immer schreiben wir über uns und meinen eigentlich ich, ich, immer nur ich. Aber interessiert es jemanden, dass ich etwa so alt bin wie das wiedervereinigte Deutschland, geboren 1988, in einem mittleren Millennial-Jahrgang? Ein bisschen? Eher nicht? Tut mir leid, wir Millennials sind eben immer von uns selbst abgelenkt, wenn wir nicht gerade von unseren Handys abgelenkt sind. Wir sind wirklich ganz üble Klischees.
Wobei, nichts gegen Klischees, man kann damit eine Menge anstellen. Niclas Seydack, 1990 geboren, Autor, Journalist, Millennial, hat ein ganzes Buch daraus gemacht. In „Geile Zeit“, das er die „Autobiografie einer Generation“ nennt, schildert er sein Heranwachsen unter besonderer Berücksichtigung des geschichtlichen Hintergrundrauschens, von 9/11 bis zur Post-Corona-Rechtsruck-Gegenwart.
In seiner literarischen Form erfunden hat den Generationendiskurs Florian Illies, der sich 1998 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über eine VW-Anzeige für die „Generation Golf“ mokierte. Sie wirke, schrieb er, „als habe sie ein ratloser Werbetexter auf einen Zettel gekritzelt, irgendwann nachts, nach dem zwölften Prosecco“. Er nannte dann aber auch sein Buch so. Es erschien im Jahr 2000, darin spottete er über den langweiligen Konsumhunger der Menschen, die, wie er, in den Achtzigern jung gewesen waren, ihren dünnen Pop, ihre Barbour-Jacken, ihre ölige Harald-Schmidt-Weltironie. „Gottlob haben wir den Feminismus überwunden“, solche Sätze standen darin. Es war eine Arbeit am Klischee, mit den Mitteln des Klischees. Also: öligste Ironie.
Seydack dankt nun Illies im Nachwort „für die Geburtshilfe zu diesem Buch“. Wie damals blickt hier ein junger Mann um die dreißig zurück auf eine Jugend, die einem, kaum ist sie vorüber, plötzlich fremd wird – so als gehörten einem die eigenen, gerade überstandenen Träume und Leiden gar nicht exklusiv. Die Subjektivität verdampft, und zurückbleiben Erinnerungen an Medienereignisse. Geox, „der Schuh, der atmet“, taucht da auf, kurz nachdem die Flugzeuge in die Twin Towers geflogen waren. Auf RTL Zwei lief am 11. September 2001 während der Liveübertragung des Terroranschlags gleichzeitig „Dragonball Z“. Schweigeminute in der Schule, „ich wusste nicht, woran ich in der Stille denken sollte“. Mit Papas Diktiergerät Rülpser aufnehmen. Zappelphilipp-Diagnose vom Grundschullehrer. All-inclusive mit der Familie nach Antalya. Das Video von Voll-Assi-Toni („Die Figgerei, die macht misch wahnsinnig“). „TV Total“. Wok-WM. Rotten.com. Two Girls, One Cup. „Jiggy Siggi von den Jiggy Brothers“. Der EMP-Katalog. Rücksäcke von Eastpak. Das Fußball-Sommermärchen. Opas, die plötzlich über „Leitkultur“ sprechen.
„An was sollten diese neuen Geburtsdeutschen sich anpassen?“, fragt Seydack. „Mülltrennung und Autobahn? Unsere Skisprungadler? Loddar und Bobbele, Schumi und Ulle?“
Es sind die Details, an denen sich Identität befestigt. Viele von denen, die Seydack referiert, erkennt man wieder, genauer gesagt: Ich, der Rezensent, erkenne sie wieder, weil ich etwa gleich alt bin wie er, weil ich aus demselben liberalen, kartoffeldeutschen West-Mittelstandsmilieu stamme. Wer kriegt, wie im Buch geschildert, eine Benjamin-Blümchen-Torte zum dreißigsten Geburtstag – weil „wir“ angeblich so ironisch zum Leben stehen? Ich vielleicht. Niclas Seydack vielleicht. Wir beide haben sogar denselben Beruf, Seydack ist Journalist und hat, ausweislich seiner Danksagung, fast ausschließlich Journalistinnen und Journalisten zu ihren Jugenderinnerungen befragt. Was sich da bei ihm zum „Wir“ synthetisiert, dürfte, rein empirisch, ein verschwindend kleines Wir sein.
Umso mehr gilt das, je weiter seine Erzählung in der Zeit voranschreitet, das Ich differenziert sich im Verlauf der Identitätssuche der Jugend ja immer weiter aus. Dabei wandelt sich auch der Ton. Etwa ab Ende der Schulzeit kippen die konkreten Erinnerungen in der Ich-Form – etwa an den Schulamoklauf von Erfurt, an Elternwarnungen vor „Alkopops“ und so weiter – in Seufzer über Lebensumstände, in denen „wir“ angeblich gefangen sind. Manche der kollektiven Naherinnerungen klingen plötzlich ausgedacht. Abgeschrieben.
Da ist etwa der Chef, der auf einem Longboard ins „Headquarter“ fährt und nach erreichten „Milestones“ „eine lange weiße Bahn für jeden auf den Büroküchentresen“ legt, statt Überstunden zu bezahlen. Voll die neoliberale Ausbeute, ey. Klar, dass „wir“ das Drogenangebot vom Chef nicht ablehnen und auch nicht in der Gewerkschaft sind, selbstoptimierungsgeil, wie „wir“ sind, kennt man ja, weiß man ja. Oder kennt und weiß man das etwa doch nicht? Christians, die so reden, mag es geben, aber als Breitenphänomen tauchen sie wohl vor allem in schlechten Zeitungsartikeln auf. Es sind die Schreckgestalten der Moral Panic junger, aber nicht mehr ganz junger Medienmeinungsmacher, die glauben, ihr Standpunkt sei der einer „Generation“.
Gegen den Strich lässt sich das Buch als Selbstbekenntnis einer neuen Bürgerlichkeit lesen, die gerade dabei ist, wichtige Posten im Land zu übernehmen. Sie versteht sich, wie die von ihnen verachteten alten Boomer-Säcke, offenbar als Maßstab und Subjekt der Gesellschaft, als diejenigen, die „ich“ sagen und breitbeinig „wir alle“ damit meinen, voll ironisch und soft und tränenreich, aber doch. Eigentlich wissen „wir“ heute, dass die Gesellschaft in viele verschiedene Perspektiven zerfällt, dass es ein großes „Wir“ auch schon zur Zeit der „Generation Golf“ gar nicht wirklich gab und zumal heute nicht mehr gibt – nur ist das keineswegs die Folge kapitalistischer Entfremdungsmechaniken, wie das bei Seydack so jammervoll klingt. Sondern die Definition von Vielfalt. Der Versuch, all diese aufbrechenden Unterschiede zu nivellieren, sie plattzuwalzen durch die angeblich kollektiv gültige Erfahrungswelt einer „Generation“ – eine solche Konstruktion ist bestenfalls nostalgisch, schlimmstenfalls reaktionär.
Die Illusion einer Leitkultur kehrt also auf dem Longboard zurück in Gestalt einer großen Klage, artikuliert für die vermeintlich (wirklich?) erste Generation, für die das liberale Wachstumsversprechen, es gehe fortlaufend aufwärts, nicht mehr gelte. Für diese mit digitalem Unsinn Betäubten, schreibt Seydack, sei die nächste Lebenskrise stets „nur eine Eigenbedarfskündigung entfernt“.
Die Klage vereint einen Chor angeblich hoffnungslos vereinsamter Individuen durch Rekurs auf dieses „ganze total ironische Guilty-Pleasure-Selbstverhätscheln“ mit Kindheitsreminiszenzen, mit Benjamin Blümchen und Harry Potter, mit Mental-Health-Gedöns und diffus linkem Weltschmerz: „Wir hatten Jobs, manche sogar in Führungspositionen. Wir hatten das Internet, um uns zu vernetzen. Es war an der Zeit, alles anders zu machen. Nach der Pandemie. Das war doch ein guter Anfang für eine Geschichte, die wir mitschreiben würden. Das richtige Alter hatten wir mittlerweile. Wir hätten gekonnt. Hätten wir gewollt. Hätten sie uns gelassen.“
Sorry, aber ist das nicht, um es mal voll millennialmäßig zu sagen, ziemlicher Bullshit? „Geile Zeit“, das als Lumpensammlerei im Sinne Walter Benjamins beginnt, als Collage scheinbarer historischer Nebensächlichkeiten, kommt am Ende dort heraus, wo sich der vulgäre Generationendiskurs immer schon befand: bei Phrasen, die politische und soziologische Analysen billig ersetzen, indem sie sie in der ersten Person Plural verautobiografisieren. Die Übergriffigkeiten eines sich entgrenzenden „Wir“ hatten zu allen Zeiten ihre Funktion. Auch heute klickt sich das Zeug wahnsinnig gut.
PHILIPP BOVERMANN
Millennials feiern kindliche „Guilty Pleasures“ und haben jetzt sogar Führungspositionen, sagt Niclas Seydack über seine Generation.
Foto: xViewApartx / IMAGO/Panthermedia
Niclas Seydack:
Geile Zeit.
Autobiographie einer Generation. Tropen, Stuttgart 2024. 224 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.2024Es gärte und brodelte und schimmelte in Deutschland
Eine Existenz im Was-wäre-wenn: Niclas Seydack porträtiert die Millennials und deren Weg ins Erwachsenenleben
Aus der Perspektive eines westdeutschen Teenagers war die Welt nach dem Fall der Mauer in schönster Ordnung. Hatte man nicht gerade erlebt, wie das bessere politische System das duale Weltbild beendet hatte? Fortan musste man nur noch zwischen Coca-Cola und Pepsi entscheiden, aber nicht mehr zwischen Ideologien. Und sollten nicht bald alle Europäer die Vorzüge der freien Welt und der sich öffnenden Räume und Märkte erleben?
Eine Jugend in der ostdeutschen Provinz mag damals schon anders ausgesehen und sich vor allem anders angefühlt haben. Heute sprechen wir mit nachholender Einsicht von den Baseballschlägerjahren, von verantwortungslos abgewickelten Industrien, Ideologien und Biographien. Im Westen gab es ebenfalls eine Verödung der Provinz. Außerdem alte und neue Rechte. Das war zu beklagen. Man würde es aber in den Griff kriegen - vor den Republikanern, die 1989 mit 7,5 Prozent ins Berliner Abgeordnetenhaus zogen und Deutschland in die Grenzen von 1937 phantasierten, hatte man keine Angst. So narkotisch war der Geist einer Zeit, die nur wenige Jahre später schon als kolossaler Schluckauf der Geschichte wahrgenommen werden würde.
Der 1990 in der schleswig-holsteinischen Marmeladenstadt Bad Schwartau geborene Journalist Niclas Seydack hat ein Buch über das Erwachsenwerden einer Generation geschrieben, die langsam aus der Narkose erwacht. Über die Kohorte der Millennials wissen vor allem die Boomer, also ihre potentiellen Eltern, wenig Gutes zu berichten: larmoyant und zimperlich sei sie, leicht überfordert, dabei dauernd fordernd, moralisierend und selbstgerecht. Wie es innerhalb nur weniger Jahre zu solch gravierenden Verwerfungen zwischen Kohorten kommen konnte, kann man in "Geile Zeit. Autobiographie einer Generation" erfahren. Denn man wird nicht als "Snowflake" geboren, man wird zu einer gemacht. Und zwar mit dem Schockfroster.
Zwei Großereignisse bringen überfrierende Kälte in die Jugendzimmer der Nullerjahre. Zum einen beginnt das Internet erst zaghaft, dann immer rasanter das Sozialverhalten der Teenager und späteren "young professionals" zu konfektionieren und nicht selten zu demolieren: Ungefilterte Bilder von Kriegsgewalt, brutalen Pornos oder menschenverachtendem Trash regieren die Freizeitgestaltung von immer mehr Jugendlichen.
Zum anderen werden die Anschläge auf die Zwillingstürme sowie die nachfolgende Kultur des Verdachts prägend für das allgemeine Unsicherheitsgefühl. Seydacks Vater hat mit elf Jahren im Fernsehen verfolgt, wie Neil Armstrong auf dem Mond landete; als der Autor dann selbst elf war, hat er "live dabei zugesehen, wie Menschen aus brennenden Hochhäusern sprangen, und wenig später erklärte mir ein Polizist, wie ich mich zu verstecken habe, wenn ein Mitschüler mich erschießen will".
Gedenkminuten für den Amoklauf in Erfurt oder eben die Opfer islamistischer Anschläge gehören in den Nullerjahren zur Morgenroutine eines Bad Schwartauer Gymnasiasten: "Es passierte immer wieder. Der Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Die Anschläge von Brüssel und Nizza. Je näher es kam, desto weniger wehrte ich mich mit dummen Witzen dagegen, dass es mich erreichte. Wieder erstarrte ich nicht, ich schrie nicht oder weinte. Ich ergab mich aus Angst." Auch vor den Deutschen konnte man Angst bekommen. Die NSU-Morde und der Anschlag von Hanau schäften den Blick für die neuen politischen und nie für möglich gehaltenen Zustände im Land. "Wenn es stimmte, dass Angst entweder müde oder wütend macht, lebten wir mittlerweile im Wachkoma."
Im Wachkoma erlebt der angehende Journalist nun unverstehbare Ereignisse wie einen wütenden Mob, der die Redaktion seiner Tageszeitung in Dresden stürmt und dabei "Lügenpresse" brüllt. Im Wachkoma machen Phänomene wie die AfD, Donald Trump, die sogenannte Flüchtlingskrise, der Brexit, die MeToo-Bewegung und der alles verbindende Klimawandel als "life changing subjects" ihre Aufwartung. "Es gärte und brodelte und schimmelte. In Deutschland. Auf der ganzen Welt. Und in uns."
Als Seydacks Vater ungefähr dreißig war, fiel die Mauer, und der damalige Kanzler versprach blühende Landschaften. Als Seydack junior ungefähr dreißig war, sperrte die Pandemie Jung und Alt in ihre Wohnungen ein, sie beförderte die Kultur des Homeoffice und spaltete die Gesellschaft. Sodann folgte eine erhitzte Diskussion darüber, ob die Spaltung nur ein Konstrukt der Medien sei. Als die international vereinte Wissenschaft in Rekordzeit einen Corona-Impfstoff präsentierte, der viele Menschen vor einem schweren Krankheitsverlauf schützte und gleichzeitig überall in der freien westlichen Welt Menschen auf die Straßen trieb, um genau dagegen zu demonstrieren, fällt es Seydack wie Schuppen von den Augen: Es war und ist keine "geile Zeit", auch wenn man das lange glaubte - mit Stefan Raab als dem Zeremonienmeister einer würdelosen Unterhaltungsindustrie.
Streckenweise gelingt es Seydack, seine persönlichen Lebenserfahrungen kohortenanalytisch wirksam werden zu lassen. In anderen Momenten schreibt er ganz als Kind seiner Zeit: "Und als ich endlich in den Beruf startete, bekam ich gesagt: Es ist nicht wichtig, was du tust. Du bist nicht systemrelevant. Wir machten nicht die ersten Schritte in unseren Karrieren. Wir gingen erst mal in Kurzarbeit."
Hier scheint sich ein Pessimismuskreis um eine fremdverschuldete Unmündigkeit zu schließen: eine Generation, die von einer Extremlage in die nächste befördert wird und dabei immer noch bequem auf dem Sofa sitzen kann. Das ist nicht nur beängstigend, sondern auch entmutigend. "Lieber führten wir ein Leben im Als-ob, im Was-wäre-wenn", schreibt der Autor. "Sogar wenn wir verliebt waren. Wäre ich sehr kitschig, würde ich sagen, dass ich dich echt mag. So eine ironische Liebeserklärung konnte niemand zurückweisen."
Bei allem sollte allerdings nicht vergessen werden, dass die Pandemie von jeder Generation ihren Tribut zollte, wie auch die Zeitgeschichte nicht an den anderen vorbeigegangen ist. Wer schonmal handysüchtige Rentner auf Smartphones herumhacken sah, weiß, dass die digitale Selbstverdopplung nicht den Millennials vorbehalten ist. Dennoch liest man als "Analog Native" dieses Buch mit Gewinn. Denn es zeigt, dass es eben doch einen Unterschied macht, mit welchen Medien man aufgewachsen ist und an welche man sich bloß gewöhnt hat. KATHARINA TEUTSCH
Niclas Seydack: "Geile Zeit". Autobiographie einer Generation.
Tropen Verlag, Berlin 2024. 224 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Eine Existenz im Was-wäre-wenn: Niclas Seydack porträtiert die Millennials und deren Weg ins Erwachsenenleben
Aus der Perspektive eines westdeutschen Teenagers war die Welt nach dem Fall der Mauer in schönster Ordnung. Hatte man nicht gerade erlebt, wie das bessere politische System das duale Weltbild beendet hatte? Fortan musste man nur noch zwischen Coca-Cola und Pepsi entscheiden, aber nicht mehr zwischen Ideologien. Und sollten nicht bald alle Europäer die Vorzüge der freien Welt und der sich öffnenden Räume und Märkte erleben?
Eine Jugend in der ostdeutschen Provinz mag damals schon anders ausgesehen und sich vor allem anders angefühlt haben. Heute sprechen wir mit nachholender Einsicht von den Baseballschlägerjahren, von verantwortungslos abgewickelten Industrien, Ideologien und Biographien. Im Westen gab es ebenfalls eine Verödung der Provinz. Außerdem alte und neue Rechte. Das war zu beklagen. Man würde es aber in den Griff kriegen - vor den Republikanern, die 1989 mit 7,5 Prozent ins Berliner Abgeordnetenhaus zogen und Deutschland in die Grenzen von 1937 phantasierten, hatte man keine Angst. So narkotisch war der Geist einer Zeit, die nur wenige Jahre später schon als kolossaler Schluckauf der Geschichte wahrgenommen werden würde.
Der 1990 in der schleswig-holsteinischen Marmeladenstadt Bad Schwartau geborene Journalist Niclas Seydack hat ein Buch über das Erwachsenwerden einer Generation geschrieben, die langsam aus der Narkose erwacht. Über die Kohorte der Millennials wissen vor allem die Boomer, also ihre potentiellen Eltern, wenig Gutes zu berichten: larmoyant und zimperlich sei sie, leicht überfordert, dabei dauernd fordernd, moralisierend und selbstgerecht. Wie es innerhalb nur weniger Jahre zu solch gravierenden Verwerfungen zwischen Kohorten kommen konnte, kann man in "Geile Zeit. Autobiographie einer Generation" erfahren. Denn man wird nicht als "Snowflake" geboren, man wird zu einer gemacht. Und zwar mit dem Schockfroster.
Zwei Großereignisse bringen überfrierende Kälte in die Jugendzimmer der Nullerjahre. Zum einen beginnt das Internet erst zaghaft, dann immer rasanter das Sozialverhalten der Teenager und späteren "young professionals" zu konfektionieren und nicht selten zu demolieren: Ungefilterte Bilder von Kriegsgewalt, brutalen Pornos oder menschenverachtendem Trash regieren die Freizeitgestaltung von immer mehr Jugendlichen.
Zum anderen werden die Anschläge auf die Zwillingstürme sowie die nachfolgende Kultur des Verdachts prägend für das allgemeine Unsicherheitsgefühl. Seydacks Vater hat mit elf Jahren im Fernsehen verfolgt, wie Neil Armstrong auf dem Mond landete; als der Autor dann selbst elf war, hat er "live dabei zugesehen, wie Menschen aus brennenden Hochhäusern sprangen, und wenig später erklärte mir ein Polizist, wie ich mich zu verstecken habe, wenn ein Mitschüler mich erschießen will".
Gedenkminuten für den Amoklauf in Erfurt oder eben die Opfer islamistischer Anschläge gehören in den Nullerjahren zur Morgenroutine eines Bad Schwartauer Gymnasiasten: "Es passierte immer wieder. Der Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Die Anschläge von Brüssel und Nizza. Je näher es kam, desto weniger wehrte ich mich mit dummen Witzen dagegen, dass es mich erreichte. Wieder erstarrte ich nicht, ich schrie nicht oder weinte. Ich ergab mich aus Angst." Auch vor den Deutschen konnte man Angst bekommen. Die NSU-Morde und der Anschlag von Hanau schäften den Blick für die neuen politischen und nie für möglich gehaltenen Zustände im Land. "Wenn es stimmte, dass Angst entweder müde oder wütend macht, lebten wir mittlerweile im Wachkoma."
Im Wachkoma erlebt der angehende Journalist nun unverstehbare Ereignisse wie einen wütenden Mob, der die Redaktion seiner Tageszeitung in Dresden stürmt und dabei "Lügenpresse" brüllt. Im Wachkoma machen Phänomene wie die AfD, Donald Trump, die sogenannte Flüchtlingskrise, der Brexit, die MeToo-Bewegung und der alles verbindende Klimawandel als "life changing subjects" ihre Aufwartung. "Es gärte und brodelte und schimmelte. In Deutschland. Auf der ganzen Welt. Und in uns."
Als Seydacks Vater ungefähr dreißig war, fiel die Mauer, und der damalige Kanzler versprach blühende Landschaften. Als Seydack junior ungefähr dreißig war, sperrte die Pandemie Jung und Alt in ihre Wohnungen ein, sie beförderte die Kultur des Homeoffice und spaltete die Gesellschaft. Sodann folgte eine erhitzte Diskussion darüber, ob die Spaltung nur ein Konstrukt der Medien sei. Als die international vereinte Wissenschaft in Rekordzeit einen Corona-Impfstoff präsentierte, der viele Menschen vor einem schweren Krankheitsverlauf schützte und gleichzeitig überall in der freien westlichen Welt Menschen auf die Straßen trieb, um genau dagegen zu demonstrieren, fällt es Seydack wie Schuppen von den Augen: Es war und ist keine "geile Zeit", auch wenn man das lange glaubte - mit Stefan Raab als dem Zeremonienmeister einer würdelosen Unterhaltungsindustrie.
Streckenweise gelingt es Seydack, seine persönlichen Lebenserfahrungen kohortenanalytisch wirksam werden zu lassen. In anderen Momenten schreibt er ganz als Kind seiner Zeit: "Und als ich endlich in den Beruf startete, bekam ich gesagt: Es ist nicht wichtig, was du tust. Du bist nicht systemrelevant. Wir machten nicht die ersten Schritte in unseren Karrieren. Wir gingen erst mal in Kurzarbeit."
Hier scheint sich ein Pessimismuskreis um eine fremdverschuldete Unmündigkeit zu schließen: eine Generation, die von einer Extremlage in die nächste befördert wird und dabei immer noch bequem auf dem Sofa sitzen kann. Das ist nicht nur beängstigend, sondern auch entmutigend. "Lieber führten wir ein Leben im Als-ob, im Was-wäre-wenn", schreibt der Autor. "Sogar wenn wir verliebt waren. Wäre ich sehr kitschig, würde ich sagen, dass ich dich echt mag. So eine ironische Liebeserklärung konnte niemand zurückweisen."
Bei allem sollte allerdings nicht vergessen werden, dass die Pandemie von jeder Generation ihren Tribut zollte, wie auch die Zeitgeschichte nicht an den anderen vorbeigegangen ist. Wer schonmal handysüchtige Rentner auf Smartphones herumhacken sah, weiß, dass die digitale Selbstverdopplung nicht den Millennials vorbehalten ist. Dennoch liest man als "Analog Native" dieses Buch mit Gewinn. Denn es zeigt, dass es eben doch einen Unterschied macht, mit welchen Medien man aufgewachsen ist und an welche man sich bloß gewöhnt hat. KATHARINA TEUTSCH
Niclas Seydack: "Geile Zeit". Autobiographie einer Generation.
Tropen Verlag, Berlin 2024. 224 S., geb., 22,- Euro.
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»Niclas Seydacks sympathisch-witzige Ode an die 2000er-Jahre [wird] vielen Leser:innen aus dem Herzen sprechen und für eine Lektüre voller Erinnerungen sorgen. Wehmut und Sehnsucht inklusive. Ein absolutes Highlight des Buchjahres 2024.« Tobias Groß, Börsenverein Nachwuchsblog, 12. August 2024 Tobias Groß Börsenverein 20240812