Fast ein Jahrhundert umspannt der Bogen dieses Romans, mit dem Ursula Krechel fortsetzt, was sie, vielfach ausgezeichnet und gefeiert, mit »Shanghai fern von wo« und »Landgericht« begonnen hat. »Geisterbahn« erzählt die Geschichte einer deutschen Familie, der Dorns. Als Sinti sind sie infolge der mörderischen Politik des NS-Regimes organisierter Willkür ausgesetzt: Sterilisation, Verschleppung, Zwangsarbeit. Am Ende des Krieges, das weitgehend bruchlos in den Anfang der Bundesrepublik übergeht, haben sie den Großteil ihrer Familie, ihre Existenzgrundlage, jedes Vertrauen in Nachbarn und Institutionen verloren. Anna, das jüngste der Kinder, sitzt mit den Kindern anderer Eltern in einer Klasse. Wer wie überlebt hat, aus Zufall oder durch Geschick, danach fragt keiner. Sie teilen vieles, nur nicht die Geister der Vergangenheit.Mit großer Kunstfertigkeit und sprachlicher Eleganz erzählt Ursula Krechel davon, wie sich Geschichte in den Brüchen und Verheerungen spiegelt, die den Lebensgeschichten einzelner eingeschrieben sind. Auf einzigartige Weise schafft sie eine atmosphärische Dichte, in der vermeintlich Vergangenes auf bewegende und bedrängende Weise gegenwärtig wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2018Im Weltgeschichtesausen
Hochverdichtete Prosa, hinter der immer wieder die Lyrikerin zu erkennen ist: Ursula Krechel setzt mit "Geisterbahn" den fulminanten Schlusspunkt ihrer Romantrilogie zur deutschen Kriegs- und Nachkriegsvergangenheit.
Schwere und Beharrung und zugleich ein phantasiertes Tempo, ein Weltgeschichtesausen, etwas, das ganz schwindlig macht und auch glücklich bei aller Wut und Feindseligkeit. Die Karre ist nicht von ihnen in den Dreck gefahren worden. Aber sie waten durch den Schlamassel." Von wem ist die Rede? Von den Torgaus, einer Eisenbahnerfamilie aus Trier, Kommunisten, im "Dritten Reich" bösen Repressalien ausgesetzt und dennoch ihren Überzeugungen treu. Aber die eingangs zitierten Sätze hätte auch Franz Neumeister sprechen können, Opportunist aus Trier, unter den Nazis ebenso angepasst wie in der Bundesrepublik und entsprechend erfolgreich. Sein Selbstbild ist das gleiche: Schuldlos ist er, ein Getriebener in den Zeitläuften. Es ist eine bemerkenswerte Parallelführung, die Ursula Krechel in ihrem neuen Roman, "Geisterbahn", vornimmt. Weder wird die Widerstandskraft der Torgaus dadurch relativiert noch die Feigheit Neumeisters geschönt. Vielmehr gibt es einen erzählerischen Wechselschritt zwischen den Figuren, der keinen Zweifel an der Haltung von "Geisterbahn" lässt. Dazu hätte es der späten Dämonisierung Neumeisters durch die Andeutung des Missbrauchs seiner Tochter gar nicht mehr bedurft.
Täter und Opfer - das ist das große Thema von Ursula Krechels Romanen seit "Shanghai fern von wo" (2008), der vom chinesischen Exil von Nazi-Gegnern erzählte. An dessen Ende klang schon an, was dann vier Jahre später in "Landgericht", mit dem Krechel den Deutschen Buchpreis gewann, im Mittelpunkt stehen sollte: die Rückkehr der Exilanten und wie sie in Westdeutschland aufgenommen wurden. Für beide Romane hatte die Autorin jahrelang recherchiert, aber "Geisterbahn" wird noch größere Mühe erfordert haben, obwohl er dort angesiedelt ist, wo Ursula Krechel 1947 geboren wurde: in Trier. Aber genau das dürfte die Arbeit am Stoff erschwert haben: die autobiographische Vertrautheit, die im Buch einem Befremden über diese Zeit und auch über diese Region zu weichen hat, das dem gerecht wird, was jene empfinden, die die Handlung von "Geisterbahn" tragen. Und das sind dann doch die Opfer.
Neben den Torgaus, ja noch mehr als diese, sind das die Dorns, eine weitere Familie, Angehörige der Sinti, also rassisch Verfolgte im "Dritten Reich". Sie sind Schausteller, doch der Titel des Romans ist eher metaphorisch als konkret gemeint, denn das Fahrgeschäft der Dorns in der Zwischenkriegszeit war anderer Natur. Nach dem Krieg fragt sich die neugeborene Tochter: "Warum kaufen wir keine Geisterbahn? Furchtbar aufregend und schön mußte es sein, darin zu fahren, Berg und Tal, hell und dunkel, Hände, die nach einem greifen, ein kalter Wind, ein klapperndes Gerippe. Die Fahrt beginnt zögernd, das Abteil ruckelt, dann hebt sich der Sitz, alles hebt sich, auch die Laune, ein hydraulisches Wunder. Die Kinder sind angeschnallt, und trotzdem erheben sie sich. Sie sind Sieger, wenn sie wieder im Tageslicht auftauchen, sie sind glücklich, sie haben Schreckliches erlebt und überwunden. Geisterbahn, Geisterbahn, wies sie der Vater zurecht, du weißt nicht, was du redest, Geister haben wir schon genug." Er meint all die in den Lagern gestorbenen Geschwister, die seine nachgeborene Tochter gar nicht mehr kennengelernt hat.
Alles ist in diesem Roman in ständig quälender Nachbarschaft: die unschuldigen und schuldigen Menschen, die schrecklichen und banalen Erlebnisse, die Träume und die Albträume. Es gibt kein Entkommen, nicht als Verfolgter im "Dritten Reich" und nicht als Leser dieser hochverdichteten Prosa, die in Rhythmusgefühl und Sprachgewalt die Lyrikerin Ursula Krechel erkennen lässt. Die Lektüre erfordert Kraft. Nicht weil er noch etwas umfangreicher geworden ist als seine beiden Vorgänger, sondern weil hier noch viel mehr und viel unterschiedlichere soziale Schicksale erzählt werden. Die - das ist das kompositorische Meisterstück der zweiten Hälfte des Buchs - gebündelt werden in einer Nachkriegsschulklasse, in der nicht die Täter und Opfer selbst nebeneinander sitzen, sondern ihre Kinder. Und es ist auch eines davon, Bernhard Blank, ein Polizistensohn, der als Ich-Erzähler figuriert, wobei es etliche Passagen gibt, vor allem solche mit resümierenden Betrachtungen zum Geschichtsverlauf im deutsch-luxemburgischen Grenzland, die mit der Autorität einer allwissenden Erzählinstanz geschrieben sind.
Es gibt da zum Beispiel Ausführungen zur Rolle der katholischen Kirche und sogar einzelner historischer Persönlichkeiten, die verblüffend eng mit Michael Lentz' gleichzeitig erschienenem Romanrequiem "Schattenfroh" verwandt sind, der allerdings geographisch auch nur wenig entfernt angesiedelt ist. Oder knappe Interventionen zur Person Konrad Adenauers, der erkennbar nicht Ursula Krechels Sympathie genießt. Ganz im Gegensatz zu jenen Protagonisten, die aus dem vielstimmigen und -schichtigen Buch herausragen: den Mitgliedern der Familie Dorn. In ihnen sieht die Autorin das Herz ihrer Stoffes, auch wenn dessen Erzählstimme aus der Gruppe der moralisch diskreditierten Figuren stammt.
Ursula Krechel hat nicht den ersten Roman in jüngerer Zeit über Menschen geschrieben, die den Nazis als "Zigeuner" und damit minderwertig galten. Stephanie Bart machte vor vier Jahren das wahre Leben des Boxers Rukelie Trollmann zum Gegenstand ihres Buchs "Deutscher Meister". Auch Trollmann war Sinto, doch er sollte die NS-Zeit nicht überleben; eine "Wiedergutmachung" erfolgte deshalb nur symbolisch, brauchte aber immer noch mehr als ein halbes Jahrhundert. In Ursula Krechels Roman überleben einige Mitglieder der vor dem Krieg vielköpfigen Familie Dorn den NS-Terror, doch eine Kompensation der ihnen dadurch gebliebenen körperlichen und psychischen Schäden bleibt in der Bundesrepublik aus. Sie bleiben, was sie auch vorher waren: misstrauisch beäugte Außenseiter, mustergültig und vorgeführt im Buch durch ein Nikolaus-Lenau-Stakkato in der Schulklasse beim Singen von dessen Gedicht "Die drei Zigeuner", das die jüngste Dorn-Tochter plötzlich weinen lässt - und im rheinpfälzischen Dialekt ausrufen: "Mir sinn net solche Zigeuner wie die."
Das ist eine herzzerreißende Stelle, wie das kleine Mädchen sich in der Sprache, die alle in der Klasse sprechen, verteidigt und doch spürt, wie es durch ein Gedicht diskriminiert wird. Aber sie protestiert, während die älteren Dorns nicht aussprechen können, was ihnen angetan wurde: "Lucie ist krank, Kathi muß sie pflegen. Kein Arzt, kein Arzt, wimmert sie und: Du weißt doch, was der Arzt gemacht hat. Du weißt doch - im Krankenhaus haben sie dich kaputtgemacht, Kathi. Das Wort Sterilisation nehmen sie beide nicht in den Mund."
Diese beklemmende Szene zwischen einer Mutter, die die Hälfte ihrer Kinder im Lager hat sterben sehen, und der überlebenden, aber zwangssterilisierten Tochter ist bezeichnend für die stilistische Leistung von "Geisterbahn". Immer wieder gibt es solche Montagen aus auktorialen Erzählpassagen und Figurendialogen, verschmolzen zu einem einzigen Absatz, Introspektion und Inspektion zugleich, auch der Täter, die dafür gesorgt haben, dass die Dorns deportiert wurden oder dass diejenigen von ihnen, die nach dem Krieg zurückkehrten - die Eltern Lucie und Alfons, die Geschwister Kathi und Josef -, nie mehr richtig Fuß würden fassen können im äußersten Westen der Bundesrepublik, in und um Trier. "In unser Haus wollte ich auch zuerst, sagt Josef ohne zu zögern. Das Haus ist abgerissen. Die Nachbarn, von denen wir das Grundstück gekauft haben, haben einen-Fischteich angelegt und einen Kaninchenstall im Schatten. Jetzt haben sie immer zu essen. Josefs Sätze sind offene Messer." Aus solchen besteht auch das ganze großartige Buch von Ursula Krechel.
ANDREAS PLATTHAUS.
Ursula Krechel: "Geisterbahn". Roman.
Verlag Jung und Jung, Salzburg 2018. 643 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hochverdichtete Prosa, hinter der immer wieder die Lyrikerin zu erkennen ist: Ursula Krechel setzt mit "Geisterbahn" den fulminanten Schlusspunkt ihrer Romantrilogie zur deutschen Kriegs- und Nachkriegsvergangenheit.
Schwere und Beharrung und zugleich ein phantasiertes Tempo, ein Weltgeschichtesausen, etwas, das ganz schwindlig macht und auch glücklich bei aller Wut und Feindseligkeit. Die Karre ist nicht von ihnen in den Dreck gefahren worden. Aber sie waten durch den Schlamassel." Von wem ist die Rede? Von den Torgaus, einer Eisenbahnerfamilie aus Trier, Kommunisten, im "Dritten Reich" bösen Repressalien ausgesetzt und dennoch ihren Überzeugungen treu. Aber die eingangs zitierten Sätze hätte auch Franz Neumeister sprechen können, Opportunist aus Trier, unter den Nazis ebenso angepasst wie in der Bundesrepublik und entsprechend erfolgreich. Sein Selbstbild ist das gleiche: Schuldlos ist er, ein Getriebener in den Zeitläuften. Es ist eine bemerkenswerte Parallelführung, die Ursula Krechel in ihrem neuen Roman, "Geisterbahn", vornimmt. Weder wird die Widerstandskraft der Torgaus dadurch relativiert noch die Feigheit Neumeisters geschönt. Vielmehr gibt es einen erzählerischen Wechselschritt zwischen den Figuren, der keinen Zweifel an der Haltung von "Geisterbahn" lässt. Dazu hätte es der späten Dämonisierung Neumeisters durch die Andeutung des Missbrauchs seiner Tochter gar nicht mehr bedurft.
Täter und Opfer - das ist das große Thema von Ursula Krechels Romanen seit "Shanghai fern von wo" (2008), der vom chinesischen Exil von Nazi-Gegnern erzählte. An dessen Ende klang schon an, was dann vier Jahre später in "Landgericht", mit dem Krechel den Deutschen Buchpreis gewann, im Mittelpunkt stehen sollte: die Rückkehr der Exilanten und wie sie in Westdeutschland aufgenommen wurden. Für beide Romane hatte die Autorin jahrelang recherchiert, aber "Geisterbahn" wird noch größere Mühe erfordert haben, obwohl er dort angesiedelt ist, wo Ursula Krechel 1947 geboren wurde: in Trier. Aber genau das dürfte die Arbeit am Stoff erschwert haben: die autobiographische Vertrautheit, die im Buch einem Befremden über diese Zeit und auch über diese Region zu weichen hat, das dem gerecht wird, was jene empfinden, die die Handlung von "Geisterbahn" tragen. Und das sind dann doch die Opfer.
Neben den Torgaus, ja noch mehr als diese, sind das die Dorns, eine weitere Familie, Angehörige der Sinti, also rassisch Verfolgte im "Dritten Reich". Sie sind Schausteller, doch der Titel des Romans ist eher metaphorisch als konkret gemeint, denn das Fahrgeschäft der Dorns in der Zwischenkriegszeit war anderer Natur. Nach dem Krieg fragt sich die neugeborene Tochter: "Warum kaufen wir keine Geisterbahn? Furchtbar aufregend und schön mußte es sein, darin zu fahren, Berg und Tal, hell und dunkel, Hände, die nach einem greifen, ein kalter Wind, ein klapperndes Gerippe. Die Fahrt beginnt zögernd, das Abteil ruckelt, dann hebt sich der Sitz, alles hebt sich, auch die Laune, ein hydraulisches Wunder. Die Kinder sind angeschnallt, und trotzdem erheben sie sich. Sie sind Sieger, wenn sie wieder im Tageslicht auftauchen, sie sind glücklich, sie haben Schreckliches erlebt und überwunden. Geisterbahn, Geisterbahn, wies sie der Vater zurecht, du weißt nicht, was du redest, Geister haben wir schon genug." Er meint all die in den Lagern gestorbenen Geschwister, die seine nachgeborene Tochter gar nicht mehr kennengelernt hat.
Alles ist in diesem Roman in ständig quälender Nachbarschaft: die unschuldigen und schuldigen Menschen, die schrecklichen und banalen Erlebnisse, die Träume und die Albträume. Es gibt kein Entkommen, nicht als Verfolgter im "Dritten Reich" und nicht als Leser dieser hochverdichteten Prosa, die in Rhythmusgefühl und Sprachgewalt die Lyrikerin Ursula Krechel erkennen lässt. Die Lektüre erfordert Kraft. Nicht weil er noch etwas umfangreicher geworden ist als seine beiden Vorgänger, sondern weil hier noch viel mehr und viel unterschiedlichere soziale Schicksale erzählt werden. Die - das ist das kompositorische Meisterstück der zweiten Hälfte des Buchs - gebündelt werden in einer Nachkriegsschulklasse, in der nicht die Täter und Opfer selbst nebeneinander sitzen, sondern ihre Kinder. Und es ist auch eines davon, Bernhard Blank, ein Polizistensohn, der als Ich-Erzähler figuriert, wobei es etliche Passagen gibt, vor allem solche mit resümierenden Betrachtungen zum Geschichtsverlauf im deutsch-luxemburgischen Grenzland, die mit der Autorität einer allwissenden Erzählinstanz geschrieben sind.
Es gibt da zum Beispiel Ausführungen zur Rolle der katholischen Kirche und sogar einzelner historischer Persönlichkeiten, die verblüffend eng mit Michael Lentz' gleichzeitig erschienenem Romanrequiem "Schattenfroh" verwandt sind, der allerdings geographisch auch nur wenig entfernt angesiedelt ist. Oder knappe Interventionen zur Person Konrad Adenauers, der erkennbar nicht Ursula Krechels Sympathie genießt. Ganz im Gegensatz zu jenen Protagonisten, die aus dem vielstimmigen und -schichtigen Buch herausragen: den Mitgliedern der Familie Dorn. In ihnen sieht die Autorin das Herz ihrer Stoffes, auch wenn dessen Erzählstimme aus der Gruppe der moralisch diskreditierten Figuren stammt.
Ursula Krechel hat nicht den ersten Roman in jüngerer Zeit über Menschen geschrieben, die den Nazis als "Zigeuner" und damit minderwertig galten. Stephanie Bart machte vor vier Jahren das wahre Leben des Boxers Rukelie Trollmann zum Gegenstand ihres Buchs "Deutscher Meister". Auch Trollmann war Sinto, doch er sollte die NS-Zeit nicht überleben; eine "Wiedergutmachung" erfolgte deshalb nur symbolisch, brauchte aber immer noch mehr als ein halbes Jahrhundert. In Ursula Krechels Roman überleben einige Mitglieder der vor dem Krieg vielköpfigen Familie Dorn den NS-Terror, doch eine Kompensation der ihnen dadurch gebliebenen körperlichen und psychischen Schäden bleibt in der Bundesrepublik aus. Sie bleiben, was sie auch vorher waren: misstrauisch beäugte Außenseiter, mustergültig und vorgeführt im Buch durch ein Nikolaus-Lenau-Stakkato in der Schulklasse beim Singen von dessen Gedicht "Die drei Zigeuner", das die jüngste Dorn-Tochter plötzlich weinen lässt - und im rheinpfälzischen Dialekt ausrufen: "Mir sinn net solche Zigeuner wie die."
Das ist eine herzzerreißende Stelle, wie das kleine Mädchen sich in der Sprache, die alle in der Klasse sprechen, verteidigt und doch spürt, wie es durch ein Gedicht diskriminiert wird. Aber sie protestiert, während die älteren Dorns nicht aussprechen können, was ihnen angetan wurde: "Lucie ist krank, Kathi muß sie pflegen. Kein Arzt, kein Arzt, wimmert sie und: Du weißt doch, was der Arzt gemacht hat. Du weißt doch - im Krankenhaus haben sie dich kaputtgemacht, Kathi. Das Wort Sterilisation nehmen sie beide nicht in den Mund."
Diese beklemmende Szene zwischen einer Mutter, die die Hälfte ihrer Kinder im Lager hat sterben sehen, und der überlebenden, aber zwangssterilisierten Tochter ist bezeichnend für die stilistische Leistung von "Geisterbahn". Immer wieder gibt es solche Montagen aus auktorialen Erzählpassagen und Figurendialogen, verschmolzen zu einem einzigen Absatz, Introspektion und Inspektion zugleich, auch der Täter, die dafür gesorgt haben, dass die Dorns deportiert wurden oder dass diejenigen von ihnen, die nach dem Krieg zurückkehrten - die Eltern Lucie und Alfons, die Geschwister Kathi und Josef -, nie mehr richtig Fuß würden fassen können im äußersten Westen der Bundesrepublik, in und um Trier. "In unser Haus wollte ich auch zuerst, sagt Josef ohne zu zögern. Das Haus ist abgerissen. Die Nachbarn, von denen wir das Grundstück gekauft haben, haben einen-Fischteich angelegt und einen Kaninchenstall im Schatten. Jetzt haben sie immer zu essen. Josefs Sätze sind offene Messer." Aus solchen besteht auch das ganze großartige Buch von Ursula Krechel.
ANDREAS PLATTHAUS.
Ursula Krechel: "Geisterbahn". Roman.
Verlag Jung und Jung, Salzburg 2018. 643 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.11.2018LITERATUR
Land ohne Neuanfang
In ihrem Roman „Geisterbahn“ zieht Ursula Krechel die Vererbungslinien des großen
Schweigens nach der Nazi-Zeit – in den Familien der Opfer und denen der Täter
VON ULRICH RÜDENAUER
Der Lehrer schreibt die Strophe eines Liedes an die Tafel, und dann wird gesungen, so schön es die kindlichen Kehlen hergeben. „Drei Zigeuner fand ich einmal / liegen an einer Weide / als mein Fuhrwerk mit müder Qual / schlich durch die sandige Heide.“ Die Romantik, von der die Schüler nicht einmal eine ungefähre Ahnung haben, quillt aus jeder Zeile; es ist ein Lied „wie Sirup“.
Iris stimmt sofort mit ein, sie erfasst die Melodie schon beim ersten Hören, Bernhard brummt wie immer schüchtern mit, weil er seiner wackeligen Singstimme misstraut. Alle fasziniert die Geschichte von den musizierenden, rauchenden, träumenden Zigeunern, denen der Dichter wehmutsvoll nachblickt: „Dreifach haben sie mir gezeigt, / Wenn das Leben uns nachtet, / Wie man’s verraucht, verschläft, vergeigt / Und es dreimal verachtet.“
Ach, lustig ist das Zigeunerleben. Und dann erzählt der Herr Lehrer von Nikolaus Lenau, dem schwermütigen, ruhelosen Adeligen aus Ungarn. Und wieder wird gesungen, geradezu geschmettert, der Lehrer ist in seinem Element und merkt nicht, dass eine seiner Schülerinnen gar nicht mitsingt, sondern zum Herzerweichen weint, nicht mehr aufhören kann zu schluchzen. Aber was ist denn, Annchen, „warum weinst du denn?“, fragt er irgendwann doch, und da muss das Kind noch schlimmer weinen, bis es keine Tränen mehr übrig hat und jämmerlich kundtut: „Mir sinn net solche Zigeuner wie die.“
Der Satz hallt im Klassenzimmer wider. Und im Kopf des Erzählers hallt er noch Jahrzehnte später nach. Der Erzähler ist jener „Brummer“ Bernhard, der sich als älterer, von einer Krankheit aus der Bahn geworfener Mann an das Sinti-Mädchen Annchen erinnert. Und auch an Iris, an die Klassenkameradinnen Cecilia und Aurelia und an die Eltern der Kinder, die ihre eigenen Geschichten aus dem Krieg mitgebracht und weitervererbt haben an ihre kurz nach Kriegsende geborenen Sprösslinge – samt allen Traumata.
Diese Klassenzimmerszene ist eine von vielen eindrücklichen Passagen in Ursula Krechels neuem Roman „Geisterbahn“. Hier scheinen sich die verschiedenen Stränge dieses Buches zum ersten Mal unauflösbar zu verknoten. Nach dem Ungeheuerlichen und Unvorstellbaren des Dritten Reiches geht es wieder voran, die Schule ist ein Ort der Kontinuität, die Lehrer, oftmals belastet oder zumindest geprägt von der Hitler-Zeit, machen weiter, als wäre fast nichts geschehen. Sie singen ihre romantischen Lieder so laut, dass die Trauer übertönt wird. In dieser Trierer Schule in den Fünfzigerjahren verknüpfen sich verschiedene Schicksale, jene von Täter-Kindern und jene der Opfer.
Keiner von ihnen ist heil durch die glorreiche deutsche Geschichte gekommen, von der heute in bestimmten Kreisen wieder gerne gesprochen wird. Mit „Geisterbahn“ legt Ursula Krechel nach „Shanghai fern von wo“ (2009) und „Landgericht“ (2012) den dritten Roman vor, der sich mit den Verfolgten des Nazi-Regimes beschäftigt und mit der Gefühllosigkeit einer Nachkriegsgesellschaft, die alles dafür tut, das Vergangene nicht an sich herankommen zu lassen.
Im Mittelpunkt des Romans steht eine Sinti-Familie. Die Dorns sind Schausteller, sie ziehen mit ihrem Karussell von Kirmes zu Kirmes. In Trier sind sie zu Hause, haben es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Dann beginnt die neue Zeit, und mit ihr kommen erst Schikanen, schließlich immer weiter gehende, in ordentliche Gesetze gegossene Erniedrigungen. Langsam drängt man die „Zigeuner“ aus der Welt, ihrer Heimat. Zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ werden Sinti und Roma in Konzentrationslager verschleppt, es wird denunziert und profitiert. Der Nazi-Apparat kann sich auf sein spitzelndes Volk verlassen: „Lehrer, Nachbarn und Hobby-Genealogen waren die Zuträger und nahmen der Polizei die Arbeit ab.“ Kathi, eine der Dorn-Töchter, wird zwangssterilisiert, verstümmelt. Aber die eigentliche Hölle steht noch bevor: Im Lager müssen die Dorns mit vielen anderen Verschleppten Zwangsarbeiten verrichten, fünf der Kinder sterben, und die anderen Mitglieder der Familie sind bis an ihr Lebensende gezeichnet.
Ursula Krechel spiegelt die Schrecken der Nazi-Herrschaft nicht nur in der Schaustellerfamilie Dorn. Das Erzählgewicht verschiebt sich in den weiteren Kapiteln des Buches immer wieder hin zu anderen Figuren. Da sind die Geschwister Orli und Willi Torgau, die im kommunistischen Untergrund gegen die Nazis kämpfen und schließlich von Orlis Ehemann verraten werden. Da ist Franz Neumeister, angehender Arzt, der zwar kein überzeugter Parteigänger der neuen Machthaber ist, sich aber mit den Verhältnissen zu arrangieren versteht. Oder die weltläufige Hotelerbin Grit Berghausen, die der Liebe wegen ins provinzielle Trier zieht und ihren Verlobten im Krieg verliert.
Und es gibt den Polizisten-Vater des Erzählers Bernhard Blank. Namen werden in Romanen ja eher selten zufällig gewählt, und so ist die Leerstelle – Blank – bewusst gesetzt: MEINVATER wird dieser gewalttätige, opportunistische Mann ausschließlich genannt. Die Versalien deuten nicht nur die Allmacht des Patriarchen an. MEINVATER ist ein Prinzip. Er steht für viele Väter, die ihre Pflicht erfüllt haben und sich nach dem Krieg über die Verbrechen, an denen sie beteiligt waren, ausschwiegen. An allen möglichen Polizeiaktionen, Deportationen, Gewalttätigkeiten sieht der sich erinnernde Bernhard seinen Erzeuger beteiligt – was er wirklich getan hat, bleibt im Vagen, blank eben. Blank senior ist der prototypische Mitläufer, der zum Täter wird.
„Geisterbahn“ liefert nicht zuletzt auch eine Chronik der Römerstadt Trier im Dritten Reich, in der erzählerisch genau die atmosphärischen Veränderungen und die ganz konkreten Maßnahmen des neuen Regimes registriert werden. Historische Personen treten hier auf, werden immer wieder zitiert, vom Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer bis zum Reichsarbeitsminister Seldte, von Peter Weiss bis zu einem „englischen Reisenden“, hinter dem sich der Dichter Stephen Spender verbirgt.
Und es werden die unverarbeiteten Folgen des Krieges beleuchtet: Im Klassenzimmer treffen sich die kurz nach Kriegsende geborenen Kinder der Protagonisten. Annchen, die jüngste Tochter der nach der Befreiung weiterhin ausgegrenzten Dorns, die mit ein paar Flaschen Wein als Reparationszahlung abgespeist werden sollen; Iris, die Tochter Grit Berghausens und eines französischen Besatzungsoffiziers – worüber natürlich nicht gesprochen werden kann; Cecilia, das Kind des Psychiaters Franz Neumeister; Aurelia, die Tochter des seinen Idealen treu gebliebenen Kommunisten Willi Torgau. Und natürlich Bernhard, der Sohn SEINESVATERS.
Es gibt bei all diesen Figuren zum einen die äußeren Wunden. Man könnte sie aufzählen, die Versteifung eines Fingers, die Tuberkulose-Erkrankung, die Narben von Sterilisationen und Folterungen. Und da sind zum anderen Verwundungen, die man nicht sieht, die diese Menschen von innen her auffressen. Und die sie an die Nachkommen weitergeben werden.
„Ein Kind kennt keine Melancholie. Es kennt etwas anderes, die dramatische Traurigkeit, die es in sich einschließt. Später, später wird es andere Empfindungen kennenlernen, düstere und glückliche, mehr wird nach seinen Wünschen geschehen, anderes wird ihm schlankweg verweigert. Man schenkt ihm Gehör, es muss nicht mehr schreien, um Aufmerksamkeit betteln. Jetzt ist die Traurigkeit ein dunkler, schmutziger Sack, der sich über das Kind stülpt, in dem es vor Panik strampelt. Angst im Bauch, Angst vor einem Polizisten, der MEINVATER ist, Angst vor Schäferhunden, Angst, die nicht aufhört.“ In den Fünfzigerjahren gibt es keine Sprache für diese Ängste, auch das zeigt Ursula Krechel. Alles wird umkreist, aber niemals benannt. Es ist eine beklemmende Atmosphäre des Schweigens, der Schuld, die über den wiederaufgebauten Städten liegt.
Der kleine Bernhard muss wegen einer Atemstörung den Psychiater Dr. Neumeister aufsuchen. Psyche und Atmung sind bekanntlich eng miteinander verbunden, Asthma und Panikattacke lassen sich symptomatisch manchmal nicht unterscheiden. Bernhard ist nicht das einzige Kind, das im Wartezimmer von Dr. Neumeister sitzt. Erst der Tod des Vaters bringt Linderung.
Wieder hat Krechel, wie schon in den vorangegangenen Romanen, ausgiebig in Archiven recherchiert, hat das Gefundene so in die Geschichte eingefügt, dass man die Nähte noch wahrnehmen kann. Dieses collagierende Verfahren prägte „Shanghai fern von wo“ und „Landgericht“, und man hat den Eindruck, dass die Autorin es in ihrem neuen Roman noch weiter verfeinert hat: Noch immer sind die Übergänge zwischen Realität und Fiktion zu erkennen, aber doch gibt es einen von den Fundstücken und historischen Quellen kaum unterbrochenen Erzählfluss.
Wenn es um traumatische Vergessensleistungen gehe, sagte Ursula Krechel einmal, sei es unangemessen, zu viel zu erfinden. Die Autorin nimmt sich bewusst zurück. An die Stelle von Erfundenem setzt sie Lücken, in denen die Gefühlswelt der teils historisch verbürgten Figuren aufgehoben ist. Das bedeutet zugleich, auch den Erzählton zurückhaltend zu gestalten: Tatsächlich ist Ursula Krechels Sprache auf wunderbare Weise besonnen, keinesfalls nüchtern, aber eben auch nicht effektvoll. Immer wieder gibt es Sätze, die von einer bestechenden Wahrhaftigkeit und sprachlichen Schönheit sind – aber das Erzählen, so ausschweifend und genau es auch ist, hat zugleich etwas Verschwiegenes.
Krechel schützt damit ihre Figuren, deren aus der Vergangenheit rührende Schreckenserfahrungen in ihnen verschlossen bleiben, sich aber in Gesten, Krankheiten, Übersprungshandlungen äußern. Ja, man könnte sagen, Ursula Krechel ist eine dezente Berichterstatterin des Geschehenen. Und doch ändert sich die Temperatur, der Rhythmus des Textes, je nachdem, ob sie Bernhard von den Dorns sprechen lässt oder mit ihrem Chronisten die Versäumnisse und Inkonsistenzen ihrer eigenen 68er-Generation abbildet.
Dass es keine Stunde null gab, keine wundersame Verwandlung eines fanatisierten Volkes in lupenreine Demokraten, keine wirkliche Entschädigung und ernsthafte Entschuldigung, keine Gerechtigkeit – daran sollte man sich immer wieder erinnern, wenn die Geschichte der Bundesrepublik bei festlichen Anlässen zur reinen Erfolgssaga überhöht wird. Ursula Krechel leistet diese Erinnerungsarbeit in ihrer nun zur Trilogie angewachsenen Romanfolge auf eindringliche, literarisch höchst reflektierte und bewegende Weise. Und sie zeigt, dass die Vergangenheit nicht bewältigt ist, ja, noch nicht einmal vergangen.
Die Lehrer, geprägt von der
Hitler-Zeit, machen weiter, als
wäre fast nichts geschehen
Asthma und Panikattacke
lassen sich symptomatisch
manchmal nicht unterscheiden
Das Erzählen, so ausschweifend
und genau es auch ist, hat
zugleich etwas Verschwiegenes
Ursula Krechel,
geboren 1947 in Trier, lebt
in Berlin. Ihr Roman
„Landgericht“ wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2012
ausgezeichnet und mit
Johanna Wokalek und
Ronald Zehrfeld für das
Fernsehen verfilmt.
Foto: Gunter Gluecklich
Ursula Krechel:
Geisterbahn. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2018. 640 Seiten, 32 Euro.
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Land ohne Neuanfang
In ihrem Roman „Geisterbahn“ zieht Ursula Krechel die Vererbungslinien des großen
Schweigens nach der Nazi-Zeit – in den Familien der Opfer und denen der Täter
VON ULRICH RÜDENAUER
Der Lehrer schreibt die Strophe eines Liedes an die Tafel, und dann wird gesungen, so schön es die kindlichen Kehlen hergeben. „Drei Zigeuner fand ich einmal / liegen an einer Weide / als mein Fuhrwerk mit müder Qual / schlich durch die sandige Heide.“ Die Romantik, von der die Schüler nicht einmal eine ungefähre Ahnung haben, quillt aus jeder Zeile; es ist ein Lied „wie Sirup“.
Iris stimmt sofort mit ein, sie erfasst die Melodie schon beim ersten Hören, Bernhard brummt wie immer schüchtern mit, weil er seiner wackeligen Singstimme misstraut. Alle fasziniert die Geschichte von den musizierenden, rauchenden, träumenden Zigeunern, denen der Dichter wehmutsvoll nachblickt: „Dreifach haben sie mir gezeigt, / Wenn das Leben uns nachtet, / Wie man’s verraucht, verschläft, vergeigt / Und es dreimal verachtet.“
Ach, lustig ist das Zigeunerleben. Und dann erzählt der Herr Lehrer von Nikolaus Lenau, dem schwermütigen, ruhelosen Adeligen aus Ungarn. Und wieder wird gesungen, geradezu geschmettert, der Lehrer ist in seinem Element und merkt nicht, dass eine seiner Schülerinnen gar nicht mitsingt, sondern zum Herzerweichen weint, nicht mehr aufhören kann zu schluchzen. Aber was ist denn, Annchen, „warum weinst du denn?“, fragt er irgendwann doch, und da muss das Kind noch schlimmer weinen, bis es keine Tränen mehr übrig hat und jämmerlich kundtut: „Mir sinn net solche Zigeuner wie die.“
Der Satz hallt im Klassenzimmer wider. Und im Kopf des Erzählers hallt er noch Jahrzehnte später nach. Der Erzähler ist jener „Brummer“ Bernhard, der sich als älterer, von einer Krankheit aus der Bahn geworfener Mann an das Sinti-Mädchen Annchen erinnert. Und auch an Iris, an die Klassenkameradinnen Cecilia und Aurelia und an die Eltern der Kinder, die ihre eigenen Geschichten aus dem Krieg mitgebracht und weitervererbt haben an ihre kurz nach Kriegsende geborenen Sprösslinge – samt allen Traumata.
Diese Klassenzimmerszene ist eine von vielen eindrücklichen Passagen in Ursula Krechels neuem Roman „Geisterbahn“. Hier scheinen sich die verschiedenen Stränge dieses Buches zum ersten Mal unauflösbar zu verknoten. Nach dem Ungeheuerlichen und Unvorstellbaren des Dritten Reiches geht es wieder voran, die Schule ist ein Ort der Kontinuität, die Lehrer, oftmals belastet oder zumindest geprägt von der Hitler-Zeit, machen weiter, als wäre fast nichts geschehen. Sie singen ihre romantischen Lieder so laut, dass die Trauer übertönt wird. In dieser Trierer Schule in den Fünfzigerjahren verknüpfen sich verschiedene Schicksale, jene von Täter-Kindern und jene der Opfer.
Keiner von ihnen ist heil durch die glorreiche deutsche Geschichte gekommen, von der heute in bestimmten Kreisen wieder gerne gesprochen wird. Mit „Geisterbahn“ legt Ursula Krechel nach „Shanghai fern von wo“ (2009) und „Landgericht“ (2012) den dritten Roman vor, der sich mit den Verfolgten des Nazi-Regimes beschäftigt und mit der Gefühllosigkeit einer Nachkriegsgesellschaft, die alles dafür tut, das Vergangene nicht an sich herankommen zu lassen.
Im Mittelpunkt des Romans steht eine Sinti-Familie. Die Dorns sind Schausteller, sie ziehen mit ihrem Karussell von Kirmes zu Kirmes. In Trier sind sie zu Hause, haben es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Dann beginnt die neue Zeit, und mit ihr kommen erst Schikanen, schließlich immer weiter gehende, in ordentliche Gesetze gegossene Erniedrigungen. Langsam drängt man die „Zigeuner“ aus der Welt, ihrer Heimat. Zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ werden Sinti und Roma in Konzentrationslager verschleppt, es wird denunziert und profitiert. Der Nazi-Apparat kann sich auf sein spitzelndes Volk verlassen: „Lehrer, Nachbarn und Hobby-Genealogen waren die Zuträger und nahmen der Polizei die Arbeit ab.“ Kathi, eine der Dorn-Töchter, wird zwangssterilisiert, verstümmelt. Aber die eigentliche Hölle steht noch bevor: Im Lager müssen die Dorns mit vielen anderen Verschleppten Zwangsarbeiten verrichten, fünf der Kinder sterben, und die anderen Mitglieder der Familie sind bis an ihr Lebensende gezeichnet.
Ursula Krechel spiegelt die Schrecken der Nazi-Herrschaft nicht nur in der Schaustellerfamilie Dorn. Das Erzählgewicht verschiebt sich in den weiteren Kapiteln des Buches immer wieder hin zu anderen Figuren. Da sind die Geschwister Orli und Willi Torgau, die im kommunistischen Untergrund gegen die Nazis kämpfen und schließlich von Orlis Ehemann verraten werden. Da ist Franz Neumeister, angehender Arzt, der zwar kein überzeugter Parteigänger der neuen Machthaber ist, sich aber mit den Verhältnissen zu arrangieren versteht. Oder die weltläufige Hotelerbin Grit Berghausen, die der Liebe wegen ins provinzielle Trier zieht und ihren Verlobten im Krieg verliert.
Und es gibt den Polizisten-Vater des Erzählers Bernhard Blank. Namen werden in Romanen ja eher selten zufällig gewählt, und so ist die Leerstelle – Blank – bewusst gesetzt: MEINVATER wird dieser gewalttätige, opportunistische Mann ausschließlich genannt. Die Versalien deuten nicht nur die Allmacht des Patriarchen an. MEINVATER ist ein Prinzip. Er steht für viele Väter, die ihre Pflicht erfüllt haben und sich nach dem Krieg über die Verbrechen, an denen sie beteiligt waren, ausschwiegen. An allen möglichen Polizeiaktionen, Deportationen, Gewalttätigkeiten sieht der sich erinnernde Bernhard seinen Erzeuger beteiligt – was er wirklich getan hat, bleibt im Vagen, blank eben. Blank senior ist der prototypische Mitläufer, der zum Täter wird.
„Geisterbahn“ liefert nicht zuletzt auch eine Chronik der Römerstadt Trier im Dritten Reich, in der erzählerisch genau die atmosphärischen Veränderungen und die ganz konkreten Maßnahmen des neuen Regimes registriert werden. Historische Personen treten hier auf, werden immer wieder zitiert, vom Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer bis zum Reichsarbeitsminister Seldte, von Peter Weiss bis zu einem „englischen Reisenden“, hinter dem sich der Dichter Stephen Spender verbirgt.
Und es werden die unverarbeiteten Folgen des Krieges beleuchtet: Im Klassenzimmer treffen sich die kurz nach Kriegsende geborenen Kinder der Protagonisten. Annchen, die jüngste Tochter der nach der Befreiung weiterhin ausgegrenzten Dorns, die mit ein paar Flaschen Wein als Reparationszahlung abgespeist werden sollen; Iris, die Tochter Grit Berghausens und eines französischen Besatzungsoffiziers – worüber natürlich nicht gesprochen werden kann; Cecilia, das Kind des Psychiaters Franz Neumeister; Aurelia, die Tochter des seinen Idealen treu gebliebenen Kommunisten Willi Torgau. Und natürlich Bernhard, der Sohn SEINESVATERS.
Es gibt bei all diesen Figuren zum einen die äußeren Wunden. Man könnte sie aufzählen, die Versteifung eines Fingers, die Tuberkulose-Erkrankung, die Narben von Sterilisationen und Folterungen. Und da sind zum anderen Verwundungen, die man nicht sieht, die diese Menschen von innen her auffressen. Und die sie an die Nachkommen weitergeben werden.
„Ein Kind kennt keine Melancholie. Es kennt etwas anderes, die dramatische Traurigkeit, die es in sich einschließt. Später, später wird es andere Empfindungen kennenlernen, düstere und glückliche, mehr wird nach seinen Wünschen geschehen, anderes wird ihm schlankweg verweigert. Man schenkt ihm Gehör, es muss nicht mehr schreien, um Aufmerksamkeit betteln. Jetzt ist die Traurigkeit ein dunkler, schmutziger Sack, der sich über das Kind stülpt, in dem es vor Panik strampelt. Angst im Bauch, Angst vor einem Polizisten, der MEINVATER ist, Angst vor Schäferhunden, Angst, die nicht aufhört.“ In den Fünfzigerjahren gibt es keine Sprache für diese Ängste, auch das zeigt Ursula Krechel. Alles wird umkreist, aber niemals benannt. Es ist eine beklemmende Atmosphäre des Schweigens, der Schuld, die über den wiederaufgebauten Städten liegt.
Der kleine Bernhard muss wegen einer Atemstörung den Psychiater Dr. Neumeister aufsuchen. Psyche und Atmung sind bekanntlich eng miteinander verbunden, Asthma und Panikattacke lassen sich symptomatisch manchmal nicht unterscheiden. Bernhard ist nicht das einzige Kind, das im Wartezimmer von Dr. Neumeister sitzt. Erst der Tod des Vaters bringt Linderung.
Wieder hat Krechel, wie schon in den vorangegangenen Romanen, ausgiebig in Archiven recherchiert, hat das Gefundene so in die Geschichte eingefügt, dass man die Nähte noch wahrnehmen kann. Dieses collagierende Verfahren prägte „Shanghai fern von wo“ und „Landgericht“, und man hat den Eindruck, dass die Autorin es in ihrem neuen Roman noch weiter verfeinert hat: Noch immer sind die Übergänge zwischen Realität und Fiktion zu erkennen, aber doch gibt es einen von den Fundstücken und historischen Quellen kaum unterbrochenen Erzählfluss.
Wenn es um traumatische Vergessensleistungen gehe, sagte Ursula Krechel einmal, sei es unangemessen, zu viel zu erfinden. Die Autorin nimmt sich bewusst zurück. An die Stelle von Erfundenem setzt sie Lücken, in denen die Gefühlswelt der teils historisch verbürgten Figuren aufgehoben ist. Das bedeutet zugleich, auch den Erzählton zurückhaltend zu gestalten: Tatsächlich ist Ursula Krechels Sprache auf wunderbare Weise besonnen, keinesfalls nüchtern, aber eben auch nicht effektvoll. Immer wieder gibt es Sätze, die von einer bestechenden Wahrhaftigkeit und sprachlichen Schönheit sind – aber das Erzählen, so ausschweifend und genau es auch ist, hat zugleich etwas Verschwiegenes.
Krechel schützt damit ihre Figuren, deren aus der Vergangenheit rührende Schreckenserfahrungen in ihnen verschlossen bleiben, sich aber in Gesten, Krankheiten, Übersprungshandlungen äußern. Ja, man könnte sagen, Ursula Krechel ist eine dezente Berichterstatterin des Geschehenen. Und doch ändert sich die Temperatur, der Rhythmus des Textes, je nachdem, ob sie Bernhard von den Dorns sprechen lässt oder mit ihrem Chronisten die Versäumnisse und Inkonsistenzen ihrer eigenen 68er-Generation abbildet.
Dass es keine Stunde null gab, keine wundersame Verwandlung eines fanatisierten Volkes in lupenreine Demokraten, keine wirkliche Entschädigung und ernsthafte Entschuldigung, keine Gerechtigkeit – daran sollte man sich immer wieder erinnern, wenn die Geschichte der Bundesrepublik bei festlichen Anlässen zur reinen Erfolgssaga überhöht wird. Ursula Krechel leistet diese Erinnerungsarbeit in ihrer nun zur Trilogie angewachsenen Romanfolge auf eindringliche, literarisch höchst reflektierte und bewegende Weise. Und sie zeigt, dass die Vergangenheit nicht bewältigt ist, ja, noch nicht einmal vergangen.
Die Lehrer, geprägt von der
Hitler-Zeit, machen weiter, als
wäre fast nichts geschehen
Asthma und Panikattacke
lassen sich symptomatisch
manchmal nicht unterscheiden
Das Erzählen, so ausschweifend
und genau es auch ist, hat
zugleich etwas Verschwiegenes
Ursula Krechel,
geboren 1947 in Trier, lebt
in Berlin. Ihr Roman
„Landgericht“ wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2012
ausgezeichnet und mit
Johanna Wokalek und
Ronald Zehrfeld für das
Fernsehen verfilmt.
Foto: Gunter Gluecklich
Ursula Krechel:
Geisterbahn. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2018. 640 Seiten, 32 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Den Rezensenten Andreas Platthaus hat der letzte Teil von Krechels Romantrilogie zur deutschen Nachkriegszeit schwer beeindruckt, auch wenn er sich bei der Lektüre anstrengen musste, weil die Autorin ihm eine solche Fülle an Figuren präsentiert. Dennoch fand er es großartig, dass sie zeigt, wie die ehemaligen Täter und Opfer des zweiten Weltkriegs bei Trier im täglichen Leben aufeinandertreffen. Schneidend seien vor allem die Passagen über die wenigen Mitglieder der Sinti-Familie Dorn, die die Verfolgung durch die Nazis überlebt hätten. Außerdem hat der nicht zuletzt berührte Rezensent Rhythmus und Sprachgewalt des Romans bewundert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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