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Man schreibt das Jahr 1875. An einem stürmischen Nachmittag treffen im Haus eines pensionierten Kapitäns sechs Menschen zu einer spiritistischen Sitzung zusammen. Da ist z. B. eine lebenslustige Witwe, die die Gabe besitzt, Botschaften aus dem Jenseits in Trance niederzuschreiben, oder eine ältliche Jungfer, die fast ohne Anstrengung in eine andere Welt gleiten kann; nicht zu vergessen, der als Spiritus rector fungierende Diakon der Swedenborgianischen Kirche des Neuen Jerusalem Mr. Hawke mit seiner Vorliebe, Reden über die körperliche Liebe im Jenseits zu halten. Mit diesem Roman knüpft die…mehr

Produktbeschreibung
Man schreibt das Jahr 1875. An einem stürmischen Nachmittag treffen im Haus eines pensionierten Kapitäns sechs Menschen zu einer spiritistischen Sitzung zusammen. Da ist z. B. eine lebenslustige Witwe, die die Gabe besitzt, Botschaften aus dem Jenseits in Trance niederzuschreiben, oder eine ältliche Jungfer, die fast ohne Anstrengung in eine andere Welt gleiten kann; nicht zu vergessen, der als Spiritus rector fungierende Diakon der Swedenborgianischen Kirche des Neuen Jerusalem Mr. Hawke mit seiner Vorliebe, Reden über die körperliche Liebe im Jenseits zu halten. Mit diesem Roman knüpft die englische Autorin Antonia S. Byatt an ihren Bestseller "Besessen" an.
Autorenporträt
A. S. Byatt gelangte mit ihrem Roman "Besessen", der 1990 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde, zu Weltruhm. Ihr Werk umfasst neun Romane, zahlreiche Erzählungen und literaturkritische Texte; für ihr Schaffen wurde sie vielfach ausgezeichnet und 1999 von der Queen zur Dame Commander of the British Empire ernannt. A. S. Byatt kam 1936 in Yorkshire zur Welt, hat drei Töchter und lebt in London.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995

Die feuchten Hände des Habichts
Antonia Byatt liebt die Fusion des Entlegenen mit dem Abgestandenen / Von Lothar Müller

Von geschlossenen Kreisen in geschlossenen Räumen läßt sich gut erzählen. Zumal wenn einige seltsame Vögel darunter sind. Sind nicht Swedenborg zufolge die Vögel die gestaltgewordenen Gedanken der Engel?

Der Rabe Aaron, der im Salon von Mrs. Jesse den Sitzungen ihres spiritistischen Zirkels beiwohnt, ist ein vor Bedeutung schillerndes Geschöpf. Sein Stammbaum geht bis auf den Raben Noahs zurück, und er heißt wie eine Figur aus Shakespeares "Titus Andronicus". Zu seinen näheren Vorfahren gehören die krächzenden Vögel des Todes und der Melancholie von Coleridge bis Edgar Allan Poe. Was aber das Wiedersehen mit den Toten angeht, so wird aus dem "Nevermore" unter Aarons Blicken das "heute noch!".

Mrs. Byatt liebt dergleichen Zeichenzauber und Schwarzkunst der Buchstaben. Ihre Bücher sind Gespinste aus Anspielungen, apokryphen Zitaten, mehrdeutigen Verweisen und Reminiszenzen aus der Universalbibliothek. In die Namen der Figuren, die sie anno 1875 in Margate an der stürmischen englischen Kanalküste zur Séance versammelt, sind Abbreviaturen literarischer Genealogien sorgfältig eingraviert. Auf Mrs. Hearnshaw, die ziemlich genau so heißt wie eine Hauptfigur aus Emily Brontës "Wuthering Heights", lastet schwer das Erbe romantischer Literatur. Sie ruft nach den fünf Kindern, die ihr ein dämonisches Schicksal im Lauf von sieben Jahren genommen hat.

Auf Mr. Hawke, dem esoterischen Doktrinär und Diakon der "Kirche des Neuen Jerusalem", ruht unnachsichtig der böse Blick der satirischen Tradition. Die Namensmagie läßt ihn als groteskes Mischwesen irgendwo zwischen Habicht und Hausierer erscheinen. Gern schiebt der selbsternannte Ausleger Swedenborgs und der Apokalypse seine feuchten Hände in die der Damen, zumal wenn er neben Mrs. Papagay sitzt. Die hat ihren exotischen Namen von ihrem auf See verschollenen Ehemann, zollt in Trance und Träumen der alten Verbindung von Exotismus und Sinnlichkeit Tribut und hält sich im bürgerlichen Leben als halbprofessionelles Medium über Wasser. Auch in der Provinz schlägt die Fusion von Spektralanalyse und Spiritismus Funken. Man weiß in Mrs. Jesses Salon, daß die Abgeschiedenen das violette Licht besonders lieben.

Irgendwie gerieten im neunzehnten Jahrhundert Physik und Metaphysik, die letzten und die vorletzten Dinge durcheinander. Mrs. Byatt liebt dieses Durcheinander. Als allegorisches Höllentier hüllt der Hund Pug den Zirkel in übelriechende Dämpfe, während man die Toten statt zum Jüngsten Gericht zur Séance herbeizitiert. Doch ist das Tableau einer detailgenau rekonstruierten viktorianischen Geisterbeschwörung nur an den Rändern ins Licht der Ironie getaucht. Weder erscheinen die Rituale des Tischerückens, der Klopfzeichen und der in Trance aufgefangenen Bilder und Worte als Selbstmystifikationen einiger älterer Damen und Herren von eher schlichtem Gemüt, noch werden sie in die Requisitenkammer pfiffiger Scharlatanerie verwiesen.

Im Innern des Zirkels siedelt Mrs. Byatt nicht das leere Nichts an, das vom Spuk nach seiner Aufklärung bleibt. Die größte mediale Begabung des Kreises ist Mrs. Papagays Haushälterin und spiritistische Gehilfin, die taubengrau-altjüngferliche Miss Sophy Sheekhy. Ihr Name verweist ausdrücklich auf die "Pistis Sophia" der Gnostiker. Sie ist ohne Arg und jeglicher Täuschungsabsicht unverdächtig. Die Geister, die sie sieht, sind durchaus nicht nichts. Sie diktieren Mrs. Papagay mittels der Technik des automatischen Schreibens Texte, wie Mrs. Byatt sie liebt: mehrdeutige, auslegungsbedürftige Gespinste, die sich nur dem erschließen, der die Anspielungen und verborgenen Zitate von Dante über Milton und Keats bis zu Tennyson zu entschlüsseln weiß. Mrs. Emily Jesse, die Kapitänsfrau und Gastgeberin, ist dieser ideale Leser. Denn zwar ist ihr Name unscheinbarer als die anderen, dafür aber nicht erfunden.

Emily Jesse war die Schwester von Alfred Tennyson, dem "poeta laureatus" des viktorianischen England. Ihre im Alter entwickelte Neigung zum Spiritismus ist verbürgt. Ihre erste große Liebe war der Jugendfreund Tennysons, Arthur Henry Hallam, der 1833 im Alter von 22 Jahren starb. Seine Gestalt, sein Tod und seine Schriften, die sein Vater, der Historiker Henry Hallam, 1834 unter dem Titel "Remains in Verse and Prose" herausgab, stehen im Zentrum dieser "Geisterbeschwörung", die im Original "The Conjugal Angel" heißt. "Remains" - das ist ein sehr doppeldeutiges Wort. Es bedeutet die "literarische Hinterlassenschaft" ebenso wie die "sterblichen Überreste". Beide spuken in diesem Buch herum, und beide treffen auf ein anderes Buch: Tennysons großen Gedichtzyklus "In Memoriam" (1850), ein Epitaph auf Arthur Henry Hallam lange nach dessen Tod.

Ihren internationalen Durchbruch erzielte die nunmehr achtundfünfzigjährige Mrs. Byatt mit dem Roman "Besessen" (deutsch 1993), für den sie den "Booker-Prize" erhielt. Der erfundene viktorianische Poet, dessen geheimnisvoller Beziehung zur ebenso erfundenen Dichterin Christabel LaMotte die mit allen Wassern moderner Literaturwissenschaft gewaschenen Helden dieses Buches nachspüren, heißt Randolph Henry Ash. Als Autor von Lazarus-Gedichten und Leser der "Principles of Geology" von Georges Lyell trägt er Züge Alfred Tennysons. Die naturgeschichtlichen Obsessionen der viktorianischen Kultur hat Mrs. Byatt am Beispiel eines Ameisenforschers in dem Roman "Morpho Eugenia" (deutsch 1994) zum Zentralmotiv gemacht.

In diesem neuen Buch knüpft sie an den von Tod, Staub und Vergangenheit sprechenden Namen ihres fiktiven viktorianischen Poeten an: "Ash". Es ist um die These herumgebaut, daß Spiritismus und viktorianische Literatur kraft einer formalen Analogie Verwandte sind. Beide erscheinen als Zentren des Totenkultes in einer Welt, in der die Vergangenheit über die Gegenwart herrscht. Innerhalb der obsessiven Gedächtniskultur der viktorianischen Gesellschaft rivalisiert die Literatur als Medium der Heraufbeschwörung der Toten mit den Medien der Séancen. Ode und Elegie, an deren große Zeit in der Romantik Tennysons "In Memoriam" anknüpft, sind wie das Violett der Spektralanalyse Asyle der zeittypischen Ängste, Dämonen und Hoffnungen. In ihrem Zentrum stehen die vier Letzten Dinge - Tod, Gericht, Himmel und Hölle -, die freilich im Lichte der vorletzten Einsichten des Positivismus, des Materialismus und des Darwinismus die Gemüter heimsuchen. Zäh haften die Seelen, die man herbeirufen will, am Schicksal der Körper. Keine Stimme aus dem Jenseits, die nicht vom Phantasma der im Grab verwesenden Leiche begleitet würde.

Vor diesem Hintergrund hat Mrs. Byatt ihr "In Memoriam" für Emily Jesse vor allem als Apologie der Hochzeit geschrieben, durch die aus Emily Tennyson Mrs. Jesse wurde, die Frau des Kapitäns. Vielen Zeitgenossen erschien das Heraustreten aus dem Schatten des toten Dichters als skandalöse Untreue einer Braut, die man gern in lebenslanger Trauer hätte erstarren sehen. Der plakativen Schlußpointe, die den totgeglaubten Mr. Arturo Papagay in die Arme seiner sinnenfrohen Gattin zurückkehren läßt, hätte es nicht bedurft, um Mrs. Byatts Plädoyer für die Rechte der lebendigen Emilys gegenüber den toten Arthurs deutlich werden zu lassen.

Leider wird der novellistische Charme des Buches im übrigen dadurch beschädigt, daß Mrs. Byatt es bei der Erinnerungsgeschichte Emily Jesses vor violettem Séance-Tableau nicht beläßt. Die Literaturhistorikerin in ihr läßt es sich nicht nehmen, auch noch Alfred Lord Tennyson selbst herbeizubeschwören, der erst 1892 starb. Miss Sophy Sheekhy hätte die Zumutung besser abgelehnt, einem noch Lebenden ihre medialen Fähigkeiten zuzuwenden, auch wenn der unheimlich blaß bleibt. Denn leider wird dadurch der geschlossene Kreis des Erzählens aufgesprengt. Ein kaum maskierter Essay von Mrs. Byatt über Tennysons "In Memoriam" schiebt sich störend vor das um Mrs. Jesse zentrierte spiritistische Tableau. Aus den fragmentierten Zitaten des Erzählens werden ganze Strophen von belegenden Zitaten aus Tennysons Gedichten, an denen die beträchtliche Kunst der Übersetzerin Melanie Walz an ihre Grenzen stößt. Mrs. Jesse ist noch kaum aus dem Schatten ihres toten Verlobten herausgetreten, da fällt über sie schon der Schatten des berühmten Bruders. Das mißbilligende Krächzen ihres Raben angesichts dieses Eindringlings ist zwischen den Zeilen unüberhörbar.

Antonia S. Byatt: "Geisterbeschwörung". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1995. 188 S., geb., 38,- DM.

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