In ihrem neuen Gedichtband Geistersehen nähert sich Marion Poschmann dem Sichtbaren über das Unsichtbare: der Leere, der Zeit, den Gründen und Abgründen des Ich. Dabei nutzt sie die Vielschichtigkeit der Wahrnehmung aus und geht bis zu den Grenzen, zu denen der einzelne mittels der Macht der Einbildungskraft vordringen kann. Ihr lyrisches Ich begibt sich an den Punkt der Unschärfe und beobachtet von dort, wie Wirklichkeit entsteht und sich wieder auflöst.In spielerischer Anlehnung an die Tradition des poeta vates widmet sie sich der Betrachtung von Kräuterbüchern, Renaissance-Portraits oder dem »Wiedehopf auf Truppenübungsplätzen«; sie entwirft flirrende Verse für bislang Ungesehenes, etwa »das Nivea-Gefühl« oder »Minusmengen«, und sie findet strenge Formen für Flüchtigstes wie Dampf, Glanz, »Schall und Rauch«. Ihre Gedichte handeln vom Überschwang der Bilder und von dem, was diese Bilder verdecken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2010Auf den Lehrpfaden der Abwesenheit
Als käme Klarheit auf, als öffneten sich Fenster: Neue Gedichte Marion Poschmanns erzählen vom Scheitern der Blicke.
Von Wulf Segebrecht
Was sieht eigentlich wirklich, wer Geister sieht? Sieht er Produkte seiner Einbildungskraft oder real existierende Phänomene? Schon diese alternative Frage hat viel mit Kunst zu tun: Denn sie stellt das Visionäre dem Realistischen gegenüber, die Geisterbeschwörung dem konkreten Befund, und beiden Wahrnehmungsformen lassen sich spezifische Künstlertypen zuordnen: Man kennt in allen mimetischen Künsten den trunkenen, von göttlicher Eingebung begeisterten Seher und den nüchtern Beobachtenden, der notiert und mehr oder weniger geistvoll deutet, was vor aller Augen liegt.
In Marion Poschmanns neuem Gedichtband trifft man beides an: Da ist von Thomas Manns Teilnahme an okkulten Geisterbeschwörungsséancen beim Freiherrn von Schrenck-Notzing ebenso die Rede wie von umspringenden Ampeln während einer Autofahrt oder von den buntesten Badebekleidungen in einem Schwimmbad. Aber die Bilder, die sich hier wie dort bei der Betrachtung der Geister und der Dinge einstellen, sind uneindeutig, unscharf, vage, trügerisch. Dementsprechend heißen die Überschriften der Zyklen des Gedichtbandes "Testbilder", "Störbilder", "Spiegelungen", "unscharfe Jahreszeiten", "Trugbilder: Herbarium", "die Geisterseher", "Nachbilder: Kanäle", "Bildnisse", "Lehrpfad der Abwesenheit" - stets geht es um die Unverlässlichkeit des Sichtbaren. "Was uns die Sicht verbarg, / war das Sichtbare", heißt es in einem "Imponderabilien" überschriebenen Gedicht, das den Dialog zwischen Vater und Sohn aus Goethes "Erlkönig" in den Dialog einer schwangeren Mutter mit der Tochter in ihrem Leib transponiert. Nebel, Dampf, Dunst und Dämmerung befördern hier und in manchen anderen Gedichten die Undurchschaubarkeit und Unfassbarkeit der Erscheinungen: "es ist / nichts zu erkennen".
Die "Einsichten" und die "Aussichten", die bei solcher Betrachtung gewonnen werden, sind gleichermaßen vage, wie beispielhaft zwei aufeinander folgende kunstgerecht gereimte Sonette in passablen Alexandrinern zeigen; das zweite von ihnen ("vage Aussichten") beschreibt am selbst schon bezeichnenden Beispiel von Quallen, in welche Widersprüche die Bemühungen führen, sie zu begreifen: "ich sah die Quallen schweben, / sah ihren Körper kaum, ein blasser Sack, nicht mehr / erkennbar als ein Ding des Wassers. gläsern, leer / der blanke Hintergrund, an dem Gedanken kleben, / als käme Klarheit auf. als öffneten sich Fenster / auf das, was war, auf nichts. Erinnerungsgespenster, / zu ungreifbar, zu zart. die Blicke scheitern hier." Das Scheitern der Blicke, die Aussichtslosigkeit, eine bequeme Eindeutigkeit bei der Entzifferung der sichtbaren Welt zu erreichen, ist das Leitthema.
Dabei benötigt Marion Poschmann nur selten die festgefügte Form des Sonetts, die bündige, sentenzhafte Aussagen begünstigt. Die meisten Gedichte sind reimlos und frei von metrischen Schemata, sie bedienen sich allerdings durchaus einer stark rhythmisch und rhetorisch bestimmten Sprache und einer ins Auge springenden kleinteiligen strophischen Gliederung, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Verlauf und auf das oft pointierte Ende der Gedichte lenkt. Nicht selten gehen sie von einer Situation, einer Begebenheit, einem Natur- oder Kunstphänomen aus, führen dann in eine Reflexions-, Abstraktions- oder Metaphorisierungsphase und münden ein in einen resümierenden Rückbezug auf das betrachtende Subjekt oder das betrachtete Objekt.
"Zählbares lag. lag da und wartete / auf unsern Blick" - so beginnt das Gedicht "Tilia cordata (Winterlinde)"; es geht aus von der zählbaren Umgebung (Plattenbau und Imbissbude) dieses Baums mit seinem unzählbaren Lindenduft und der Heilkraft des Lindenblütentees, sieht ihn dann abstrahierend "eingefaßt von meinem / Denken in blumigen Mustern", um mit der generellen ironischen Pointe zu schließen: "erst jetzt wussten / wir, was Blümchentapete bedeutet. / und die Beweislast liegt immer bei uns." Mit der Rationalität der Zahlen und mit Nützlichkeitserwägungen ist dem Lindenbaum offensichtlich nicht beizukommen.
Selten begegnet man einem Gedichtband, der eine so sorgfältig gestaltete thematische Gesamtkonzeption mit weitreichender Gedanklichkeit und sinnlich wahrnehmbarer, konkreter Bilderwelt verbindet, ohne das denkende, fühlende und redende Ich auszuschließen. Es ist allerdings kein von den Befunden überwältigtes Ich, das bekennt, wie es leidet oder was es beglückt. Ein Rest von Distanz gegenüber den Phänomenen bleibt immer präsent. Das äußert sich schon darin, dass die meisten Gedichte die Vergangenheitsform bevorzugen: Das Imperfekt regiert, das Referat; nicht gegenwärtiges Empfinden, sondern das Nachdenken über Vergangenes. Ein epischer Grundzug, der Hauch der Historizität haftet den Gedichten an. Man könnte fast von Berichtgedichten sprechen. Distanzierend wirken auch die Kunstmittel der Mehrdeutigkeit, der Anspielungen und Zitate (sogar Rilkes "verneinende Gebärde" kommt einmal vor) und besonders die auf neue Art verbundenen Hauptwörter, in denen man jeweils ebenso poetische wie reflexive Konzentrate der Betrachtungen erkennen kann: "Zerpflückungswünsche", "Verwirrungsmuster", "Auflösungsängste" - seit Gottfried Benn hat niemand solche Kombinationen so souverän produktiv gemacht.
Marion Poschmanns Gedichte wenden sich geist- und kunstvoll dem Heikelsten zu, was der Lyrik nachgesagt werden kann: dem Unklaren, dem Unfassbaren, dem "holden Ungefähr". Aber sie zählen dabei nicht auf das gefühlige Mitschwingen, sondern auf das um Aufklärung bemühte Nachdenken des Lesers. Das macht sie zu einem beglückenden Leseerlebnis.
Marion Poschmann: "Geistersehen". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 126 S., geb., 17,80 [Euro].
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Als käme Klarheit auf, als öffneten sich Fenster: Neue Gedichte Marion Poschmanns erzählen vom Scheitern der Blicke.
Von Wulf Segebrecht
Was sieht eigentlich wirklich, wer Geister sieht? Sieht er Produkte seiner Einbildungskraft oder real existierende Phänomene? Schon diese alternative Frage hat viel mit Kunst zu tun: Denn sie stellt das Visionäre dem Realistischen gegenüber, die Geisterbeschwörung dem konkreten Befund, und beiden Wahrnehmungsformen lassen sich spezifische Künstlertypen zuordnen: Man kennt in allen mimetischen Künsten den trunkenen, von göttlicher Eingebung begeisterten Seher und den nüchtern Beobachtenden, der notiert und mehr oder weniger geistvoll deutet, was vor aller Augen liegt.
In Marion Poschmanns neuem Gedichtband trifft man beides an: Da ist von Thomas Manns Teilnahme an okkulten Geisterbeschwörungsséancen beim Freiherrn von Schrenck-Notzing ebenso die Rede wie von umspringenden Ampeln während einer Autofahrt oder von den buntesten Badebekleidungen in einem Schwimmbad. Aber die Bilder, die sich hier wie dort bei der Betrachtung der Geister und der Dinge einstellen, sind uneindeutig, unscharf, vage, trügerisch. Dementsprechend heißen die Überschriften der Zyklen des Gedichtbandes "Testbilder", "Störbilder", "Spiegelungen", "unscharfe Jahreszeiten", "Trugbilder: Herbarium", "die Geisterseher", "Nachbilder: Kanäle", "Bildnisse", "Lehrpfad der Abwesenheit" - stets geht es um die Unverlässlichkeit des Sichtbaren. "Was uns die Sicht verbarg, / war das Sichtbare", heißt es in einem "Imponderabilien" überschriebenen Gedicht, das den Dialog zwischen Vater und Sohn aus Goethes "Erlkönig" in den Dialog einer schwangeren Mutter mit der Tochter in ihrem Leib transponiert. Nebel, Dampf, Dunst und Dämmerung befördern hier und in manchen anderen Gedichten die Undurchschaubarkeit und Unfassbarkeit der Erscheinungen: "es ist / nichts zu erkennen".
Die "Einsichten" und die "Aussichten", die bei solcher Betrachtung gewonnen werden, sind gleichermaßen vage, wie beispielhaft zwei aufeinander folgende kunstgerecht gereimte Sonette in passablen Alexandrinern zeigen; das zweite von ihnen ("vage Aussichten") beschreibt am selbst schon bezeichnenden Beispiel von Quallen, in welche Widersprüche die Bemühungen führen, sie zu begreifen: "ich sah die Quallen schweben, / sah ihren Körper kaum, ein blasser Sack, nicht mehr / erkennbar als ein Ding des Wassers. gläsern, leer / der blanke Hintergrund, an dem Gedanken kleben, / als käme Klarheit auf. als öffneten sich Fenster / auf das, was war, auf nichts. Erinnerungsgespenster, / zu ungreifbar, zu zart. die Blicke scheitern hier." Das Scheitern der Blicke, die Aussichtslosigkeit, eine bequeme Eindeutigkeit bei der Entzifferung der sichtbaren Welt zu erreichen, ist das Leitthema.
Dabei benötigt Marion Poschmann nur selten die festgefügte Form des Sonetts, die bündige, sentenzhafte Aussagen begünstigt. Die meisten Gedichte sind reimlos und frei von metrischen Schemata, sie bedienen sich allerdings durchaus einer stark rhythmisch und rhetorisch bestimmten Sprache und einer ins Auge springenden kleinteiligen strophischen Gliederung, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Verlauf und auf das oft pointierte Ende der Gedichte lenkt. Nicht selten gehen sie von einer Situation, einer Begebenheit, einem Natur- oder Kunstphänomen aus, führen dann in eine Reflexions-, Abstraktions- oder Metaphorisierungsphase und münden ein in einen resümierenden Rückbezug auf das betrachtende Subjekt oder das betrachtete Objekt.
"Zählbares lag. lag da und wartete / auf unsern Blick" - so beginnt das Gedicht "Tilia cordata (Winterlinde)"; es geht aus von der zählbaren Umgebung (Plattenbau und Imbissbude) dieses Baums mit seinem unzählbaren Lindenduft und der Heilkraft des Lindenblütentees, sieht ihn dann abstrahierend "eingefaßt von meinem / Denken in blumigen Mustern", um mit der generellen ironischen Pointe zu schließen: "erst jetzt wussten / wir, was Blümchentapete bedeutet. / und die Beweislast liegt immer bei uns." Mit der Rationalität der Zahlen und mit Nützlichkeitserwägungen ist dem Lindenbaum offensichtlich nicht beizukommen.
Selten begegnet man einem Gedichtband, der eine so sorgfältig gestaltete thematische Gesamtkonzeption mit weitreichender Gedanklichkeit und sinnlich wahrnehmbarer, konkreter Bilderwelt verbindet, ohne das denkende, fühlende und redende Ich auszuschließen. Es ist allerdings kein von den Befunden überwältigtes Ich, das bekennt, wie es leidet oder was es beglückt. Ein Rest von Distanz gegenüber den Phänomenen bleibt immer präsent. Das äußert sich schon darin, dass die meisten Gedichte die Vergangenheitsform bevorzugen: Das Imperfekt regiert, das Referat; nicht gegenwärtiges Empfinden, sondern das Nachdenken über Vergangenes. Ein epischer Grundzug, der Hauch der Historizität haftet den Gedichten an. Man könnte fast von Berichtgedichten sprechen. Distanzierend wirken auch die Kunstmittel der Mehrdeutigkeit, der Anspielungen und Zitate (sogar Rilkes "verneinende Gebärde" kommt einmal vor) und besonders die auf neue Art verbundenen Hauptwörter, in denen man jeweils ebenso poetische wie reflexive Konzentrate der Betrachtungen erkennen kann: "Zerpflückungswünsche", "Verwirrungsmuster", "Auflösungsängste" - seit Gottfried Benn hat niemand solche Kombinationen so souverän produktiv gemacht.
Marion Poschmanns Gedichte wenden sich geist- und kunstvoll dem Heikelsten zu, was der Lyrik nachgesagt werden kann: dem Unklaren, dem Unfassbaren, dem "holden Ungefähr". Aber sie zählen dabei nicht auf das gefühlige Mitschwingen, sondern auf das um Aufklärung bemühte Nachdenken des Lesers. Das macht sie zu einem beglückenden Leseerlebnis.
Marion Poschmann: "Geistersehen". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 126 S., geb., 17,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ganz scheint Rezensent Tobias Lehmkuhl von diesem Gedichtband nicht. Marion Poschmann weiß, was sie tut, so viel ist ihm klar, unbedacht geht sie nie vor. Es ist eine Welt der Auflösung, die Poschmann hier zeigt, alles verschwindet in Nebel, Dunst und Ungewissen, worüber auch die Alliterationen den Rezensenten nicht hinwegtäuschen können. Womit er aber nicht ganz klar kommt, ist eine gewisse Art der Selbstgenügsamkeit dieser Gedichte. Beteiligt oder in die Welt hineingezogen fühlte er sich als Leser nur selten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Was ... das Scheinwerferlicht scheut, ist große Poesie, wie man sie in den Zeiten des anything goes kaum noch für möglich gehalten hätte. Marion Poschmanns Gedichte leuchten die unscharfen Ränder des Lächelns aus und lassen in der Asche der Erinnerung längst vergessene 'Reste des Hundstage Mitte August' erglühen.«
Kurt Darsow, Literaturen 3 / 2010
Kurt Darsow, Literaturen 3 / 2010