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Autorenporträt
Heinz Schlaffer, 1939 in Böhmen geboren, lebt in Stuttgart, wo er bis 2004 Professor für Literaturwissenschaft war. Er verfasste zahlreiche Bücher, wissenschaftliche Aufsätze und Essays.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2012

O flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe!

Seit seiner "Kurzen Geschichte der deutschen Literatur" ist Heinz Schlaffer für Provokationen bekannt. Jetzt knöpft sich der streitbare Germanist die Dichtung vor - und macht selbst vor Eichendorff nicht halt.

Von Dirk von Petersdorff

Es gibt nicht mehr so viele Gedichte, die im öffentlichen Bewusstsein vorhanden sind. Eines, das dazu zählt, ist Rilkes "Herbsttag". Bei einem Staatsbesuch in Frankreich überraschte Gerhard Schröder seine Gastgeber einmal damit, dass er diese Verse aufsagte, mit dem berühmten Beginn: "Herr: es ist Zeit, der Sommer war sehr groß. / Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, / und auf den Fluren lass die Winde los."

Verschiedene Fragen lassen sich anschließen: Warum hat der Bundeskanzler das getan? Was würde Angela Merkel heute Sarkozy aufsagen? Aber man kann sich auch dem Gedicht zuwenden und überlegen: Was ist das eigentlich für eine merkwürdige Sprechhandlung? Wieso erinnert ein Mensch einen Gott daran, dass es nun Zeit sei, den Herbst beginnen zu lassen? Die Herbststürme werden doch auch einsetzen, ohne dass "groß" auf "Winde los" gereimt wird.

Heinz Schlaffer erklärt in seinem neuen Buch: Lyrik ist erfunden worden, um mit Geistern zu sprechen; sie ist Anrufung und hat klar benennbare Funktionen wie loben, grüßen, beschwören, bannen, fesseln, klagen, danken, mahnen, verfluchen. Rilkes "Herbsttag" ist demnach eigentlich der Normalfall, Ausnahme nur in einer lyrischen Moderne, die zu ihrem Schaden diese ursprünglichen Funktionen vergessen hat. Schlaffer fragt und argumentiert grundsätzlich: Wieso gibt es überhaupt lyrische Rede, die über Rhythmen und Klänge auffällig strukturiert ist, die für den Dichter schwer zu machen und für die Zuhörer oft nicht leicht zu verstehen ist? Wenn sich eine solche Sondersprache menschheitsgeschichtlich hält, muss sie Zwecke erfüllen. (Schlaffer denkt nicht biologisch, aber der Zeitgeist der Evolutionsbiologie beflügelt ihn durchaus).

Das Buch behauptet, indem es vorführt, und so finden sich Verse von den frühen Kulturen bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein, wird der Bogen geschlagen vom alten Ägypten bis zu Rilke und William Carlos Williams, alles mit leichter Hand und wunderbarer Souveränität vorgeführt. Schlaffer ist ein Leser, der sich faszinieren lässt, und das teilt sich seinen Lesern mit: wenn er auf Pindars lyrische Behauptung eingeht, er wisse, wie die Insel, die die Menschen Delos nennen, bei den Göttern heiße: "der dunklen Erde weitleuchtender Stern"; wenn er die Anrufung Marias "Meerstern, ich dich grüße" bewundert; wenn er Eduard Mörike, einen seiner Haupthelden zitiert: "O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe!"

Nicht ganz deutlich wird, welchem historischen Modell Schlaffer folgt. Scheint es gelegentlich so, als würden in der Geschichte der Lyrik die archaischen Mittel und Zwecke in linearer Entwicklung immer weiter zurücktreten, so wird an anderen Stellen in interessanter Weise so argumentiert, dass es in allen historischen Phasen ein Widerspiel von zweckgebundener und autonomer Lyrik gegeben habe. Schon in der Antike findet sich die Klage, dass Gedichte aus ihren kultischen Zusammenhängen gerissen worden seien und der Selbstdarstellung von fragwürdigen lyrischen Virtuosen dienten. Wäre dem so, dann müssten in der Gegenwart neben der lyrischen Selbstaussprache auch Verse existieren, die als "Geistersprache" Zwecken dienen. Und die findet Heinz Schlaffer auch: in Kinderversen, in den Gesängen der Fußballfans, "in denen der Sieg so sicher ist wie der rhythmisch geregelte Fortgang und Abschluss", vor allem aber im Rock und Pop.

Hier, in der Gegenwart angekommen, aktiviert Schlaffer gelegentlich auch jene Polemik, die in seiner stark diskutierten "Kurzen Geschichte der deutschen Literatur" (2002) hervortrat: "Sämtliche lyrischen Elemente, die sich in zweieinhalbtausend Jahren auseinanderentwickelt haben, vereinigt noch einmal der Auftritt des Popsängers: Vers, Gesang, Tanz, Musik. Nimmt man nur die Anzahl der Besucher von Rockkonzerten und der Hörer ihrer Einspielungen, so hat es nie zuvor eine so erfolgreiche Lyrik gegeben. Die stillen Dichter, um deren Gedichte es immer stiller wird, mögen nicht gern im lautstarken Popsänger die Auferstehung ihres Urbilds anerkennen."

Leider - aber man kann nicht alles haben - wird Schlaffer an dieser Stelle nicht konkret. Welche Songs wären es denn, in denen der Sänger als Schamane agiert, in denen er als von fremden Mächten Ergriffener erscheint? Aber darauf einzugehen ist nicht mehr Schlaffers Fall. "Noch heute lässt sich bei Wilden wie bei Besuchern von Rockkonzerten beobachten": Wer seine Sätze so beginnt, besucht eher selten Rockkonzerte, und auch in der Fankurve, metrische Feldforschung betreibend, kann man sich Heinz Schlaffer nicht gut vorstellen. Aber warum er die Kinderverse nur streift, die doch bestes Material bieten: "Heile, heile Segen, drei Tage Regen, drei Tage Sonnenschein, dann wird es wieder besser sein"?

Schlaffer aber läuft dort zur Hochform auf, wo er sich Goethes Gedicht "Mit einem gemalten Band" vornimmt und akribisch nachweist, dass es sich um die moderne Variation eines alten Liebeszaubers handelt, der die Geliebte in der Sprechhandlung an sich bindet.

Dass dieser Großessay meistens implizit, nur manchmal ausgesprochen, auch eine Kritik der lyrischen Moderne darstellt, ist schon angeklungen. Bereits in der "Kurzen Geschichte der deutschen Literatur" erschien die deutschsprachige Moderne als von Blässe angekränkelt, auf Betroffenheit und Authentizität festgelegt. Hier nun wird ihr vorgeworfen, dass sie ihre stärksten Mittel aufgegeben habe, die Schlaffer aus der Musik und dem Tanz herleitet. Mit der Rhythmik sei der Lyrik auch der Glaube an ihre Wirkung verlorengegangen. Es gibt Ausnahmen, zu denen der Autor Brecht mit seiner "Hauspostille" zählt, die auf religiöse Zweckformen zurückgreift, ebenso Rilke. Aber ansonsten wisse die moderne Lyrik oft nicht einmal zu sagen, was ein Vers sei.

Heinz Schlaffer trifft hier in der Tat einen wunden Punkt, wenn er vorführt, wie die Lyrik der Avantgarde versucht, willkürlich gesetzte Versgrenzen als notwendig auszuweisen. William Carlos Williams erklärte, die rhythmische Einheit sei ihm in einem Zwang zugefallen. Dazu Schlaffer: "Der Dichter mag einen lyrischen Zwang verspürt haben, der Leser verspürt ihn nicht, sondern sieht lediglich die aparte Druckanordnung."

Natürlich bleibt in einer thesenstarken Abhandlung die Differenzierung manchmal auf der Strecke. Dass zum Beispiel "alle" altägyptischen Gedichte eine sozial-kultische Funktion besaßen, würden vielleicht nicht alle Ägyptologen behaupten. Dass Eichendorffs "Mondnacht" einen Schamanenflug nachahme, wirkt etwas weit hergeholt. Darin zeigt sich auch ein gewisses Fremdeln mit der christlichen Tradition, die eigentlich für seine Thesen die stärkste Anschauung bietet. Immerhin macht Schlaffer sich für Lyrik-Anthologien stark, die selbstverständlich auch Kirchenlieder enthalten (wobei es, anders als er behauptet, diese Anthologien in der Gegenwart durchaus gibt).

Aber einem solchen gedanklichen Wurf, wie Heinz Schlaffer ihn hier hinlegt, kommt man nicht bei mit kritischen Seitenbemerkungen. Sein Plädoyer für eine Ästhetik, die von Originalität auf intelligente Variation umschaltet, wird erleichterte Zustimmung und verärgerte Widerrede hervorrufen. Man kann frohlocken, man kann widersprechen, nur langweilen kann man sich mit diesem Buch nicht.

Heinz Schlaffer: "Geistersprache". Zweck und Mittel der Lyrik.

Hanser Verlag, München 2012. 203 S., geb., 18,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

An einem Fest des Intellekts durfte Manfred Koch teilnehmen. Hans Schlaffers, wie Koch versichert, fern aller aufdringlichen Gelehrsamkeit oder lyrischen Ergriffenheit angesiedelter Gang durch die Lyrikgeschichte als durch ein kultisch gefärbtes Zauberreich aus Tanz, Musik und Sprache bietet ihm, alles, was der Kopf begehrt: Eine aufregende These (Lyrik ist Ansprache des Übernatürlichen), die souveräne Beherrschung der Lyrikgeschichte (von den Griechen bis zu den neueren europäischen und amerikanischen Literaturen) sowie der theoretischen Begriffe und einen klaren Stil. Dass Schlaffer zudem keine Lektürerezepte für Lyrik parat hat, sondern bloß seine Skepsis gegenüber sinnversessener Interpretation äußert, gefällt Koch außerordentlich.

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