Wir leben in einer Zeit, in der vieles bedroht ist, was lange als selbstverständlich galt: öffentliche Gesundheit, Demokratie und Friede, soziale Sicherheit, wirtschaftlicher Wohlstand und eine intakte Umwelt. Sogenannte Kippmomente bezeichnen solcherlei Situationen, in denen sich ein System (ökologisch, politisch oder sozial) plötzlich und unumkehrbar ändert. Das Wissen um sie ist für das Verständnis unserer komplexen Gegenwart essenziell.
Nils Goldschmidt und Stephan Wolf machen deutlich, dass Kippmomente keine unabänderbaren Schicksale sind, sondern beeinflusst und abgewendet werden können. Ein Buch, das zeigt, wie wir unsere Zukunft in einer sich immer schneller wandelnden Welt gestalten können, anstatt uns vor der nächsten Krise zu fürchten.
Nils Goldschmidt und Stephan Wolf machen deutlich, dass Kippmomente keine unabänderbaren Schicksale sind, sondern beeinflusst und abgewendet werden können. Ein Buch, das zeigt, wie wir unsere Zukunft in einer sich immer schneller wandelnden Welt gestalten können, anstatt uns vor der nächsten Krise zu fürchten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.2022Was Kippmomente erklären
Zwei Siegener Ökonomen widmen sich Krisen
Die Ökonomen Nils Goldschmidt und Stephan Wolf haben sich Großes vorgenommen. Sie haben festgestellt, dass in unserer Weltlage das mechanische Konzept des Kippmoments gute Erklärungs- und Lösungsansätze liefert. Ob Klimakrise, die Lage der Europäischen Union, die Finanzierung des Sozialstaats oder die Herausforderung aktueller Politik durch (Rechts-)Populismus - für Gesellschaften komme es darauf an, ein Kippen in unkontrollierbare Zustände zu verhindern. Goldschmidt und Wolf suchen nach Antworten, wie sich soziale Resilienz stärken lässt.
"Kippmomente sind Weggabelungen, und wir müssen jetzt die richtige Abzweigung finden", schreiben die Autoren - Professor der eine, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kontextuale Ökonomik der Universität Siegen der andere. Und sie lassen durchklingen, dass sie trotz der Komplexität und der Schwere ihrer politökonomischen Themen optimistisch sind. Zwar wüssten wir nicht, was in der Zukunft geschehen werde, aber Kippmomente ließen sich mit gut vorbereiteten Institutionen abwenden.
Als sie erste Skizzen des Buchs erstellten, begann die Corona-Pandemie. In einem der stärksten Abschnitte, dem Schlusskapitel, reflektieren sie, wie ihre Erkenntnisse zu Kippmomenten auf die Krisenpolitik anzuwenden ist. "Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keinen vergleichbaren Kippmoment, der so viele Menschenleben und wirtschaftliche Existenzen gekostet und unsere Freiheit so massiv bedroht hat", schreiben die Autoren. Bestehende Schwächen von Gesellschaften seien wie im Brennglas hervorgetreten: mangelnde Digitalisierung von Schulen, überkommene Strukturen von Gesundheitsämtern, Ungleichheit.
In ihrer Analyse beschreiben Goldschmidt und Wolf fair, wie Politiker in unterschiedlichen Ländern unter abweichenden Ausgangsbedingungen agiert haben. Die britische Regierung unter Boris Johnson schwang sich nach ihrer ursprünglichen Verkennung der pandemischen Lage zum Vorreiter in der Impfstoffbeschaffung auf. Israel zeichnete sich durch die schnellste Impfkampagne aus - aber auch nur, weil die Netanjahu-Regierung bereit war, dem Pfizer-Konzern große Gesundheitsdatenschätze zu öffnen.
Deutschland meisterte den ersten Lockdown bravourös, um sich dann in Kleinstaaterei zu verlieren. Doch es gelang den Akteuren, die Balance zwischen Freiheit und Gesundheitsschutz zu halten. Zu ihrem Urteil kommen sie, weil sie Behutsamkeit und Augenmaß extremen Sichtweisen vorziehen. Die Stärke in der Argumentation ist ihre Ausgewogenheit und Fairness. Sie fundieren ihre normativen Urteile auf grundlegende Prinzipien wie der Sozialen Marktwirtschaft, der sie ein eigenes Kapitel widmen. Sie sei eine Wettbewerbsordnung, die nicht die theoretischen First-Best-Lösungen der Wirtschaftswissenschaft propagiere. Eine Definition der Sozialen Marktwirtschaft sei nicht einfach, weil es keine theoretische Fibel gebe. Sie suche ihr Heil häufig im Second-Best. "Ein Vorgehen also, das aus unserer Sicht ideal zur Vermeidung von Kippmomenten geeignet ist."
Sympathisch ist der multidisziplinäre Ansatz der Autoren, die konventionell ökonomisch argumentieren, aber manchmal den Mainstream auch aufs Korn nehmen. Sie greifen auf Wissen aus der Ökologie, der Politikwissenschaft, der Philosophie zurück und streifen die Postwachstumsökonomie. Doch gemessen am Gesamtumfang sind einige Passagen zu deskriptiv geraten. Oft wird allzu Bekanntes noch einmal neu erzählt - so etwa der Kippmoment, als John D. Rockefellers Standard-Oil-Kartell zerschlagen wurde. Goldschmidt und Wolf nutzen das als Blaupause für den Umgang mit der Dominanz heutiger Technologiekonzerne wie Alphabet, Meta oder Apple. Doch das Prinzip, Bekanntes ausführlich noch einmal zu erzählen, findet sich an einigen Stellen des Buchs.
Da die Idee mit den Kippmomenten so bestechend ist, hätte man sich gewünscht, dass die Autoren mehr Mühen darauf verwenden, ihre Beschaffenheit im jeweiligen Kontext (Klima, Sozialstaat, Europa, China als Bedrohung) mehr ins Zentrum zu rücken. Dabei hätte vielleicht geholfen, das zwar einige Male genannte, aber nicht systematisch entwickelte Konzept der Resilienz genauer zu untersuchen. Hierzu gab es zuletzt beachtenswerte Arbeiten etwa aus einem Forschungsbereich der OECD. Daran hätte sich anknüpfen lassen.
Es wäre interessant gewesen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich soziale und ökologische Kippmomente systematisch unterscheiden. Gleichgewichte unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt: der Irreversibilität. In der Natur ist die Rückkehr zu einem Ausgangsgleichgewicht oft nicht in einem überschaubaren Zeithorizont möglich. In der Annahme, auf den Klimawandel sei mit denselben Instrumenten zu reagieren wie auf andere Kippmomente, liegt ein Optimismus, der sich als trügerisch erweisen könnte. Goldschmidt und Wolf bereichern die Debatte über die Herausforderungen unserer Zeit. Sie wenden das Konzept der Kippmomente kreativ an. An manchen Stellen hätte noch etwas mehr analytische Tiefe und etwas weniger Redundanz sie weitergebracht. Aber dafür ist Platz, denn über Kippmomente und Resilienz lässt sich noch viel sagen. PHILIPP KROHN
Nils Goldschmidt und Stephan Wolf: Gekippt: Was wir tun können, wenn Systeme außer Kontrolle geraten. Herder Verlag, Freiburg 2021, 272 Seiten, 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei Siegener Ökonomen widmen sich Krisen
Die Ökonomen Nils Goldschmidt und Stephan Wolf haben sich Großes vorgenommen. Sie haben festgestellt, dass in unserer Weltlage das mechanische Konzept des Kippmoments gute Erklärungs- und Lösungsansätze liefert. Ob Klimakrise, die Lage der Europäischen Union, die Finanzierung des Sozialstaats oder die Herausforderung aktueller Politik durch (Rechts-)Populismus - für Gesellschaften komme es darauf an, ein Kippen in unkontrollierbare Zustände zu verhindern. Goldschmidt und Wolf suchen nach Antworten, wie sich soziale Resilienz stärken lässt.
"Kippmomente sind Weggabelungen, und wir müssen jetzt die richtige Abzweigung finden", schreiben die Autoren - Professor der eine, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kontextuale Ökonomik der Universität Siegen der andere. Und sie lassen durchklingen, dass sie trotz der Komplexität und der Schwere ihrer politökonomischen Themen optimistisch sind. Zwar wüssten wir nicht, was in der Zukunft geschehen werde, aber Kippmomente ließen sich mit gut vorbereiteten Institutionen abwenden.
Als sie erste Skizzen des Buchs erstellten, begann die Corona-Pandemie. In einem der stärksten Abschnitte, dem Schlusskapitel, reflektieren sie, wie ihre Erkenntnisse zu Kippmomenten auf die Krisenpolitik anzuwenden ist. "Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keinen vergleichbaren Kippmoment, der so viele Menschenleben und wirtschaftliche Existenzen gekostet und unsere Freiheit so massiv bedroht hat", schreiben die Autoren. Bestehende Schwächen von Gesellschaften seien wie im Brennglas hervorgetreten: mangelnde Digitalisierung von Schulen, überkommene Strukturen von Gesundheitsämtern, Ungleichheit.
In ihrer Analyse beschreiben Goldschmidt und Wolf fair, wie Politiker in unterschiedlichen Ländern unter abweichenden Ausgangsbedingungen agiert haben. Die britische Regierung unter Boris Johnson schwang sich nach ihrer ursprünglichen Verkennung der pandemischen Lage zum Vorreiter in der Impfstoffbeschaffung auf. Israel zeichnete sich durch die schnellste Impfkampagne aus - aber auch nur, weil die Netanjahu-Regierung bereit war, dem Pfizer-Konzern große Gesundheitsdatenschätze zu öffnen.
Deutschland meisterte den ersten Lockdown bravourös, um sich dann in Kleinstaaterei zu verlieren. Doch es gelang den Akteuren, die Balance zwischen Freiheit und Gesundheitsschutz zu halten. Zu ihrem Urteil kommen sie, weil sie Behutsamkeit und Augenmaß extremen Sichtweisen vorziehen. Die Stärke in der Argumentation ist ihre Ausgewogenheit und Fairness. Sie fundieren ihre normativen Urteile auf grundlegende Prinzipien wie der Sozialen Marktwirtschaft, der sie ein eigenes Kapitel widmen. Sie sei eine Wettbewerbsordnung, die nicht die theoretischen First-Best-Lösungen der Wirtschaftswissenschaft propagiere. Eine Definition der Sozialen Marktwirtschaft sei nicht einfach, weil es keine theoretische Fibel gebe. Sie suche ihr Heil häufig im Second-Best. "Ein Vorgehen also, das aus unserer Sicht ideal zur Vermeidung von Kippmomenten geeignet ist."
Sympathisch ist der multidisziplinäre Ansatz der Autoren, die konventionell ökonomisch argumentieren, aber manchmal den Mainstream auch aufs Korn nehmen. Sie greifen auf Wissen aus der Ökologie, der Politikwissenschaft, der Philosophie zurück und streifen die Postwachstumsökonomie. Doch gemessen am Gesamtumfang sind einige Passagen zu deskriptiv geraten. Oft wird allzu Bekanntes noch einmal neu erzählt - so etwa der Kippmoment, als John D. Rockefellers Standard-Oil-Kartell zerschlagen wurde. Goldschmidt und Wolf nutzen das als Blaupause für den Umgang mit der Dominanz heutiger Technologiekonzerne wie Alphabet, Meta oder Apple. Doch das Prinzip, Bekanntes ausführlich noch einmal zu erzählen, findet sich an einigen Stellen des Buchs.
Da die Idee mit den Kippmomenten so bestechend ist, hätte man sich gewünscht, dass die Autoren mehr Mühen darauf verwenden, ihre Beschaffenheit im jeweiligen Kontext (Klima, Sozialstaat, Europa, China als Bedrohung) mehr ins Zentrum zu rücken. Dabei hätte vielleicht geholfen, das zwar einige Male genannte, aber nicht systematisch entwickelte Konzept der Resilienz genauer zu untersuchen. Hierzu gab es zuletzt beachtenswerte Arbeiten etwa aus einem Forschungsbereich der OECD. Daran hätte sich anknüpfen lassen.
Es wäre interessant gewesen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich soziale und ökologische Kippmomente systematisch unterscheiden. Gleichgewichte unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt: der Irreversibilität. In der Natur ist die Rückkehr zu einem Ausgangsgleichgewicht oft nicht in einem überschaubaren Zeithorizont möglich. In der Annahme, auf den Klimawandel sei mit denselben Instrumenten zu reagieren wie auf andere Kippmomente, liegt ein Optimismus, der sich als trügerisch erweisen könnte. Goldschmidt und Wolf bereichern die Debatte über die Herausforderungen unserer Zeit. Sie wenden das Konzept der Kippmomente kreativ an. An manchen Stellen hätte noch etwas mehr analytische Tiefe und etwas weniger Redundanz sie weitergebracht. Aber dafür ist Platz, denn über Kippmomente und Resilienz lässt sich noch viel sagen. PHILIPP KROHN
Nils Goldschmidt und Stephan Wolf: Gekippt: Was wir tun können, wenn Systeme außer Kontrolle geraten. Herder Verlag, Freiburg 2021, 272 Seiten, 24 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Philipp Krohn hält das Buch der Ökonomen Nils Goldschmidt und Stephan Wolf für hochinteressante, zeitgemäße Lektüre. Die im Buch präsentierte Vorstellung von wichtigen Kippmomenten bei ökologischen, politischen, wirtschaftlichen Entwicklungen findet Krohn reizvoll, den Optimismus der Autoren, dass wir jeweils die richtige Abzweigung nehmen und die richtigen Entscheidungen treffen, ebenso. Dass die Autoren fair und ausgewogen und aus multidisziplinärer Perspektive über Entscheidungen verschiedener Länder in der Corona-Pandemie schreiben, scheint Krohn bemerkenswert. So bestechend die Kippmomente-Theorie für ihn ist, so sehr hätte sich Krohn allerdings gewünscht, die Autoren hätten sie noch akribischer analysiert und systematisiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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