Viele suchen nach ihr, die wenigsten besitzen sie: Gelassenheit. Immer wieder ist von ihr die Rede, wenn der gestresste Mensch der Gegenwart von seinen Sehnsüchten spricht. Doch worin besteht die Gelassenheit und wie erlangt man sie? Ist sie ein Zustand, in dem die Seele zur Ruhe gekommen ist? Ist sie überhaupt ein Zustand oder nicht vielmehr eine Fähigkeit, eine Haltung, eine Handlung? Wovon lassen wir, was lässt uns, wenn wir gelassen sind? Der aus der Schweiz stammende Germanist Thomas Strässle geht diesen Fragen auf den Grund. Anhand der Verwandlungen des Begriffs und der Geschichten, die sich um ihn ranken, diskutiert sein scharfsinniger Essay die Gelassenheit in all ihren Aspekten und Problemen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.2013Meist haben sie die anderen
Und wer sie verlangt, erlangt sie nicht: Thomas Strässle hat eine gelehrsames Buch über die Gelassenheit verfasst, in dem keine Unterweisungen zu finden sind, aber dafür manche schöne Sätze.
Der Gelassenheit eignet, als Tugend wie Begriff, trügerische Eindeutigkeit; vielmehr scheint sie, genauer beleuchtet, ein ebenso diffiziler wie mehrsinniger und ein "ebenso ereignisarmer wie unbildlicher Zustand" zu sein. Jeder wünscht und malt sie sich anders aus. - Mithin: vertrackt wie lohnend, sie gründlich zu erörtern. Gelassenheit wohnt irgendwo zwischen indolenter Fühllosigkeit und hochherzigem Gleichmut. Wer sie erfassen will, gar zu besitzen heischt, dem wäre sie hierzu vorangehend dienlich. Erzwingt oder bedrängt man die Gelassenheit, so enträt man ihr ganz; wer sie verlangt, erlangt sie nicht.
Überdies ahnt meist nur Hohles, gar Trügerisches - wer sie etwa seelenfriedensbewegt zu schauen oder urlaubsreif zu beanspruchen meint. Wem dagegen Gelassenheit durchaus einwurzelt, der muss gar nichts wissen von ihr. Der ahnt ja genügsam und allwissend davon und macht kein Aufhebens darum. Einige, meist die anderen, haben sie einfach: Gelassenheit.
Was, wenn man ein Buch darüber schreibt? Hofft man, ihrer ermangelnd, sie nachdenkend zu erheischen? Oder lobpreist man die Gelassenheit im satten Taumel ihrer Besitzesfülle? Kann man gar eifern hierfür oder ihren Empfang und Gebrauch anleiten? - Nun, man kann die Sache zuvor entspannter angehen: füglich forschen und ein schlicht gelehrsames Buch schreiben - oder lesen. Thomas Strässle hat ein solches über die Gelassenheit verfasst, und ob er selbst ihrer ermangelt oder ob sie ihm eignet, ist nebensächlich. Als amtierender Literaturwissenschaftler hat er - vermutlich auch im Rahmen seiner Lehrtätigkeit - das weite Begriffsfeld abgesteckt, die allfällige Literatur extrahiert und hiervon etliches in die verschiedenen Kapitel seines Buches gegossen. Da kann nun jemand, der noch wenig weiß, sich durchaus gewinnend bilden. Erörtert wird die mystische "gelâzenheit" Eckarts, Seuses, Taulers, Böhmes (leider nicht die der - sagen wir: "Neomystischen Revolution" beziehungsweise Meditationen).
Ein Kapitel gilt der kalten Gelassenheit und den Antipoden: der Lethargie und Fühllosigkeit, ein Kapitel der Distanz, eines dem Strategem der Sanftmut und des gelösten Zuschauens; Nietzsches vornehme Loslösung fehlt so wenig wie Heideggers Technikkritik; die moderne Nervosität (oder umgekehrt) wird hin und her auskultiert; Dichtung und Literatur zur Gelassenheit bleiben rundum nicht unerwähnt, auch Thomas Mann und zum Beschluss - logo! - Sloterdijk nicht. So man sich freilich auskennt, liest man wenig Neues, gar Erstaunliches, Ausgedachtes; man repetiert und rezipiert solide Sektionen. Dort hineingestreut finden sich bisweilen großartige Sätze: Die Gelassenheit sei "keine Abkehr von sich in Form einer Zukehr zur Welt als vielmehr eine Einkehr" - wobei wir Letzte vermutlich weitsinniger lesen als der Autor.
Falsch liegt, wer sich vom Buch Unterweisung, gar Übungen zur Gemütsruhe verspricht. Man liest einen "Versuch", die Gelassenheit "mit Blick auf die Tradition für die Gegenwart zu konturieren". Es bleibt hier alles - gottlob! - theoretisch. Aber Konturen sind schon mal gut und können sogar auch erbaulich wirken. Ekstasen, Räusche und allerhand zerstreuende Aufregungen stehen ja ebenfalls hoch im Kurs, und hierzu kann man ebenfalls einiges Anregendes, gegebenenfalls ersatzweise, lesen. Freilich sind Räusche fassbarer und mithin wohlfeiler zu haben als Gelassenheit.
Außerordentlich gefallen wollen zwei Kapitel: das eine über das "Innenund Außenleben eines Wortes". Es lotet den weiten, klangvollen Wortraum zwischen A wie "Abgeklärtheit" bis Z wie "Zufriedenheit" aus; es lässt die "Resonanzen" des Wortes anklingen, und es schmeckt den fremdsprachigen Äquivalenzen nach ("coolness"). Das darauf folgende Kapitel lenkt das Gehör und den Verstand auf die "Gegenbegriffe": "Besessenheit, Verbissenheit, die Zerstreuung". Über diese Abschnitte hinweg wird der Leser begeisternd durch das Wort- und Bedeutungsfeld der "Gelassenheit" geführt, und hier wird deutlich, wie fruchtbar es werden kann, wenn der Autor und Literaturwissenschaftler überdies noch gelernter Musiker ist. Der musische Zugriff und das folgend kontrapunktische Kapitel läutern den Begriff ungemein.
Allein, das Buch findet sein irgendwie doch ratloses, "Was jetzt?" überschriebenes Ende als wie ein am Lautstärkeregler ausgeblendetes Singspiel - kein vernehmlich begütigendes Finale, keine vernehmliche coda stretta. Schade! Auch dem Ende, jedem Ende, sollte doch keine "lammherzige Gelassenheit" (Schiller) als wie eine versandende Lässigkeit, sondern eine beinahe doch erschreckend "unerschrockene" (Kant) Coda, nun nicht unbedingt als Vollendung, doch aber als Schlussstein und Beschluss zugegeben sein. - Oder war dem Buch absichtlich solch ein entspannter, extra gelassener Aushauch zugedacht? - Sei's drum: Ende weniger gut, sonst alles, nun, doch, doch, ja: ganz gut!
THOMAS KAPIELSKI.
Thomas Strässle: "Gelassenheit". Über eine andere Haltung zur Welt.
Edition Akzente im Carl Hanser Verlag, München 2013. 142 S., br., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und wer sie verlangt, erlangt sie nicht: Thomas Strässle hat eine gelehrsames Buch über die Gelassenheit verfasst, in dem keine Unterweisungen zu finden sind, aber dafür manche schöne Sätze.
Der Gelassenheit eignet, als Tugend wie Begriff, trügerische Eindeutigkeit; vielmehr scheint sie, genauer beleuchtet, ein ebenso diffiziler wie mehrsinniger und ein "ebenso ereignisarmer wie unbildlicher Zustand" zu sein. Jeder wünscht und malt sie sich anders aus. - Mithin: vertrackt wie lohnend, sie gründlich zu erörtern. Gelassenheit wohnt irgendwo zwischen indolenter Fühllosigkeit und hochherzigem Gleichmut. Wer sie erfassen will, gar zu besitzen heischt, dem wäre sie hierzu vorangehend dienlich. Erzwingt oder bedrängt man die Gelassenheit, so enträt man ihr ganz; wer sie verlangt, erlangt sie nicht.
Überdies ahnt meist nur Hohles, gar Trügerisches - wer sie etwa seelenfriedensbewegt zu schauen oder urlaubsreif zu beanspruchen meint. Wem dagegen Gelassenheit durchaus einwurzelt, der muss gar nichts wissen von ihr. Der ahnt ja genügsam und allwissend davon und macht kein Aufhebens darum. Einige, meist die anderen, haben sie einfach: Gelassenheit.
Was, wenn man ein Buch darüber schreibt? Hofft man, ihrer ermangelnd, sie nachdenkend zu erheischen? Oder lobpreist man die Gelassenheit im satten Taumel ihrer Besitzesfülle? Kann man gar eifern hierfür oder ihren Empfang und Gebrauch anleiten? - Nun, man kann die Sache zuvor entspannter angehen: füglich forschen und ein schlicht gelehrsames Buch schreiben - oder lesen. Thomas Strässle hat ein solches über die Gelassenheit verfasst, und ob er selbst ihrer ermangelt oder ob sie ihm eignet, ist nebensächlich. Als amtierender Literaturwissenschaftler hat er - vermutlich auch im Rahmen seiner Lehrtätigkeit - das weite Begriffsfeld abgesteckt, die allfällige Literatur extrahiert und hiervon etliches in die verschiedenen Kapitel seines Buches gegossen. Da kann nun jemand, der noch wenig weiß, sich durchaus gewinnend bilden. Erörtert wird die mystische "gelâzenheit" Eckarts, Seuses, Taulers, Böhmes (leider nicht die der - sagen wir: "Neomystischen Revolution" beziehungsweise Meditationen).
Ein Kapitel gilt der kalten Gelassenheit und den Antipoden: der Lethargie und Fühllosigkeit, ein Kapitel der Distanz, eines dem Strategem der Sanftmut und des gelösten Zuschauens; Nietzsches vornehme Loslösung fehlt so wenig wie Heideggers Technikkritik; die moderne Nervosität (oder umgekehrt) wird hin und her auskultiert; Dichtung und Literatur zur Gelassenheit bleiben rundum nicht unerwähnt, auch Thomas Mann und zum Beschluss - logo! - Sloterdijk nicht. So man sich freilich auskennt, liest man wenig Neues, gar Erstaunliches, Ausgedachtes; man repetiert und rezipiert solide Sektionen. Dort hineingestreut finden sich bisweilen großartige Sätze: Die Gelassenheit sei "keine Abkehr von sich in Form einer Zukehr zur Welt als vielmehr eine Einkehr" - wobei wir Letzte vermutlich weitsinniger lesen als der Autor.
Falsch liegt, wer sich vom Buch Unterweisung, gar Übungen zur Gemütsruhe verspricht. Man liest einen "Versuch", die Gelassenheit "mit Blick auf die Tradition für die Gegenwart zu konturieren". Es bleibt hier alles - gottlob! - theoretisch. Aber Konturen sind schon mal gut und können sogar auch erbaulich wirken. Ekstasen, Räusche und allerhand zerstreuende Aufregungen stehen ja ebenfalls hoch im Kurs, und hierzu kann man ebenfalls einiges Anregendes, gegebenenfalls ersatzweise, lesen. Freilich sind Räusche fassbarer und mithin wohlfeiler zu haben als Gelassenheit.
Außerordentlich gefallen wollen zwei Kapitel: das eine über das "Innenund Außenleben eines Wortes". Es lotet den weiten, klangvollen Wortraum zwischen A wie "Abgeklärtheit" bis Z wie "Zufriedenheit" aus; es lässt die "Resonanzen" des Wortes anklingen, und es schmeckt den fremdsprachigen Äquivalenzen nach ("coolness"). Das darauf folgende Kapitel lenkt das Gehör und den Verstand auf die "Gegenbegriffe": "Besessenheit, Verbissenheit, die Zerstreuung". Über diese Abschnitte hinweg wird der Leser begeisternd durch das Wort- und Bedeutungsfeld der "Gelassenheit" geführt, und hier wird deutlich, wie fruchtbar es werden kann, wenn der Autor und Literaturwissenschaftler überdies noch gelernter Musiker ist. Der musische Zugriff und das folgend kontrapunktische Kapitel läutern den Begriff ungemein.
Allein, das Buch findet sein irgendwie doch ratloses, "Was jetzt?" überschriebenes Ende als wie ein am Lautstärkeregler ausgeblendetes Singspiel - kein vernehmlich begütigendes Finale, keine vernehmliche coda stretta. Schade! Auch dem Ende, jedem Ende, sollte doch keine "lammherzige Gelassenheit" (Schiller) als wie eine versandende Lässigkeit, sondern eine beinahe doch erschreckend "unerschrockene" (Kant) Coda, nun nicht unbedingt als Vollendung, doch aber als Schlussstein und Beschluss zugegeben sein. - Oder war dem Buch absichtlich solch ein entspannter, extra gelassener Aushauch zugedacht? - Sei's drum: Ende weniger gut, sonst alles, nun, doch, doch, ja: ganz gut!
THOMAS KAPIELSKI.
Thomas Strässle: "Gelassenheit". Über eine andere Haltung zur Welt.
Edition Akzente im Carl Hanser Verlag, München 2013. 142 S., br., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Warnung des Rezensenten: Der Leser findet in diesem Essay des Literaturwissenschaftlers Thomas Strässle weder einen zum Entschleunigungsdiskurs passenden Ratgeber der Esoterik noch eine soziologische Studie à la Hartmut Rosa noch Erlösung durch die Mystiker, durch Heidegger oder Nietzsche. Letztere fährt Strässle laut Christoph Pierkowski auf, um mit ihnen eine "amüsante" Begriffs- und Ideengeschichte der Gelassenheit zu schreiben, Herkunft und epochale Entwicklung, beschränkt allerdings auf den europäischen Raum und europäische Denker. Vom "gelazen sin" bei Meister Eckart über die Lethargie bis zu Heideggers Schwarzwaldhütten- und Nachtkappengelassenheit reicht die Bandbreite des Bandes, wie wir erfahren. Bei aller Erkenntnisfülle - zumindest bei Heidegger und angesichts der Shoah hätte sich der Rezensent vom Autor etwas mehr kritische Distanz gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2013Lassen und gelassen werden
Wer hilft uns aus dem Hamsterrad der gehetzten modernen Gesellschaft? Der Literaturwissenschaftler
Thomas Strässle liefert Materialien zur Geschichte des Sehnsuchtsbegriffs „Gelassenheit“
VON CHRISTOPH DAVID PIORKOWSKI
Das Wort „Gelassenheit“ hat einen wohligen Klang, es weckt die Hoffnung auf eine andere Art von Zeitgebrauch, fernab der zweckökonomischen Taktung im Hamsterrad. Hinter dem Titel „Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt“ könnte sich esoterische Ratgeberliteratur für den spätmodernen Neurastheniker verbergen, der das Unbehagen in der Geschwindigkeitsgesellschaft mit Globuli und fernöstlichen Devotionalien therapiert. Oder eine Fibel für den zum Laien-Buddhismus konvertierten Ex-Broker.
Tatsächlich hat der elegante Essay des Literaturwissenschaftlers Thomas Strässle mit dem esoterischen und dem populärwissenschaftlichen Entschleunigungsdiskurs nichts zu tun. Aber auch wer eine fundierte soziologische Studie zum Thema erwartet, etwa im Stile von Hartmut Rosas Gegenwartsanalysen, die das Kranken des Subjekts am Flexibilitätsimperativ einer rasend gewordenen Gesellschaft zum Gegenstand haben, ist auf dem Holzweg.
Zwar stellt der Autor ein Repertoire von Haltungen vor, mit denen man „lassen“ können soll, damit sich der Klammergriff der belastenden Zustände schließlich löst und man somit „gelassen“ sein kann. Eigentlich handelt es sich bei Strässles Text aber um eine europäisch-anekdotische Begriffsgeschichte, die die Herkunft der Gelassenheit aufdeckt und in der die semantischen Konnotationen jener anderen Haltung zur Welt durch Epochen und Philosophien hindurch verfolgt werden.
Strässle verortet den Ursprung des Begriffs in der christlichen Mystik, namentlich bei Meister Eckart. Die Gelassenheit bezeichnet ein Konzept mystischer Teilhabe am Göttlichen, das sich durch ein aktives und ein passives Moment auszeichnet. In Meister Eckarts mittelhochdeutschem Vokabular ausgedrückt sind „gelâzen hân“ und „gelâzen sîn“ „zwei Seiten desselben Geschehens“. Wer wirklich „gelassen“ hat, löst sich von den innerweltlichen Verstrickungen, er „verlässt“ Welt und Selbst, um sich sodann Gott zu „überlassen“. Die Gelassenheit meint in diesem Sinn also eine Art freiwillige Selbstaufgabe.
Aber ist die Gelassenheit tatsächlich die richtige „Haltung zur Welt“? Ist es in Anbetracht von Elend und Ungerechtigkeit geboten, sich gelassen aus dieser zurückzuziehen? Muss man, damit andere gelassen leben können, nicht vielmehr aufbegehren gegen unrechte Verhältnisse und somit ein Verhalten an den Tag legen, das die Gelassenheit als Haltung gerade hintertreibt?
Apathie und Teilnahmslosigkeit sind die dunklen Geschwister der Gelassenheit. Strässle beschreibt denn auch die Lethargie, in der das Ich sich abhandenkommt, sowie die Unempfindlichkeit gegenüber den Sorgen der Anderen als die beiden „Verfallserscheinungen der Gelassenheit“. Die Gelassenheit sei dabei erstmals gegen Ende des 18. Jahrhunderts und besonders im Sturm und Drang (zum Beispiel in Goethes „Werther“) in die Kritik geraten.
Mit Schopenhauer beschreibt Strässle „die Kunst der involvierten Distanz“, ein vorübergehendes Abtreten des vom dunklen Weltwillen Getriebenen von der Bühne seines eigenen Lebens. Mit der Anekdote des Quäkers, der den Raub eines Strauchdiebs gelassen hinnimmt, illustriert er das ostentative „Egal“ zum Widerfahrenen als sanftmütige Strategie machtloser Machtausübung. Und mit Nietzsche wird die vornehme Gelassenheit des freien Geistes vorgeführt, der alle normativen Barrieren überwunden und sein ureigenes Wertmaß jenseits von Gut und Böse etabliert hat.
Den Bogen zur Gegenwart schlägt er schließlich über Heidegger, der in den Fünfzigern „Gelassenheit“ im Angesicht einer totalisierenden Technik forderte. Wer von den Dingen der technischen Welt lässt, wird auch von ihnen in Ruhe gelassen, eine Einsicht, die es gerade heute, in Zeiten von Smartphone- und Facebook-Junkietum, verdient, neu thematisiert zu werden. Wobei es freilich obszön anmutet, dass jemand, der noch ein paar Jahre zuvor von seinem Lehrstuhl aus „gelassen“ der Entrechtung und Ermordung von Millionen zugesehen hatte, bald darauf schamlos seine schwarzwäldlerisch-besinnliche Distanz als gebotenen Modus des In-der-Welt-Seins postulierte – das Unbehagen über Heideggers Gelassenheitsdiskurs im Anschluss an die Shoah hätte Strässle zumindest erwähnen können. Überhaupt glaubt man an manchen Stellen, der Autor sei so vernarrt in die Haltung gelassener Distanz, dass ihm seinerseits die kritische Distanz zum Gegenstand abhandenkommt.
Dennoch ist der Essay eine interessante ideengeschichtliche Wanderfahrt und illustriert auf amüsante Weise die An- und Verwandlungen eines nicht nur zeitgenössischen Sehnsuchtsbegriffs. Wenn Strässle ihn freilich als Baukasten fürs geruhsame Lebensmodell preist, so muss man die nervösen Gegenwartsmenschen leider warnen. Weder Meister Eckart noch die Quäker und schon gar nicht Schopenhauer oder Nietzsche werden uns rotierende Nervenbündel vom Hamsterrad erlösen.
Thomas Strässle: Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt. Hanser Verlag, München 2013. 144 Seiten, 17, 90 Euro.
Darf man angesichts des Elends
der Welt wirklich gelassen sein?
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wer hilft uns aus dem Hamsterrad der gehetzten modernen Gesellschaft? Der Literaturwissenschaftler
Thomas Strässle liefert Materialien zur Geschichte des Sehnsuchtsbegriffs „Gelassenheit“
VON CHRISTOPH DAVID PIORKOWSKI
Das Wort „Gelassenheit“ hat einen wohligen Klang, es weckt die Hoffnung auf eine andere Art von Zeitgebrauch, fernab der zweckökonomischen Taktung im Hamsterrad. Hinter dem Titel „Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt“ könnte sich esoterische Ratgeberliteratur für den spätmodernen Neurastheniker verbergen, der das Unbehagen in der Geschwindigkeitsgesellschaft mit Globuli und fernöstlichen Devotionalien therapiert. Oder eine Fibel für den zum Laien-Buddhismus konvertierten Ex-Broker.
Tatsächlich hat der elegante Essay des Literaturwissenschaftlers Thomas Strässle mit dem esoterischen und dem populärwissenschaftlichen Entschleunigungsdiskurs nichts zu tun. Aber auch wer eine fundierte soziologische Studie zum Thema erwartet, etwa im Stile von Hartmut Rosas Gegenwartsanalysen, die das Kranken des Subjekts am Flexibilitätsimperativ einer rasend gewordenen Gesellschaft zum Gegenstand haben, ist auf dem Holzweg.
Zwar stellt der Autor ein Repertoire von Haltungen vor, mit denen man „lassen“ können soll, damit sich der Klammergriff der belastenden Zustände schließlich löst und man somit „gelassen“ sein kann. Eigentlich handelt es sich bei Strässles Text aber um eine europäisch-anekdotische Begriffsgeschichte, die die Herkunft der Gelassenheit aufdeckt und in der die semantischen Konnotationen jener anderen Haltung zur Welt durch Epochen und Philosophien hindurch verfolgt werden.
Strässle verortet den Ursprung des Begriffs in der christlichen Mystik, namentlich bei Meister Eckart. Die Gelassenheit bezeichnet ein Konzept mystischer Teilhabe am Göttlichen, das sich durch ein aktives und ein passives Moment auszeichnet. In Meister Eckarts mittelhochdeutschem Vokabular ausgedrückt sind „gelâzen hân“ und „gelâzen sîn“ „zwei Seiten desselben Geschehens“. Wer wirklich „gelassen“ hat, löst sich von den innerweltlichen Verstrickungen, er „verlässt“ Welt und Selbst, um sich sodann Gott zu „überlassen“. Die Gelassenheit meint in diesem Sinn also eine Art freiwillige Selbstaufgabe.
Aber ist die Gelassenheit tatsächlich die richtige „Haltung zur Welt“? Ist es in Anbetracht von Elend und Ungerechtigkeit geboten, sich gelassen aus dieser zurückzuziehen? Muss man, damit andere gelassen leben können, nicht vielmehr aufbegehren gegen unrechte Verhältnisse und somit ein Verhalten an den Tag legen, das die Gelassenheit als Haltung gerade hintertreibt?
Apathie und Teilnahmslosigkeit sind die dunklen Geschwister der Gelassenheit. Strässle beschreibt denn auch die Lethargie, in der das Ich sich abhandenkommt, sowie die Unempfindlichkeit gegenüber den Sorgen der Anderen als die beiden „Verfallserscheinungen der Gelassenheit“. Die Gelassenheit sei dabei erstmals gegen Ende des 18. Jahrhunderts und besonders im Sturm und Drang (zum Beispiel in Goethes „Werther“) in die Kritik geraten.
Mit Schopenhauer beschreibt Strässle „die Kunst der involvierten Distanz“, ein vorübergehendes Abtreten des vom dunklen Weltwillen Getriebenen von der Bühne seines eigenen Lebens. Mit der Anekdote des Quäkers, der den Raub eines Strauchdiebs gelassen hinnimmt, illustriert er das ostentative „Egal“ zum Widerfahrenen als sanftmütige Strategie machtloser Machtausübung. Und mit Nietzsche wird die vornehme Gelassenheit des freien Geistes vorgeführt, der alle normativen Barrieren überwunden und sein ureigenes Wertmaß jenseits von Gut und Böse etabliert hat.
Den Bogen zur Gegenwart schlägt er schließlich über Heidegger, der in den Fünfzigern „Gelassenheit“ im Angesicht einer totalisierenden Technik forderte. Wer von den Dingen der technischen Welt lässt, wird auch von ihnen in Ruhe gelassen, eine Einsicht, die es gerade heute, in Zeiten von Smartphone- und Facebook-Junkietum, verdient, neu thematisiert zu werden. Wobei es freilich obszön anmutet, dass jemand, der noch ein paar Jahre zuvor von seinem Lehrstuhl aus „gelassen“ der Entrechtung und Ermordung von Millionen zugesehen hatte, bald darauf schamlos seine schwarzwäldlerisch-besinnliche Distanz als gebotenen Modus des In-der-Welt-Seins postulierte – das Unbehagen über Heideggers Gelassenheitsdiskurs im Anschluss an die Shoah hätte Strässle zumindest erwähnen können. Überhaupt glaubt man an manchen Stellen, der Autor sei so vernarrt in die Haltung gelassener Distanz, dass ihm seinerseits die kritische Distanz zum Gegenstand abhandenkommt.
Dennoch ist der Essay eine interessante ideengeschichtliche Wanderfahrt und illustriert auf amüsante Weise die An- und Verwandlungen eines nicht nur zeitgenössischen Sehnsuchtsbegriffs. Wenn Strässle ihn freilich als Baukasten fürs geruhsame Lebensmodell preist, so muss man die nervösen Gegenwartsmenschen leider warnen. Weder Meister Eckart noch die Quäker und schon gar nicht Schopenhauer oder Nietzsche werden uns rotierende Nervenbündel vom Hamsterrad erlösen.
Thomas Strässle: Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt. Hanser Verlag, München 2013. 144 Seiten, 17, 90 Euro.
Darf man angesichts des Elends
der Welt wirklich gelassen sein?
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Eine "höchst belesene Studie." Ludger Lütkehaus, Neue Zürcher Zeitung, 27.03.13
"Es sind wunderbare Ausflüge in Philosophie und Literaturgeschichte, die das kleine Buch unternimmt." Urs Willmann, Die Zeit, 04.04.13
"Elegant geschriebener Essay." Rudolf Walther, Tagesanzeiger, 15.04.2013
"Wunderbar luzider Essay..." Dietmar Bruckner, Nürnberger Nachrichten, 30.07.13
"Das Schöne an dem Buch von Thomas Strässle besteht gerade darin, dass er nicht nur über Gelassenheit schreibt, sondern dabei den Geist der Gelassenheit verbreitet. Am Ende spüren wir in aller Ruhe, was zu tun ist." Walter van Rossum, Deutschlandradio, 12.11.13
"Es sind wunderbare Ausflüge in Philosophie und Literaturgeschichte, die das kleine Buch unternimmt." Urs Willmann, Die Zeit, 04.04.13
"Elegant geschriebener Essay." Rudolf Walther, Tagesanzeiger, 15.04.2013
"Wunderbar luzider Essay..." Dietmar Bruckner, Nürnberger Nachrichten, 30.07.13
"Das Schöne an dem Buch von Thomas Strässle besteht gerade darin, dass er nicht nur über Gelassenheit schreibt, sondern dabei den Geist der Gelassenheit verbreitet. Am Ende spüren wir in aller Ruhe, was zu tun ist." Walter van Rossum, Deutschlandradio, 12.11.13