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Krise - kaum ein Begriff hat in jüngster Zeit eine solche Konjunktur erlebt, doch kann die inflationäre Rede von Banken- und Finanzkrise kaum darüber hinwegtäuschen, dass der globale ökonomische Kollaps mehr untergraben hat als unser Vertrauen in den Markt allein: Wir erleben derzeit eine veritable Glaubenskrise, die das Wertesystem der westlichen Welt in ihren Grundfesten erschüttert.
Samuel Webers Essay lässt sich von der Frage leiten, welche Logik einer Wirtschaft zugrunde liegen muss, die eine so umfassende, quasi-theologische Dimension erreicht, und er wird fündig bei einem der
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Produktbeschreibung
Krise - kaum ein Begriff hat in jüngster Zeit eine solche Konjunktur erlebt, doch kann die inflationäre Rede von Banken- und Finanzkrise kaum darüber hinwegtäuschen, dass der globale ökonomische Kollaps mehr untergraben hat als unser Vertrauen in den Markt allein: Wir erleben derzeit eine veritable Glaubenskrise, die das Wertesystem der westlichen Welt in ihren Grundfesten erschüttert.

Samuel Webers Essay lässt sich von der Frage leiten, welche Logik einer Wirtschaft zugrunde liegen muss, die eine so umfassende, quasi-theologische Dimension erreicht, und er wird fündig bei einem der Gründerväter des modernen Kapitalismus amerikanischer Provenienz. In Benjamin Franklins berühmtem Diktum »Zeit ist Geld«, das dieser als »alter« Geschäftsmann dem »jungen« Kollegen als Ratschlag mit auf den Weg gibt, zeigt sich für Weber eine Gleichung, welche die gesamte Zirkulation von Geld und Werten formiert: Zeit ist Geld, aber nur, weil Geld als Tauschmedium notwendig Zeit ist; der Geldmarkt gründet auf einem zirkulären Prozess der Produktion und Selbst-Reproduktion des ewig Gleichen. Dieser Prozess kommt in einer weiteren Gleichung zum Ausdruck - dem zweiten, vergessenen und verdrängten Diktum Franklins: »Kredit ist Geld.« Die Logik des Kapitalismus baut im Sinne des Wortes auf Kredit: dem Glauben der Investoren und Konsumenten an die Amortisierung der Schulden in der Rendite: »'Rendite'« ist »die kapitalistische Art von Profit als redemption - Rückzahlung, Tilgung und Erlösung.«

Webers luzide, grimmige Analyse der »Krise« offenbart, dass in einer Gesellschaft, in der an die Stelle des lutherischen sola fide das credere getreten ist, Kapitalismus zur Religion eines (mit Walter Benjamin) »nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus« geworden ist.
Autorenporträt
Weber, SamuelSamuel Weber ist Avalon Professor for Humanities an der Northwestern University und Direktor des Paris Program in Critical Theory. Weber ist ein Schüler von Paul de Man und war neben Professuren an verschiedenen Universitäten auch als Dramaturg und Übersetzer tätig. Zu seinen Forschungsgegenständen zählen Walter Benjamin, Jacques Derrida, Sigmund Freud und Jacques Lacan.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2010

Geld unmittelbar zu Gott

Samuel Webers Essay über Kredit und Krise ist ein Beispiel dafür, wie verstiegen geisteswissenschaftliche Untersuchungen ausfallen können, wenn sie bemüht der Tagesaktualität hinterherlaufen.

Man spricht von Erlös und Kredit, von Gläubiger, Schuldner und Offenbarungseid: Zwischen religiöser und kapitalistischer Begrifflichkeit bestehen auf der Sprachoberfläche so viele Analogien, dass die These, der Kapitalismus sei angetreten, das christliche Erlösungsversprechen von sündhafter Schuld auf dem Weg über den Markt einzulösen, kaum aus der Luft gegriffen scheint. Handelt es sich dabei um einen bloßen Überwurf? Oder hat es etwas mit Carl Schmitts politischer Theologie auf sich, nach der die säkularen Leitbegriffe einen religiösen Glutkern haben und den heilsgeschichtlichen Horizont forttragen?

Die religiöse Bedingtheit des Kapitalismus hatte Max Weber in seiner "Protestantischen Ethik" behauptet. Walter Benjamin wagte sich in seinem kurzen Fragment "Kapitalismus als Religion" aus dem Jahr 1921 noch weiter und ließ die Religion nahtlos in den Kapitalismus übergehen. Der Kapitalismus erscheint bei ihm als ein fataler Kult, der uns je länger, desto mehr in die Verschuldung stürzt. Die undurchschaute Paradoxie besteht nach Benjamin darin, dass sich der Mensch von dieser immer tieferen finanziellen Verschuldung eine Art Erlösung verspreche. Kleinere Erfüllungen würden ihm schon früher in Form der Rendite gewährt.

Der Literaturwissenschaftler Samuel Weber hat, als die Banken zusammenbrachen, zur Feder gegriffen, um diese Paradoxie neu zu deuten. Ein Indiz für die Richtigkeit von Benjamins These ist ihm die amerikanische Konsumreligion, die im Anhäufen von Schulden eine Art Erlösung zu suchen scheint. Ihren letzten eindrucksvollen Beleg findet sie für Weber in der Finanzkrise, die in weiterer staatlicher Verschuldung endete. Nun lässt sich die krisenbedingte Vermehrung öffentlicher Schuld auch pragmatisch begründen. In ihren tieferen Gründen verstehen könne sie jedoch nur, so Weber, wer die heilsgeschichtliche Verstrickung des Kapitalismus miteinbeziehe.

Er geht dazu zunächst den bewährten Weg und ortet das Geld im Kern der religiös-kapitalistischen Horizontverschmelzung. Das Geld hat keinen fixen Wert, es muss ihn immer erst einlösen. Als zinsbelastetes Kapital spannt es den neuen Zukunftshorizont auf: zunächst in Form des Versprechens, die schöpferischen Kräfte des Menschen zu potenzieren und dadurch eine neue Transzendenz zu schaffen. In einen religiösen Horizont rückt es vollends ein, sobald seine Vermehrung zum Selbstzweck und Imperativ wird.

Eine weitere Analogie zur Religion lässt sich darin sehen, dass auch am Anfang der Verwandlung von Geld in Kapital ein Glaubensakt steht: das Vertrauen, dass die öffentliche Schuld gedeckt sei. Nun muss nicht jeder Glaubensakt religiöser Natur sein. Den Umschlagspunkt zur heilsgeschichtlich überhöhten Kreditaufnahme sieht Weber in Luthers "Sola fide"-Grundsatz, der nicht den guten Werken, sondern dem Glauben allein die Fähigkeit zur Erlösung zuspricht. Von dorther kommt er zu dem Schluss, dass im Kapitalismus nicht die Produktion, sondern der Konsum und der Kredit (Glaube) Erlösung in Aussicht stellen. Der Konsum wird zum Weg der Gnade.

Ist diese Kontinuität mehr als ein Signifikantenspiel? Sie bleibt ein dünner Strang. Weber schwächt seine These, indem er sich an entscheidenden Stellen auf die Sogkraft von Benjamins Sprache und Schmitts politische Theologie verlässt, ohne den begleitenden Versuch zu machen, die untersuchte Paradoxie aus den Mechanismen des kapitalistischen Systems, vor allem der Zinsdynamik, heraus zu erklären.

Es bleibt offen, wie der Kapitalismus seine Mythen ausbildet. Vor allem lässt Weber nicht klar erkennen, ob er den Glauben an das erlösende Potential der Schulden für einen durchschauten Prozess oder einen nichtintendierten Effekt hält. Angesichts dieser Unklarheiten möchte man kapitalistische und religiöse Semantik dann doch lieber wieder auseinanderrücken.

THOMAS THIEL

Samuel Weber: "Zeit ist Geld". Gedanken zu Kredit und Krise. Diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2009. 64 S., br., 8,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Verhalten äußert sich Rezensent Thomas Thiel zu Samuel Webers Essay über Kredit und Krise. Bevor er näher auf das Buch eingeht, reflektiert er - unter Rückgriff auf Carl Schmitt, Max Weber und Walter Benjamin - Analogien zwischen Religion und Kapitalismus religiöser und kapitalistischer Begrifflichkeit. Einen Ansatzpunkt des Autors sieht er dann auch in Benjamins Thesen über "Kapitalismus als Religion", mit deren Hilfe die amerikanische Konsumreligion und die Finanzkrise gedeutet werden. Thiel kann Weber allerdings nicht den Vorwurf ersparen, seine These zu schwächen, "indem er sich an entscheidenden Stellen auf die Sogkraft von Benjamins Sprache und Schmitts politische Theologie verlässt". Generell bleibt für ihn vieles offen und unklar, etwa die Frage, wie der Kapitalismus seine Mythen ausbildet. Insgesamt scheint ihm Webers Essay auch ein Beispiel dafür zu sein, wie "verstiegen" geisteswissenschaftliche Untersuchungen ausfallen können, wenn sie allzu bemüht tagesaktuell sein wollen.

© Perlentaucher Medien GmbH