Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019.
»Ein Liebes-, Bildungs- und Schelmenroman, wie es ihn auf Deutsch sehr lange nicht gab.« (WDR 3)
Seit er Angelika beim Neptunfest über den Strand tanzen sah, bedrängen ihren aufgewühlten Bewunderer völlig ungeahnte Regungen. Die Begegnung wirkt sich nicht nur bewusstseinserweiternd auf seine Wahrnehmung aus, ihn erfasst außerdem ein schwerwiegendes und allumfassendes Verlangen nach Wahrheit, Schönheit und Selbsterkenntnis, das weder das elterliche Pfarrhaus noch die zeitgenössischen Bildungsinstitutionen stillen können. Götter, Geister und Dämonen melden sich zu Wort, als der postmoderne Studienbetrieb entscheidende Fragen offenlässt. Kommen sie zu spät? Am Ende bleiben nur die Liebe, der Sprung und die Gelenke des Lichts.
Emanuel Maeß hat einen sprachmächtigen Roman geschrieben, der in seiner spielerischen Leichtigkeit und Tiefe in der neuen Literatur seinesgleichen sucht.
»Ein Liebes-, Bildungs- und Schelmenroman, wie es ihn auf Deutsch sehr lange nicht gab.« (WDR 3)
Seit er Angelika beim Neptunfest über den Strand tanzen sah, bedrängen ihren aufgewühlten Bewunderer völlig ungeahnte Regungen. Die Begegnung wirkt sich nicht nur bewusstseinserweiternd auf seine Wahrnehmung aus, ihn erfasst außerdem ein schwerwiegendes und allumfassendes Verlangen nach Wahrheit, Schönheit und Selbsterkenntnis, das weder das elterliche Pfarrhaus noch die zeitgenössischen Bildungsinstitutionen stillen können. Götter, Geister und Dämonen melden sich zu Wort, als der postmoderne Studienbetrieb entscheidende Fragen offenlässt. Kommen sie zu spät? Am Ende bleiben nur die Liebe, der Sprung und die Gelenke des Lichts.
Emanuel Maeß hat einen sprachmächtigen Roman geschrieben, der in seiner spielerischen Leichtigkeit und Tiefe in der neuen Literatur seinesgleichen sucht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.03.2019Verwandlungsmusik in Deutsch-Athen
Waldgewell, Jugendhoffnung und eine Liebe namens Angelika: Emanuel Maeß erneuert
in seinem Debütroman „Gelenke des Lichts“ die Tradition romantischen Erzählens
VON GUSTAV SEIBT
Unwahrscheinlich schön schreibt Emanuel Maeß in seinem Erstlingsroman „Gelenke des Lichts“. Unwahrscheinlich in einem doppelten Sinn: Erstens, weil diese Sprache aus ferner Vergangenheit zu kommen scheint, so fein rhythmisiert weiß sie Landschaften, Stimmungen und Bewusstseinszustände in schwingende Satzbauten zu bringen, als habe die Romantik nie aufgehört. Zweitens, und das ist die größere Unwahrscheinlichkeit, hat sie gar nichts Rückwärtsgewandtes oder platt Nostalgisches, sie bleibt historisch bewusst und vermeidet die Hohlheit der Stilkopie. Der Überschwang, die Welt-, Natur-, ja Schöpfungsseligkeit dieses Stils scheint immer wieder vor sich selbst zu erschrecken und sich sacht zur Nüchternheit zu zwingen. Vor allem aber ist er unglaublich genau.
Die erste Seite, ein klassisches Proömium, setzt den Ton. „Vor einigen Jahren, als ich einen Abend lang vergeblich auf dich wartete, ergab sich die Gelegenheit, wieder einmal einem Mond zuzusehen.“ Das ist schön gedämpft und leise lächelnd
– wann nimmt man schon „Gelegenheit“, wieder einmal dem Mond zuzusehen? Dieser geht dann „gelassen und ein wenig selbstgefällig“, aber in „ewigen Bahnen“ über die nächtliche Landschaft mit „Reihenhaussiedlung“ und „Talseite“, einem neuen und einem alten Wort also. Zunächst wenig Feierlichkeit: „Wäre darin ein geheimer Zuspruch verborgen gewesen, hätte ich ihn vermutlich überhört.“
Dann aber muss doch die ganze Astronomie, das Sternengewölbe herhalten, die Mondkraft mit Flut und Ebbe und Monat und weiblicher Regel, um den Nachthimmel gebührend weit zu spannen. Wir sind da auf der zweiten Seite erst, und ein Dutzend Motive wurde schon angeschlagen; man ahnt es, das Weitere bestätigt es: Keines geht verloren.
Viel später, der Erzähler ist erwachsen geworden, hat sein Elternhaus verlassen und studiert nun in der Romantikerstadt Heidelberg, blickt er wieder so weit hinaus, diesmal in den Sonnenuntergang hinüber zum Rhein: „Auch der Himmel, mit dem ich noch eine Weile hermeneutische Folgeprobleme erörterte, stand im Stau des Berufsverkehrs und zog dem großen Gestirn in langen Rotphasen nach. Unter mir das Sinnbild aller Erstsemesterhoffnungen; Deutsch-Athen, der Strom, der in die Ebene ausfloss, über der die Wolkenschatten miteinander rangen, Waldgewell über Bergrücken und Nebentälern, die geborstene Pfalzburg, Kitsch und Gartenlaube des Neubeginns.“ Wann im Leben hat man ein Recht, so feierlich zu sein? Doch wohl am Beginn seines Studiums, samt Hermeneutik-Altklugheit. Nur, das mit der Feierlichkeit muss man können. Maeß kann es.
Diese 250 Seiten bedeuten für den Empfänglichen eine unablässige Kette von Entzückungen, am liebsten sehr langsam zu lesen. Dass es Leser geben wird, denen das nichts sagt, sondern sogar auf die Nerven fällt, ist zu prognostizieren, aber auch zu verschmerzen. Die fein austarierte Perfektion, die Dichte des Gewebes, die Fülle sinnlicher Anschauungen, die Einzelschönheiten also, können sogar vergessen lassen, dass dieses Buch ein Roman ist, eine Art Entwicklung zeigt, einen Grundriss hat. Man könnte es nämlich auch wie ein prosalyrisches Brevier gebrauchen.
Das Buch erzählt die Geschichte eines jungen Mannes im Vierteljahrhundert zwischen 1980 und den frühen Nullerjahren. Der Ich-Erzähler ist Sohn eines Landpfarrers und einer Landärztin im verstecktesten Teil, den Deutschland zu jener Zeit überhaupt vorweisen konnte: unmittelbar hinter der Staatsgrenze der DDR, auf der östlichen Seite, im Werratal, dort wo ein thüringischer Bauch ins Hessische hängt. Das Dorf mit seiner alten, innen barockisierten Kirche liegt am Fuße des Krayenbergs und da die Google-Maps-genauen, Adalbert-Stifter-haft präzisen Landschaftsbeschreibungen nicht trügen können, sei hier das originale Vorbild schon bekannt gegeben: Es ist der Flecken Vachdorf. Im Buch heißt er „Urspring“ (solche Namen gibt es unweit auf der Rhön) und er soll nahe am geografischen Mittelpunkt Deutschlands gelegen sein. Hier ist das Zentrum, der Punkt, um das herum sich die Geschichte in immer weiteren Kreisen entfaltet.
Was ist das für eine Geschichte? Zunächst, es ist keine DDR-Geschichte. Keine dieser schmerzhaft-schmuddelwettrigen Wende-Nachwende Roman-Reportagen, die vom Ordnungs- und Autoritätsverlust, jugendlicher Selbstüberlassenheit, verzweifelnden Elternautoritäten handeln, von rechten und linken Prügeljugendlichen. Das Pfarrhaus war schon in der DDR eine Welt für sich, tief in der Zeit verankert, daran ändert auch die Wende nichts.
Bücher, Hausmusik, alte Möbel, Blumengärten, Wolken und Felder – da ist die Geschichte nur ein weiteres Kapitel nach vielen vorangehenden, zum Beispiel dem Dreißigjährigen Krieg und den Hexenverfolgungen. Blätter einer Chronik, nicht mehr, verbucht in eleganten Asides. Wenn es einen DDR-Bezug gibt, dann ist er indirekt, weil in der staatsfernen konfessionellen und regionalen Nische eben eine Bildungskontinuität weiterleben konnte, die nun eben dieses Buch ermöglicht.
Es zeigt eine Liebesgeschichte. Aber diese ist so aus der Zeit gefallen, dass man ein wenig in Lektüreerinnerungen kramen muss, um sie zu verstehen. In seiner Knabenzeit verkuckt sich der Held in ein Mädchen namens Angelika, das er fortan meist von ferne anschwärmt, gelegentlich trifft, dem er einmal sogar erotisch nahekommt, in einem absichtsvoll unpersönlichen Geschehen. Doch diese Angelika ist kaum mehr als ein abstrakter Sehnsuchtspol wie die Angebeteten in der Minne-Dichtung.
Der Roman erwähnt fast überdeutlich Dantes „Vita Nova“, Petrarcas Laura, er hätte auch die Fiametta des Boccaccio nennen können – ferne Frauenbilder, die ihre Verehrer in unentwegter Spannung halten, ohne ihnen Berührungen zu gewähren, eher platonische Gestirne zur Seelenelevation als anfassbare Wesen. Darum ist das Buch auch völlig unpsychologisch, Seele ist hier eine Menschenkraft, nichts Individuelles. Am Schluss wird Angelika endgültig verlassen zugunsten eines sokratischen Daimonions, in einem Riesensprung hinauf in den kosmischen Sphärenhimmel, so als müsse der Autor beweisen, dass ihm gar nichts unmöglich ist.
Dass Angelika mit Nachnamen „Schmidbauer“ heißt, gehört zu den Ernüchterungen, die hier wohltuend den eigenen Erdboden markieren. Das Buch ist nämlich auf eine allerdings so versteckte Art witzig, dass mancher das übersehen könnte. Die von Minne-Spannung getragene Geschichte – äußere Stationen sind ein Gymnasium in Meiningen, das Studium in Heidelberg, eine Zeit in Berlin, dann in Cambridge, eine Fachkonferenz in Soglio, der Alpenschwelle zwischen Schweiz und Italien –, diese Geschichte muss man wohl als Bildungsroman bezeichnen.
Aber die Entwicklung, die er zeigt, ist nur eine Entfaltung, ein fast vegetatives Wachstum oder eine Rilkesche Steigerung in weiteren Kreisen, keine Bildung an Welt, Beruf oder Irrtümern, keine Wilhelm-Meister-Spannung zwischen Kaufmannsleben und Schauspielerei, keine Disproportion des Talents mit dem Leben. Es geht ums Lesen, Musikhören und befeuerten Austausch darüber, in den Cambridge-Passagen auch um Geselligkeiten mit sehr symbolisch gefassten Figuren. Richard Wagner ist ein so großer Eindruck, dass er nicht nur die Sprache mit allerlei Alliterationen infiziert, sondern als „Verwandlungsmusik“ an einer Stelle sogar den Handlungsfortgang übernimmt – ein literarischer Geschicklichkeitsbeweis, den man mit einem kleinen Lächeln quittiert.
Vieles Große wird mit unbeirrtem Selbstbewusstsein aufgegriffen, Hölderlin, Goethe, Jean Paul, Nietzsche, während das zeitgenössische Universitätsleben mit allerdings zu leichter kulturkritischer Geste abgetan wird – einen „Beruf“ kann es jedenfalls nicht bieten. Aber was alle diese intellektuellen Bezüge überwächst, sind die mit unglaublicher Virtuosität geschilderten Landschaften, nach Werra und Neckar die englische Dörfer- und Gartenwelt, später die Felsengebirge der Schweiz.
Der Roman zeigt eine Steigerung um ihrer selbst willen, und daran werden sich die Geister auch scheiden. Wer keine Freude daran hat, dies wie ein Musikstück auf sich wirken zu lassen, wer in einem Buch, das so voller Philosophie ist, Botschaften sucht, wird verloren gehen. Und natürlich können einem bösen Blick auch stilistische Fehler auffallen, gerade weil hier alles so heikel tariert ist: Wörter wie „fluten“ oder „wogen“ zum Beispiel verwendet Maeß ein paar Mal zu oft.
Wem all das zu feierlich klingt, darf sich an ein anderes Buch erinnern lassen, das genau gegenüber vom Werratal auf der westdeutschen Seite im damals sogenannten Zonenrandgebiet spielte: Eckhard Henscheids letzter Roman „Maria Schnee“. Dort setzte ein Martinshorn den Eichendorff-Ton in der Sternennacht. Das war 1988. Heute greift Emanuel Maeß den romantischen Ton auf, und siehe: Es geht.
Emanuel Maeß: Gelenke des Lichts. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 252 Seiten, 20 Euro.
Der Held entstammt dem
protestantischen Pfarrhaus und
dem Werratal auf der DDR-Seite
Wer in einem Buch, das so voller
Philosophie ist, nach Botschaften
sucht, wird verloren gehen
Zwischen Blumen und Büchern: Der Schriftsteller Emanuel Maeß, geboren 1977 in Jena, dem intellektuellen Zentrum der deutschen Frühromantik.
Foto: privat
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Waldgewell, Jugendhoffnung und eine Liebe namens Angelika: Emanuel Maeß erneuert
in seinem Debütroman „Gelenke des Lichts“ die Tradition romantischen Erzählens
VON GUSTAV SEIBT
Unwahrscheinlich schön schreibt Emanuel Maeß in seinem Erstlingsroman „Gelenke des Lichts“. Unwahrscheinlich in einem doppelten Sinn: Erstens, weil diese Sprache aus ferner Vergangenheit zu kommen scheint, so fein rhythmisiert weiß sie Landschaften, Stimmungen und Bewusstseinszustände in schwingende Satzbauten zu bringen, als habe die Romantik nie aufgehört. Zweitens, und das ist die größere Unwahrscheinlichkeit, hat sie gar nichts Rückwärtsgewandtes oder platt Nostalgisches, sie bleibt historisch bewusst und vermeidet die Hohlheit der Stilkopie. Der Überschwang, die Welt-, Natur-, ja Schöpfungsseligkeit dieses Stils scheint immer wieder vor sich selbst zu erschrecken und sich sacht zur Nüchternheit zu zwingen. Vor allem aber ist er unglaublich genau.
Die erste Seite, ein klassisches Proömium, setzt den Ton. „Vor einigen Jahren, als ich einen Abend lang vergeblich auf dich wartete, ergab sich die Gelegenheit, wieder einmal einem Mond zuzusehen.“ Das ist schön gedämpft und leise lächelnd
– wann nimmt man schon „Gelegenheit“, wieder einmal dem Mond zuzusehen? Dieser geht dann „gelassen und ein wenig selbstgefällig“, aber in „ewigen Bahnen“ über die nächtliche Landschaft mit „Reihenhaussiedlung“ und „Talseite“, einem neuen und einem alten Wort also. Zunächst wenig Feierlichkeit: „Wäre darin ein geheimer Zuspruch verborgen gewesen, hätte ich ihn vermutlich überhört.“
Dann aber muss doch die ganze Astronomie, das Sternengewölbe herhalten, die Mondkraft mit Flut und Ebbe und Monat und weiblicher Regel, um den Nachthimmel gebührend weit zu spannen. Wir sind da auf der zweiten Seite erst, und ein Dutzend Motive wurde schon angeschlagen; man ahnt es, das Weitere bestätigt es: Keines geht verloren.
Viel später, der Erzähler ist erwachsen geworden, hat sein Elternhaus verlassen und studiert nun in der Romantikerstadt Heidelberg, blickt er wieder so weit hinaus, diesmal in den Sonnenuntergang hinüber zum Rhein: „Auch der Himmel, mit dem ich noch eine Weile hermeneutische Folgeprobleme erörterte, stand im Stau des Berufsverkehrs und zog dem großen Gestirn in langen Rotphasen nach. Unter mir das Sinnbild aller Erstsemesterhoffnungen; Deutsch-Athen, der Strom, der in die Ebene ausfloss, über der die Wolkenschatten miteinander rangen, Waldgewell über Bergrücken und Nebentälern, die geborstene Pfalzburg, Kitsch und Gartenlaube des Neubeginns.“ Wann im Leben hat man ein Recht, so feierlich zu sein? Doch wohl am Beginn seines Studiums, samt Hermeneutik-Altklugheit. Nur, das mit der Feierlichkeit muss man können. Maeß kann es.
Diese 250 Seiten bedeuten für den Empfänglichen eine unablässige Kette von Entzückungen, am liebsten sehr langsam zu lesen. Dass es Leser geben wird, denen das nichts sagt, sondern sogar auf die Nerven fällt, ist zu prognostizieren, aber auch zu verschmerzen. Die fein austarierte Perfektion, die Dichte des Gewebes, die Fülle sinnlicher Anschauungen, die Einzelschönheiten also, können sogar vergessen lassen, dass dieses Buch ein Roman ist, eine Art Entwicklung zeigt, einen Grundriss hat. Man könnte es nämlich auch wie ein prosalyrisches Brevier gebrauchen.
Das Buch erzählt die Geschichte eines jungen Mannes im Vierteljahrhundert zwischen 1980 und den frühen Nullerjahren. Der Ich-Erzähler ist Sohn eines Landpfarrers und einer Landärztin im verstecktesten Teil, den Deutschland zu jener Zeit überhaupt vorweisen konnte: unmittelbar hinter der Staatsgrenze der DDR, auf der östlichen Seite, im Werratal, dort wo ein thüringischer Bauch ins Hessische hängt. Das Dorf mit seiner alten, innen barockisierten Kirche liegt am Fuße des Krayenbergs und da die Google-Maps-genauen, Adalbert-Stifter-haft präzisen Landschaftsbeschreibungen nicht trügen können, sei hier das originale Vorbild schon bekannt gegeben: Es ist der Flecken Vachdorf. Im Buch heißt er „Urspring“ (solche Namen gibt es unweit auf der Rhön) und er soll nahe am geografischen Mittelpunkt Deutschlands gelegen sein. Hier ist das Zentrum, der Punkt, um das herum sich die Geschichte in immer weiteren Kreisen entfaltet.
Was ist das für eine Geschichte? Zunächst, es ist keine DDR-Geschichte. Keine dieser schmerzhaft-schmuddelwettrigen Wende-Nachwende Roman-Reportagen, die vom Ordnungs- und Autoritätsverlust, jugendlicher Selbstüberlassenheit, verzweifelnden Elternautoritäten handeln, von rechten und linken Prügeljugendlichen. Das Pfarrhaus war schon in der DDR eine Welt für sich, tief in der Zeit verankert, daran ändert auch die Wende nichts.
Bücher, Hausmusik, alte Möbel, Blumengärten, Wolken und Felder – da ist die Geschichte nur ein weiteres Kapitel nach vielen vorangehenden, zum Beispiel dem Dreißigjährigen Krieg und den Hexenverfolgungen. Blätter einer Chronik, nicht mehr, verbucht in eleganten Asides. Wenn es einen DDR-Bezug gibt, dann ist er indirekt, weil in der staatsfernen konfessionellen und regionalen Nische eben eine Bildungskontinuität weiterleben konnte, die nun eben dieses Buch ermöglicht.
Es zeigt eine Liebesgeschichte. Aber diese ist so aus der Zeit gefallen, dass man ein wenig in Lektüreerinnerungen kramen muss, um sie zu verstehen. In seiner Knabenzeit verkuckt sich der Held in ein Mädchen namens Angelika, das er fortan meist von ferne anschwärmt, gelegentlich trifft, dem er einmal sogar erotisch nahekommt, in einem absichtsvoll unpersönlichen Geschehen. Doch diese Angelika ist kaum mehr als ein abstrakter Sehnsuchtspol wie die Angebeteten in der Minne-Dichtung.
Der Roman erwähnt fast überdeutlich Dantes „Vita Nova“, Petrarcas Laura, er hätte auch die Fiametta des Boccaccio nennen können – ferne Frauenbilder, die ihre Verehrer in unentwegter Spannung halten, ohne ihnen Berührungen zu gewähren, eher platonische Gestirne zur Seelenelevation als anfassbare Wesen. Darum ist das Buch auch völlig unpsychologisch, Seele ist hier eine Menschenkraft, nichts Individuelles. Am Schluss wird Angelika endgültig verlassen zugunsten eines sokratischen Daimonions, in einem Riesensprung hinauf in den kosmischen Sphärenhimmel, so als müsse der Autor beweisen, dass ihm gar nichts unmöglich ist.
Dass Angelika mit Nachnamen „Schmidbauer“ heißt, gehört zu den Ernüchterungen, die hier wohltuend den eigenen Erdboden markieren. Das Buch ist nämlich auf eine allerdings so versteckte Art witzig, dass mancher das übersehen könnte. Die von Minne-Spannung getragene Geschichte – äußere Stationen sind ein Gymnasium in Meiningen, das Studium in Heidelberg, eine Zeit in Berlin, dann in Cambridge, eine Fachkonferenz in Soglio, der Alpenschwelle zwischen Schweiz und Italien –, diese Geschichte muss man wohl als Bildungsroman bezeichnen.
Aber die Entwicklung, die er zeigt, ist nur eine Entfaltung, ein fast vegetatives Wachstum oder eine Rilkesche Steigerung in weiteren Kreisen, keine Bildung an Welt, Beruf oder Irrtümern, keine Wilhelm-Meister-Spannung zwischen Kaufmannsleben und Schauspielerei, keine Disproportion des Talents mit dem Leben. Es geht ums Lesen, Musikhören und befeuerten Austausch darüber, in den Cambridge-Passagen auch um Geselligkeiten mit sehr symbolisch gefassten Figuren. Richard Wagner ist ein so großer Eindruck, dass er nicht nur die Sprache mit allerlei Alliterationen infiziert, sondern als „Verwandlungsmusik“ an einer Stelle sogar den Handlungsfortgang übernimmt – ein literarischer Geschicklichkeitsbeweis, den man mit einem kleinen Lächeln quittiert.
Vieles Große wird mit unbeirrtem Selbstbewusstsein aufgegriffen, Hölderlin, Goethe, Jean Paul, Nietzsche, während das zeitgenössische Universitätsleben mit allerdings zu leichter kulturkritischer Geste abgetan wird – einen „Beruf“ kann es jedenfalls nicht bieten. Aber was alle diese intellektuellen Bezüge überwächst, sind die mit unglaublicher Virtuosität geschilderten Landschaften, nach Werra und Neckar die englische Dörfer- und Gartenwelt, später die Felsengebirge der Schweiz.
Der Roman zeigt eine Steigerung um ihrer selbst willen, und daran werden sich die Geister auch scheiden. Wer keine Freude daran hat, dies wie ein Musikstück auf sich wirken zu lassen, wer in einem Buch, das so voller Philosophie ist, Botschaften sucht, wird verloren gehen. Und natürlich können einem bösen Blick auch stilistische Fehler auffallen, gerade weil hier alles so heikel tariert ist: Wörter wie „fluten“ oder „wogen“ zum Beispiel verwendet Maeß ein paar Mal zu oft.
Wem all das zu feierlich klingt, darf sich an ein anderes Buch erinnern lassen, das genau gegenüber vom Werratal auf der westdeutschen Seite im damals sogenannten Zonenrandgebiet spielte: Eckhard Henscheids letzter Roman „Maria Schnee“. Dort setzte ein Martinshorn den Eichendorff-Ton in der Sternennacht. Das war 1988. Heute greift Emanuel Maeß den romantischen Ton auf, und siehe: Es geht.
Emanuel Maeß: Gelenke des Lichts. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 252 Seiten, 20 Euro.
Der Held entstammt dem
protestantischen Pfarrhaus und
dem Werratal auf der DDR-Seite
Wer in einem Buch, das so voller
Philosophie ist, nach Botschaften
sucht, wird verloren gehen
Zwischen Blumen und Büchern: Der Schriftsteller Emanuel Maeß, geboren 1977 in Jena, dem intellektuellen Zentrum der deutschen Frühromantik.
Foto: privat
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2019Die richtige romantische Drehzahl
Emanuel Maeß entwickelt in "Gelenke des Lichts" eine souverän erzählte Lebensliebesgeschichte
Die Geschichte ist weder verschlungen noch verschachtelt. Noch da, wo die Handlung auf der Hälfte des Buches in einer berühmten englischen Universitätsstadt anlangt, geschieht nichts Furchtbares, wird nichts enthüllt oder aufgedeckt, sondern Cambridges herrliche Fassaden stellen das Bühnenbild für ein Stück namens Bildung. Dessen Figuren sind künftige Pastoren, Akademikerinnen, Schriftsteller und Investmentbanker. Ein Junge sieht im letzten Sommer der DDR ein Mädchen am Strand. Ihr Bild lässt ihn von da an nicht mehr los. Erzählt wird, wie sich ihre Wege von der frühen Jugend bis zum Ende seines Studiums selten, aber doch kreuzen. Wie er sein Leben aus der Distanz, aber durch die Heftigkeit der ersten Liebe mit ihrem verbunden fühlt, und mit welchen Lektüren, Studien, Begegnungen und Beobachtungen er die Lücken ihres Fernseins füllt. Erzählt wird ihre nur für ihn zu fühlende innere Anwesenheit, wie er lebt, als wäre es der Auftrag dieser Liebe an ihn, zu dem zu werden, der er ist. Davon handelt "Gelenke des Lichts".
Es handelt vom Abenteuer der Innerlichkeit im 21. Jahrhundert, davon, wie unsere Liebe Projektion, Phantasie ist, wie wir damit so umgehen, dass die Unerfülltheit uns nicht elend, schwer, träge und bitter macht, sondern lehrt, die Intensität selbst zu lieben und aus ihr Lebens- und Weisheitskapital zu schlagen - und dieses Gefühl als Brücke in die Literatur der Vergangenheit zu benutzen.
Das Buch ist mit 250 Seiten nicht lang, aber es leistet vieles. Es beschreibt die Atmosphäre eines Landpfarrerhaushalts mit der als Ärztin arbeitenden Mutter am Ende der DDR. Wir sehen Meiningen aus den Augen eines Gymnasiasten, Heidelberg aus der Sicht eines in der DDR regimefern und mit Religionsphilosophie aufgewachsenen Erstsemesters. Und wir betrachten Cambridge durch die Brille der Gelehrsamkeit desjenigen, der weiß, dass die von Hausarbeiten unterbrochene Party irgendwann zu Ende geht und die ganzen Intelligenz-PS dann auf die Straße der Karriere gebracht werden müssen.
Sofern es also um die Chronologie und den Handlungsverlauf geht, macht es Emanuel Maeß in seinem Erstlingsroman keinem Leser sonderlich schwer. Aber was heißen schon Chronologie und Handlungsverlauf in einem Buch, das so oft das Gefühl auslöst, nicht auf der Welle der Erzählung bis zum Ende des Buchs durchgleiten zu wollen, sondern innehalten zu sollen, zurückblättern zu müssen. Denn das Zurücktauchen in die Vergangenheit, das Verweilen an Orten, die einen Verlust des Zeitgefühls herbeiführen, wie er leicht und sorglos nur in der Kindheit eintritt, das verlangsamt die Lesegeschwindigkeit, als wäre diese Prosa Poesie. Und so liest man Sätze noch einmal und noch einmal, wunderbare Sätze wie diesen, gleich auf der ersten Seite, wenn die anthropomorphe Rede ist vom Mond: "Gelassen und ein wenig selbstgefällig ging er über meiner wachsenden Ungeduld und einer Reihenhaussiedlung auf der gegenüberliegenden Talseite auf und zog seine ewigen Bahnen." Den Mond in der Absicht, ihn zu kritisieren, zum Menschlichen herabzuholen, als wäre es nichts, im selben Satz das ihn anschauende Subjekt als ein unkonzentriertes, zur reinen Anschauung unfähiges zu skizzieren und dann den trotz allem erhabenen Mond mit dem Profanen zu kontrastieren, der Reihenhaussiedlung, das hat Witz und bleibt hängen.
Diese unaufdringliche Ironie ist es, die im Spiel mit Vorbildern großer Erzählkunst sofort für das Buch einnimmt. Seine Prosa ist freundlich, spöttisch, ohne zu kränken, romantisch, ohne rückwärtsgewandt zu sein. Sie entwirft das Porträt eines Ich-Erzählers, der sein Licht eher unter den Scheffel stellt, der die Geschichte eines Erwachsenwerdens durchlebt, bei dem es nicht auf den Intellekt allein ankommt, sondern sich die emotionalen und nervösen Anteile der Persönlichkeit mit dem Verstand vereint wissen. Die Stimme des Erzählers ist poetisch, analytisch und überhaupt nicht sentimental. Manchmal klingt sie etwas bieder oder altklug, aber das ist sehr selten. Durchgängig spürt man eine Bescheidenheit und Zurückhaltung im Ton, die mehr als einnehmend ist. Der Mond, die Werra, das Pfarrhaus, die Wiesen, Felder und Bäume, die DDR, das Meer, die Sterne, Urspring, Meiningen, Heidelberg, Cambridge, die Uckermark nicht zu vergessen: All diese Bilder, diese Orte und Zeiten, Goethe-Reminiszenzen und Gainsborough-Erwähnungen beschwören in den Schilderungen von Emanuel Maeß eine Innigkeit der Weltbeziehung herauf, von der Kindheit des Erzählers an, die sogleich gefangennimmt.
Das Wundervolle ist, dass es Maeß darauf anzulegen scheint, romantische Traditionen im 21. Jahrhundert erneuern zu wollen, und alle Schilderungen von Landschaften mit den Empfindungen des Protagonisten verbindet. Das Du, das er im Text häufig adressiert, hat einen Namen, Angelika, und als er sich in diese Angelika schockverliebt, ist sie neun Jahre alt und er elf. Sie sind Kinder, aber der Ich-Erzähler ist eigentlich schon der, der er zu werden sich das ganze Buch hindurch anschickt - ein Phantasierender, ein Schreibender, ein von der Erde Abhebender, ein Wachträumender. Er schildert denn auch diese erste Begegnung wie eine Vision. Am Strand veranstalten die Erwachsenen ein ausschweifendes Fest, als wären sie Nixen und Meeresgötter. Zwischen den Kostümierten tanzen die verkleideten Kinder herum. Ein DDR-Idyll. Selbstvergessen tanzt da das glückliche Kind Angelika und wird zur Begehrten des Buches.
Schon in der Mitte des Buches ist diese Reflexion des unerwidert - oder nur freundschaftlich - geliebten Erzählers zu finden, Äonen von den Gefühlen des Elfjährigen entfernt und doch genährt aus diesen: "Es leidet ja nicht nur der, der leidenschaftlich, verzweifelt und unerwidert liebt, sondern auch der andere, dem diese Liebe gilt, der jedoch beim besten Willen nicht an die Kraft, Höhe oder Metaphysik dieser Gewalten herankommt und deshalb auch nicht anders als mit Misstrauen, Angst oder einer Distanz aus übermäßigem Respekt reagieren kann. Es muss gar nicht immer bedeuten, dass man den anderen nicht auch liebenswert findet. Vielleicht könnte man ihn sogar lieben, aber nicht in dieser romantischen Drehzahl, mit diesen dramatischen Anbetungsgesten und der verdammten Intellektualität. Es wäre auch eine Niederlage für einen selbst, wenn man nicht auf Augenhöhe mitspielen kann."
Und darum steht am Ende des Romans der endgültige Aufbruch ins Erwachsendasein, ins Allein-fliegen-Können: "Dann holten mir die warmen Winde, die durch die Kastanien fuhren, wieder Dich zurück, Daimonion und Daseinsführer, Genius, Dschinn, angelical consultant oder wie auch immer man dieses weitblickende Neben-Ich sonst noch nennen mag, das mir hin und wieder zuraunte: ,Jetzt aber los!'" Dieses "los!" bezieht sich auf eine Laufbahn - oder soll man sagen: Flugbahn? - als Schriftsteller, nicht als Akademiker.
So wird der Ich-Erzähler auf wissenschaftlichen Konferenzen, von denen eine sehr witzig geschildert ist, wohl künftig nicht in der Rolle des Forschers auftreten, sondern als Autor von Gegenständen solcher Studien vorkommen, nicht die leichtere unbedingt, aber die passende Seite der Medaille.
WIEBKE HÜSTER
Emanuel Maeß:
"Gelenke des Lichts".
Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 254 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Emanuel Maeß entwickelt in "Gelenke des Lichts" eine souverän erzählte Lebensliebesgeschichte
Die Geschichte ist weder verschlungen noch verschachtelt. Noch da, wo die Handlung auf der Hälfte des Buches in einer berühmten englischen Universitätsstadt anlangt, geschieht nichts Furchtbares, wird nichts enthüllt oder aufgedeckt, sondern Cambridges herrliche Fassaden stellen das Bühnenbild für ein Stück namens Bildung. Dessen Figuren sind künftige Pastoren, Akademikerinnen, Schriftsteller und Investmentbanker. Ein Junge sieht im letzten Sommer der DDR ein Mädchen am Strand. Ihr Bild lässt ihn von da an nicht mehr los. Erzählt wird, wie sich ihre Wege von der frühen Jugend bis zum Ende seines Studiums selten, aber doch kreuzen. Wie er sein Leben aus der Distanz, aber durch die Heftigkeit der ersten Liebe mit ihrem verbunden fühlt, und mit welchen Lektüren, Studien, Begegnungen und Beobachtungen er die Lücken ihres Fernseins füllt. Erzählt wird ihre nur für ihn zu fühlende innere Anwesenheit, wie er lebt, als wäre es der Auftrag dieser Liebe an ihn, zu dem zu werden, der er ist. Davon handelt "Gelenke des Lichts".
Es handelt vom Abenteuer der Innerlichkeit im 21. Jahrhundert, davon, wie unsere Liebe Projektion, Phantasie ist, wie wir damit so umgehen, dass die Unerfülltheit uns nicht elend, schwer, träge und bitter macht, sondern lehrt, die Intensität selbst zu lieben und aus ihr Lebens- und Weisheitskapital zu schlagen - und dieses Gefühl als Brücke in die Literatur der Vergangenheit zu benutzen.
Das Buch ist mit 250 Seiten nicht lang, aber es leistet vieles. Es beschreibt die Atmosphäre eines Landpfarrerhaushalts mit der als Ärztin arbeitenden Mutter am Ende der DDR. Wir sehen Meiningen aus den Augen eines Gymnasiasten, Heidelberg aus der Sicht eines in der DDR regimefern und mit Religionsphilosophie aufgewachsenen Erstsemesters. Und wir betrachten Cambridge durch die Brille der Gelehrsamkeit desjenigen, der weiß, dass die von Hausarbeiten unterbrochene Party irgendwann zu Ende geht und die ganzen Intelligenz-PS dann auf die Straße der Karriere gebracht werden müssen.
Sofern es also um die Chronologie und den Handlungsverlauf geht, macht es Emanuel Maeß in seinem Erstlingsroman keinem Leser sonderlich schwer. Aber was heißen schon Chronologie und Handlungsverlauf in einem Buch, das so oft das Gefühl auslöst, nicht auf der Welle der Erzählung bis zum Ende des Buchs durchgleiten zu wollen, sondern innehalten zu sollen, zurückblättern zu müssen. Denn das Zurücktauchen in die Vergangenheit, das Verweilen an Orten, die einen Verlust des Zeitgefühls herbeiführen, wie er leicht und sorglos nur in der Kindheit eintritt, das verlangsamt die Lesegeschwindigkeit, als wäre diese Prosa Poesie. Und so liest man Sätze noch einmal und noch einmal, wunderbare Sätze wie diesen, gleich auf der ersten Seite, wenn die anthropomorphe Rede ist vom Mond: "Gelassen und ein wenig selbstgefällig ging er über meiner wachsenden Ungeduld und einer Reihenhaussiedlung auf der gegenüberliegenden Talseite auf und zog seine ewigen Bahnen." Den Mond in der Absicht, ihn zu kritisieren, zum Menschlichen herabzuholen, als wäre es nichts, im selben Satz das ihn anschauende Subjekt als ein unkonzentriertes, zur reinen Anschauung unfähiges zu skizzieren und dann den trotz allem erhabenen Mond mit dem Profanen zu kontrastieren, der Reihenhaussiedlung, das hat Witz und bleibt hängen.
Diese unaufdringliche Ironie ist es, die im Spiel mit Vorbildern großer Erzählkunst sofort für das Buch einnimmt. Seine Prosa ist freundlich, spöttisch, ohne zu kränken, romantisch, ohne rückwärtsgewandt zu sein. Sie entwirft das Porträt eines Ich-Erzählers, der sein Licht eher unter den Scheffel stellt, der die Geschichte eines Erwachsenwerdens durchlebt, bei dem es nicht auf den Intellekt allein ankommt, sondern sich die emotionalen und nervösen Anteile der Persönlichkeit mit dem Verstand vereint wissen. Die Stimme des Erzählers ist poetisch, analytisch und überhaupt nicht sentimental. Manchmal klingt sie etwas bieder oder altklug, aber das ist sehr selten. Durchgängig spürt man eine Bescheidenheit und Zurückhaltung im Ton, die mehr als einnehmend ist. Der Mond, die Werra, das Pfarrhaus, die Wiesen, Felder und Bäume, die DDR, das Meer, die Sterne, Urspring, Meiningen, Heidelberg, Cambridge, die Uckermark nicht zu vergessen: All diese Bilder, diese Orte und Zeiten, Goethe-Reminiszenzen und Gainsborough-Erwähnungen beschwören in den Schilderungen von Emanuel Maeß eine Innigkeit der Weltbeziehung herauf, von der Kindheit des Erzählers an, die sogleich gefangennimmt.
Das Wundervolle ist, dass es Maeß darauf anzulegen scheint, romantische Traditionen im 21. Jahrhundert erneuern zu wollen, und alle Schilderungen von Landschaften mit den Empfindungen des Protagonisten verbindet. Das Du, das er im Text häufig adressiert, hat einen Namen, Angelika, und als er sich in diese Angelika schockverliebt, ist sie neun Jahre alt und er elf. Sie sind Kinder, aber der Ich-Erzähler ist eigentlich schon der, der er zu werden sich das ganze Buch hindurch anschickt - ein Phantasierender, ein Schreibender, ein von der Erde Abhebender, ein Wachträumender. Er schildert denn auch diese erste Begegnung wie eine Vision. Am Strand veranstalten die Erwachsenen ein ausschweifendes Fest, als wären sie Nixen und Meeresgötter. Zwischen den Kostümierten tanzen die verkleideten Kinder herum. Ein DDR-Idyll. Selbstvergessen tanzt da das glückliche Kind Angelika und wird zur Begehrten des Buches.
Schon in der Mitte des Buches ist diese Reflexion des unerwidert - oder nur freundschaftlich - geliebten Erzählers zu finden, Äonen von den Gefühlen des Elfjährigen entfernt und doch genährt aus diesen: "Es leidet ja nicht nur der, der leidenschaftlich, verzweifelt und unerwidert liebt, sondern auch der andere, dem diese Liebe gilt, der jedoch beim besten Willen nicht an die Kraft, Höhe oder Metaphysik dieser Gewalten herankommt und deshalb auch nicht anders als mit Misstrauen, Angst oder einer Distanz aus übermäßigem Respekt reagieren kann. Es muss gar nicht immer bedeuten, dass man den anderen nicht auch liebenswert findet. Vielleicht könnte man ihn sogar lieben, aber nicht in dieser romantischen Drehzahl, mit diesen dramatischen Anbetungsgesten und der verdammten Intellektualität. Es wäre auch eine Niederlage für einen selbst, wenn man nicht auf Augenhöhe mitspielen kann."
Und darum steht am Ende des Romans der endgültige Aufbruch ins Erwachsendasein, ins Allein-fliegen-Können: "Dann holten mir die warmen Winde, die durch die Kastanien fuhren, wieder Dich zurück, Daimonion und Daseinsführer, Genius, Dschinn, angelical consultant oder wie auch immer man dieses weitblickende Neben-Ich sonst noch nennen mag, das mir hin und wieder zuraunte: ,Jetzt aber los!'" Dieses "los!" bezieht sich auf eine Laufbahn - oder soll man sagen: Flugbahn? - als Schriftsteller, nicht als Akademiker.
So wird der Ich-Erzähler auf wissenschaftlichen Konferenzen, von denen eine sehr witzig geschildert ist, wohl künftig nicht in der Rolle des Forschers auftreten, sondern als Autor von Gegenständen solcher Studien vorkommen, nicht die leichtere unbedingt, aber die passende Seite der Medaille.
WIEBKE HÜSTER
Emanuel Maeß:
"Gelenke des Lichts".
Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 254 S., geb., 20,- [Euro].
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»Seine Prosa ist freundlich, spöttisch, ohne zu kränken, romantisch, ohne rückwärts gewandt zu sein.« (Wiebke Hüster, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.08.2019) »Unwahrscheinlich schön schreibt Emanuel Maeß in seinem Erstlingsroman 'Gelenke des Lichts'.« (Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 05.03.2019) »ein überragender Erstling« (Björn Hayer, »Bücher am Sonntag« NZZ am Sonntag, 24.02.2019) »'Gelenke des Lichts' ist eine Messfeier der Literatur und ein Hohelied der Liebe zum Leben (...). Schön, dass es dieses Buch gibt.« (Michael Wolf, neues deutschland, 14.11.2019) »ein ungewöhnliches Debüt (...), ein großer Genuss, das zu lesen.« (Manuela Reichart, rbbKulturradio, 04.03.2019) »Sehr wacker und fast schon beängstigend klug stemmt er (der Autor) sich gegen jeden Form von Zeitgeist in seiner famosen Melange aus Campus-, Liebes- und Bildungsroman.« (Ulrich Steinmetzger, Sächsische Zeitung, 23./24.03.2019) »Ein Liebes-, Bildungs- und Schelmenroman, wie es ihn auf Deutsch sehr lange nicht gab.« (Uli Hufen, WDR 3, 08.06.2019) »Das Aufregende an diesem Debüt ist nicht zuletzt die literarische Tradition, in der sich der Autor bewegt« (Manuela Reichart, rbb Kultur, Bücher für den Sommer 2019) »Die von Maeß verwendete Sprache ist stets gewaltig und tiefgründig sowie zugleich von Leichtigkeit und Eleganz.« (Christian Straub, ekz.bibliotheksservice, 11.02.2019) »Eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literatur« (Marius Müller, www.buch-haltung, 04.03.2019) »Lässt man sich auf das Buch ein, dann hat es die Kraft, einen in den Bann zu ziehen.« (Sebastian Engelmann, literaturkritik.de, 19.09.2019)