Was ist die Türkei? Der Dönerbrater in Hamburgs Fußgängerzone? Der Strand in Kemer? Der gedeckte Basar in Istanbul? So nahe und vertraut scheint einem dieses Land, das Millionen seiner Bürger zum Arbeiten und Leben nach Europa geschickt hat und in dem Millionen von Europäern alljährlich ihren Urlaub verbringen. Und doch sind die Türken uns fremd geblieben, fremd und ein wenig exotisch. Wolfgang Koydl hat das ganze Land bereist und ein facettenreiches, buntes Bild entdeckt. Er hat mit den letzten Griechen von Konstantinopel gesprochen und ist der Frage nachgegangen, warum ein Hut lebensgefährlich sein kann. Er ist mit dem "Anadolu Ekspresi" nach Ankara gefahren, der Stadt mit dem diskreten Charme der Bürokratie, und zu den Brauthändlern in Kurdistan. Und er berichtet auch von den dunklen Seiten des türkischen Alltags, von kurdischen Frauen etwa, denen die meisten Türken nicht einmal ihre Trauer gönnen. Türken, so hat er festgestellt, lieben ihre Fahne, ihre Familie, Atatürk un d ihre Bequemlichkeit: Wo immer möglich, erledigt man die Kleinigkeiten des Alltags nicht selbst, sondern läßt erledigen. Und über diesem Kaleidoskop der Völker, Sprachen und Religionen wacht der Staat, der heilige, strenge und unnahbare.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2001Europa
"Gelobt sei der Hl. Staat. Türkische Tragikomödien" von Wolfgang Koydl. Picus Verlag, Wien 2001. 132 Seiten. Gebunden, 27,80 Mark. ISBN 3-85452-740-3.
Der Tee ist für die Türken ein "großer Gleichmacher", der omnipräsente Teekoch ein "Sendbote der Zivilisation in den unwirtlichen Wüsten des Alltags". Wolfgang Koydls neues Türkei-Buch konzentriert sich auf das einfache Volk, das abseits sozialer Netze und unberührt von der Rhetorik eines "Heiligen Staates" die kleinen Freuden des Alltags zelebriert. In achtzehn Episoden fängt er die ganz gewöhnlichen Geschäfte, Beschäftigungen und Bequemlichkeiten der Bevölkerung ein - doch immer dann, wenn die Geschichten in proletarische Romantik abzugleiten drohen, werden sie von der harten Realität durchbrochen. Koydl bringt die sprichwörtliche türkische Gastfreundschaft genauso zur Sprache wie den überkommenen Brauch des Brauthandels in Kurdistan. Er hebt die Gefahren durch fundamentalistische Kräfte im Vielvölkerstaat hervor und beschreibt das historisch schwierige und zwiespältige Verhältnis der Republik zu Sultanat und Kalifat. Die Reibungen zwischen der modern-säkularen und der traditionell-islamistischen Türkei illustriert er sehr pragmatisch an der Kulturgeschichte der Kopfbedeckung, denn Atatürk verbot den Fes und führte den westlichen Hut als Exempel zivilisierter Bekleidung ein. Die große Mehrzahl von Koydls Kurzgeschichten dreht sich um die Minderheiten der Türkei, um Kurden, Istanbul-Griechen oder Aramäer. Fernab von den Touristenzentren spürt er mit Vorliebe Grenzgebiete auf, Niemandsländer, in denen gesellschaftliche Randgruppen und Minderheiten eine unsichere Bleibe finden. So habe der Zusammenbruch der Sowjetunion zu einer Invasion von Prostituierten in die ärmlichen Städtchen im Nordosten geführt. Die süffig geschriebenen "Türkischen Tragikomödien" haben einen bittersüßen Nachgeschmack wie der landeseigene Tee. (sg)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Gelobt sei der Hl. Staat. Türkische Tragikomödien" von Wolfgang Koydl. Picus Verlag, Wien 2001. 132 Seiten. Gebunden, 27,80 Mark. ISBN 3-85452-740-3.
Der Tee ist für die Türken ein "großer Gleichmacher", der omnipräsente Teekoch ein "Sendbote der Zivilisation in den unwirtlichen Wüsten des Alltags". Wolfgang Koydls neues Türkei-Buch konzentriert sich auf das einfache Volk, das abseits sozialer Netze und unberührt von der Rhetorik eines "Heiligen Staates" die kleinen Freuden des Alltags zelebriert. In achtzehn Episoden fängt er die ganz gewöhnlichen Geschäfte, Beschäftigungen und Bequemlichkeiten der Bevölkerung ein - doch immer dann, wenn die Geschichten in proletarische Romantik abzugleiten drohen, werden sie von der harten Realität durchbrochen. Koydl bringt die sprichwörtliche türkische Gastfreundschaft genauso zur Sprache wie den überkommenen Brauch des Brauthandels in Kurdistan. Er hebt die Gefahren durch fundamentalistische Kräfte im Vielvölkerstaat hervor und beschreibt das historisch schwierige und zwiespältige Verhältnis der Republik zu Sultanat und Kalifat. Die Reibungen zwischen der modern-säkularen und der traditionell-islamistischen Türkei illustriert er sehr pragmatisch an der Kulturgeschichte der Kopfbedeckung, denn Atatürk verbot den Fes und führte den westlichen Hut als Exempel zivilisierter Bekleidung ein. Die große Mehrzahl von Koydls Kurzgeschichten dreht sich um die Minderheiten der Türkei, um Kurden, Istanbul-Griechen oder Aramäer. Fernab von den Touristenzentren spürt er mit Vorliebe Grenzgebiete auf, Niemandsländer, in denen gesellschaftliche Randgruppen und Minderheiten eine unsichere Bleibe finden. So habe der Zusammenbruch der Sowjetunion zu einer Invasion von Prostituierten in die ärmlichen Städtchen im Nordosten geführt. Die süffig geschriebenen "Türkischen Tragikomödien" haben einen bittersüßen Nachgeschmack wie der landeseigene Tee. (sg)
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Diese "süffig geschriebenen" Kurzgeschichten haben bei einem mit "sg" kürzelnden Rezensenten einen "bittersüßen Nachgeschmack wie der landeseigene Tee" hinterlassen und das ist als deutliches Kompliment zu werten. In achtzehn Episoden fange Autor Koydl "die ganz gewöhnlichen Beschäftigungen und Bequemlichkeiten der Bevölkerung" ein. Prägnant illustriert fand der Rezensent besonders die "Reibungen zwischen der modern-säkularen und der traditionell-islamischen Türkei. Fernab der Touristenzentren spüre er "mit Vorliebe" Grenzgebiete auf, Niemandsländer, in denen gesellschaftliche Randgruppen und Minderheiten "eine unsichere Bleibe" finden würden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"In 18 eher undiplomatischen Essays und Reportagen untersucht der ehemalige Türkei-Korrespondent Wolfgang Koydl, wer am Bosporus Reformen hemmt: Es ist der 'heilige Staat', so Koydls Befund, eine kalte, unantastbare Macht, geschützt von einer autoritären Verfassung, verteidigt von versteinerten Bürokraten (...) Das von Ankaras Elite mit ihren düsteren Ritualen ein Verzicht auf nationale Souveränität kaum zu erwarten ist, belegt Koydl mit anschaulichen Beispielen." (Der Spiegel)