Bislang unveröffentlichte Dokumente geben profunde Einblicke in das letzte Lebensjahrzehnt Willy Brandts, seinen Einsatz für den Frieden, sein Engagement für das Zusammenwachsen Europas und sein Mitwirken an der Vereinigung Deutschlands. Im Zentrum des letzten Bandes der Berliner Ausgabe stehen die Kontakte Willy Brandts und der SPD zu den osteuropäischen Regierungen in den achtziger Jahren, ganz besonders aber zu Michail Gorbatschow. Band 10 veröffentlicht erstmals Briefe der beiden Spitzenpolitiker und Auszüge aus den Protokollen ihrer Unterredungen. Mehr als 80 Dokumente bieten darüber hinaus detaillierte Einblicke in das Denken und Handeln Brandts, der als Politiker und Staatsmann bis zuletzt die Sicherung des Friedens, die europäische Einigung und die Einheit Deutschland im Blick hatte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.2010Nicht auf dem Abstellgleis verharren!
Der letzte Band der "Berliner Ausgabe" des Willy-Brandt-Nachlasses: 1982 bis 1992
"Und ohne den Frieden ist alles andere nichts" war in den achtziger Jahren ein oft geäußerter Leitspruch Willy Brandts, der mit kleinen Schritten seiner Vision einer europäischen Friedensordnung näherkommen wollte. Seit 1982, als die SPD auf den Bänken der Opposition hatte Platz nehmen müssen, fand der Nato-Doppelbeschluss nicht mehr die Unterstützung des SPD-Parteivorsitzenden. Er focht für das Konzept einer Sicherheitspartnerschaft in Europa und der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit von Nato und Warschauer Pakt, da er die Welt in Gefahr sah, "sich zu Tode zu rüsten". Im Dialog mit den osteuropäischen Staaten und Moskau wollte Brandt eine zweite Phase der Entspannungspolitik einleiten, was freilich eine Illusion war, solange in Moskau mit Andropow und Tschernenko die Moskauer Gerontokratie die politischen Zügel in der Hand hielt. Erst mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows zum neuen Generalsekretär der KPdSU im März 1985 eröffneten sich neue Perspektiven für ein Gespräch über Abrüstung, Sicherheit und Zusammenarbeit.
Im zehnten und letzten Band der Edition "Willy Brandt - Berliner Ausgabe" werden erstmals der Briefwechsel zwischen dem sowjetischen Parteichef und dem sozialdemokratischen Elder Statesman sowie Auszüge aus Protokollen über drei Gespräche, die Gorbatschow und Brandt in Moskau führten, veröffentlicht. Bereits am 27. Mai 1985 - kurz nach seinem Amtsantritt - gewährte Gorbatschow dem SPD-Parteivorsitzenden ein längeres Gespräch als allen anderen westlichen Politikern. Der Generalsekretär der KPdSU brachte seine Wertschätzung für Brandt und die Aktivitäten der SPD zum Ausdruck und stellte unter anderem den Vorschlag eines allgemeinen Moratoriums für die Mittelstreckenwaffen zur Debatte. Brandt begrüßte dies, allerdings ergänzt durch eine einseitige Abrüstungsinitiative der Sowjetunion, worauf sich der kommunistische Parteichef zu diesem Zeitpunkt noch nicht einließ.
Der SPD-Chef nahm den zögernden Gorbatschow schon 1985 beim Wort, versuchte dessen Willen zur Abrüstung zu bestärken und dessen Initiativen Gehör zu verschaffen. So bat er Bundeskanzler Kohl im April 1986 inständig, das Gewicht der Bundesregierung für den von Gorbatschow vorgeschlagenen Atomteststopp "in die Waagschale zu werfen". Die ohnehin nicht guten Beziehungen zwischen dem Generalsekretär der KPdSU und dem deutschen Bundeskanzler sollten allerdings 1986 einen Tiefpunkt erreichen, als Kohl im Interview mit dem amerikanischen Magazin "Newsweek" Gorbatschow mit Goebbels in einem Atemzug nannte. Brandt war um Schadensbegrenzung bemüht und teilte Gorbatschow seinen Wunsch mit, "das Verhältnis zwischen Bonn und Moskau von den Belastungen zu befreien, die Herr Kohl zu verantworten hat".
Als sich Gorbatschow und Brandt im April 1988 wiedersahen, wünschte Ersterer eine engere Zusammenarbeit mit der Sozialistischen Internationale (SI), deren Vorsitzender Brandt war. Er erhoffte sich von der SI nicht nur eine Unterstützung für den Kampf gegen das amerikanische Weltraumrüstungsprogramm SDI, das auch nach der Unterzeichnung des INF-Vertrags vom Dezember 1987, der einen Durchbruch in den Abrüstungsverhandlungen brachte, noch nicht ad acta gelegt worden war. Er brauchte auch Zuspruch und Rat für die von ihm eingeleitete Politik der Perestrojka. Diese sollte - wie Gorbatschow gegenüber Brandt betonte - eine Demokratisierung der Gesellschaft im Rahmen des Sozialismus herbeiführen, aber keineswegs den Sozialismus auf den "Müllhaufen der Geschichte schicken". Brandt befürwortete die Reformpolitik Gorbatschows, sah aber auch die drohenden Nationalitätenkonflikte in der Sowjetunion voraus. Beim Treffen in Moskau am 17. Oktober 1989 erfuhr Brandt aus erster Hand, dass der Kreml-Chef die DDR-Oberen wegen ihrer Reformunwilligkeit gerügt hatte. Brandt sah die Situation nicht weniger dramatisch als Gorbatschow, dem er vor Augen führte: "In der DDR entsteht ein neues Selbstbewusstsein. Die Regierung muss einen Dialog mit der breiten Öffentlichkeit und nicht nur mit den Blockparteien beginnen."
Nach dem Mauerfall fürchtete Gorbatschow, dass der Zug in Richtung deutsche Einheit ohne die Sowjetunion abfahre. Er beklagte sich über den von ihm als gefährlich eingestuften Nationalismus in Deutschland und die Einmischung der Parteien der Bundesrepublik in die inneren Verhältnisse der DDR, deren Fortexistenz er gefährdet sah. Die Antworten Kohls und Brandts, die sich beide im Dezember 1989 immer näher gekommen waren, auf die Befürchtungen des Moskauer Staatschefs waren fast identisch: Die Entscheidung für die deutsche Einheit sei eine Entscheidung des deutschen Volks, der man sich nicht widersetzen könne. Die Neutralisierung eines zukünftigen Gesamtdeutschlands könne nicht der Schlüssel für die zukünftige Stabilität und Sicherheit in Europa sein.
Gorbatschow war schneller zu überzeugen als die eigenen Parteifreunde Brandts, die er mahnte, aus der Zweistaatlichkeit kein "Dogma" zu machen. Den "Enkeln", die damals die deutsche Einheit im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses vollziehen wollten, schrieb er ins Stammbuch: "Nirgend steht geschrieben, dass sie, die Deutschen, auf einem Abstellgleis zu verharren haben, bis irgendwann ein gesamteuropäischer Zug den Bahnhof erreicht hat." Der Streit um den Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, den Brandt befürwortete, Kanzlerkandidat Lafontaine aber ablehnte, belastete im Sommer 1990 das Verhältnis zwischen dem Ehrenvorsitzenden der SPD und dem jungen Hoffnungsträger der SPD. Völlig zerrüttet war es, nachdem Brandt und Kohl in ihrem Bemühen um die deutsche Einheit immer mehr an einem Strang zogen. Brandts Kritik nach der verlorenen Bundestagswahl, dass die SPD ihr "Erstgeburtsrecht in Sachen nationale Einheit durch Selbstbestimmung" verschenkt habe, war an die Adresse Lafontaines gerichtet.
Die 84 Dokumente bezeugen Brandts Bestreben, durch Entschärfung des Ost-West-Konflikts Fortschritte auf dem Weg zur deutschen Einheit zu erzielen, die für ihn "grundsätzliche Bedeutung" hatte, da sie auf dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen gründete.
PETRA WEBER
Willy Brandt: Gemeinsame Sicherheit. Internationale Beziehungen und deutsche Frage 1982-1992. Berliner Ausgabe, Band 10. Bearbeitet von Uwe Mai, Bernd Rother und Wolfgang Schmidt. Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2009. 736 S., 27,60 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der letzte Band der "Berliner Ausgabe" des Willy-Brandt-Nachlasses: 1982 bis 1992
"Und ohne den Frieden ist alles andere nichts" war in den achtziger Jahren ein oft geäußerter Leitspruch Willy Brandts, der mit kleinen Schritten seiner Vision einer europäischen Friedensordnung näherkommen wollte. Seit 1982, als die SPD auf den Bänken der Opposition hatte Platz nehmen müssen, fand der Nato-Doppelbeschluss nicht mehr die Unterstützung des SPD-Parteivorsitzenden. Er focht für das Konzept einer Sicherheitspartnerschaft in Europa und der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit von Nato und Warschauer Pakt, da er die Welt in Gefahr sah, "sich zu Tode zu rüsten". Im Dialog mit den osteuropäischen Staaten und Moskau wollte Brandt eine zweite Phase der Entspannungspolitik einleiten, was freilich eine Illusion war, solange in Moskau mit Andropow und Tschernenko die Moskauer Gerontokratie die politischen Zügel in der Hand hielt. Erst mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows zum neuen Generalsekretär der KPdSU im März 1985 eröffneten sich neue Perspektiven für ein Gespräch über Abrüstung, Sicherheit und Zusammenarbeit.
Im zehnten und letzten Band der Edition "Willy Brandt - Berliner Ausgabe" werden erstmals der Briefwechsel zwischen dem sowjetischen Parteichef und dem sozialdemokratischen Elder Statesman sowie Auszüge aus Protokollen über drei Gespräche, die Gorbatschow und Brandt in Moskau führten, veröffentlicht. Bereits am 27. Mai 1985 - kurz nach seinem Amtsantritt - gewährte Gorbatschow dem SPD-Parteivorsitzenden ein längeres Gespräch als allen anderen westlichen Politikern. Der Generalsekretär der KPdSU brachte seine Wertschätzung für Brandt und die Aktivitäten der SPD zum Ausdruck und stellte unter anderem den Vorschlag eines allgemeinen Moratoriums für die Mittelstreckenwaffen zur Debatte. Brandt begrüßte dies, allerdings ergänzt durch eine einseitige Abrüstungsinitiative der Sowjetunion, worauf sich der kommunistische Parteichef zu diesem Zeitpunkt noch nicht einließ.
Der SPD-Chef nahm den zögernden Gorbatschow schon 1985 beim Wort, versuchte dessen Willen zur Abrüstung zu bestärken und dessen Initiativen Gehör zu verschaffen. So bat er Bundeskanzler Kohl im April 1986 inständig, das Gewicht der Bundesregierung für den von Gorbatschow vorgeschlagenen Atomteststopp "in die Waagschale zu werfen". Die ohnehin nicht guten Beziehungen zwischen dem Generalsekretär der KPdSU und dem deutschen Bundeskanzler sollten allerdings 1986 einen Tiefpunkt erreichen, als Kohl im Interview mit dem amerikanischen Magazin "Newsweek" Gorbatschow mit Goebbels in einem Atemzug nannte. Brandt war um Schadensbegrenzung bemüht und teilte Gorbatschow seinen Wunsch mit, "das Verhältnis zwischen Bonn und Moskau von den Belastungen zu befreien, die Herr Kohl zu verantworten hat".
Als sich Gorbatschow und Brandt im April 1988 wiedersahen, wünschte Ersterer eine engere Zusammenarbeit mit der Sozialistischen Internationale (SI), deren Vorsitzender Brandt war. Er erhoffte sich von der SI nicht nur eine Unterstützung für den Kampf gegen das amerikanische Weltraumrüstungsprogramm SDI, das auch nach der Unterzeichnung des INF-Vertrags vom Dezember 1987, der einen Durchbruch in den Abrüstungsverhandlungen brachte, noch nicht ad acta gelegt worden war. Er brauchte auch Zuspruch und Rat für die von ihm eingeleitete Politik der Perestrojka. Diese sollte - wie Gorbatschow gegenüber Brandt betonte - eine Demokratisierung der Gesellschaft im Rahmen des Sozialismus herbeiführen, aber keineswegs den Sozialismus auf den "Müllhaufen der Geschichte schicken". Brandt befürwortete die Reformpolitik Gorbatschows, sah aber auch die drohenden Nationalitätenkonflikte in der Sowjetunion voraus. Beim Treffen in Moskau am 17. Oktober 1989 erfuhr Brandt aus erster Hand, dass der Kreml-Chef die DDR-Oberen wegen ihrer Reformunwilligkeit gerügt hatte. Brandt sah die Situation nicht weniger dramatisch als Gorbatschow, dem er vor Augen führte: "In der DDR entsteht ein neues Selbstbewusstsein. Die Regierung muss einen Dialog mit der breiten Öffentlichkeit und nicht nur mit den Blockparteien beginnen."
Nach dem Mauerfall fürchtete Gorbatschow, dass der Zug in Richtung deutsche Einheit ohne die Sowjetunion abfahre. Er beklagte sich über den von ihm als gefährlich eingestuften Nationalismus in Deutschland und die Einmischung der Parteien der Bundesrepublik in die inneren Verhältnisse der DDR, deren Fortexistenz er gefährdet sah. Die Antworten Kohls und Brandts, die sich beide im Dezember 1989 immer näher gekommen waren, auf die Befürchtungen des Moskauer Staatschefs waren fast identisch: Die Entscheidung für die deutsche Einheit sei eine Entscheidung des deutschen Volks, der man sich nicht widersetzen könne. Die Neutralisierung eines zukünftigen Gesamtdeutschlands könne nicht der Schlüssel für die zukünftige Stabilität und Sicherheit in Europa sein.
Gorbatschow war schneller zu überzeugen als die eigenen Parteifreunde Brandts, die er mahnte, aus der Zweistaatlichkeit kein "Dogma" zu machen. Den "Enkeln", die damals die deutsche Einheit im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses vollziehen wollten, schrieb er ins Stammbuch: "Nirgend steht geschrieben, dass sie, die Deutschen, auf einem Abstellgleis zu verharren haben, bis irgendwann ein gesamteuropäischer Zug den Bahnhof erreicht hat." Der Streit um den Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, den Brandt befürwortete, Kanzlerkandidat Lafontaine aber ablehnte, belastete im Sommer 1990 das Verhältnis zwischen dem Ehrenvorsitzenden der SPD und dem jungen Hoffnungsträger der SPD. Völlig zerrüttet war es, nachdem Brandt und Kohl in ihrem Bemühen um die deutsche Einheit immer mehr an einem Strang zogen. Brandts Kritik nach der verlorenen Bundestagswahl, dass die SPD ihr "Erstgeburtsrecht in Sachen nationale Einheit durch Selbstbestimmung" verschenkt habe, war an die Adresse Lafontaines gerichtet.
Die 84 Dokumente bezeugen Brandts Bestreben, durch Entschärfung des Ost-West-Konflikts Fortschritte auf dem Weg zur deutschen Einheit zu erzielen, die für ihn "grundsätzliche Bedeutung" hatte, da sie auf dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen gründete.
PETRA WEBER
Willy Brandt: Gemeinsame Sicherheit. Internationale Beziehungen und deutsche Frage 1982-1992. Berliner Ausgabe, Band 10. Bearbeitet von Uwe Mai, Bernd Rother und Wolfgang Schmidt. Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2009. 736 S., 27,60 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Petra Weber stellt den zehnten und letzten Band der "Berliner Ausgabe" aus dem Willy-Brandt-Nachlass vor, der die Korrespondenz zwischen Brandt und Michael Gorbatschow sowie drei Gesprächsprotokolle von Treffen zwischen Gorbatschow und Brandt von 1985, 1988 und 1989 enthält. Die Historikerin referiert in ihrer Kritik detailliert aus den abgedruckten 84 Dokumenten, die darüber Aufschluss geben wie sich Brandt gegen den Nato-Doppelbeschluss wandte, bei Gorbatschow um Abrüstung warb und - auch gegen Widerstände in der eigenen Partei - um die Deutsche Einheit bemühte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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