Erinnerungskultur und Geschichtspolitik der drei Nachfolgestaaten des »Großdeutschen Reichs« und ihre Verflechtungen.Nach dem Ende der NS-Diktatur entstanden aus der Konkursmasse des »Dritten Reichs« drei Staaten, die sich sehr unterschiedlich zum gemeinsamen Erbe der NS-Vergangenheit positionierten: Österreich erklärte sich zum ersten Opfer des Nationalsozialismus, während die DDR sich auf den antifaschistischen Widerstandskampf berief. Die Bundesrepublik wiederum übernahm zumindest offiziell die Verantwortung. Katrin Hammerstein vergleicht erstmals umfassend die drei Nachfolgestaaten des »Großdeutschen Reichs« in ihrem Umgang mit der NS-Geschichte. Dabei geht ihre Untersuchung durch eine transnationale, auf Wechselwirkungen gerichtete Perspektive über eine rein vergleichende Bewältigungsforschung hinaus. Die Vergangenheitsaufarbeitungen von Bundesrepublik, DDR und Österreich werden direkt in Beziehung zueinander gesetzt. Im Zentrum stehen die öffentlichen Geschichtsbilder vom Nationalsozialismus und deren sich vor allem seit den 1980er Jahren vollziehende Transformation und allmähliche Angleichung aneinander bzw. an das westdeutsche Narrativ. Gezeigt wird: Die gemeinsame Vergangenheit des Nationalsozialismus wurde in Teilen auch zu einer gemeinsamen und transnational verflochtenen Erinnerung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2018Geboren aus dem Geist des Dagegen
Erinnerungspolitik in den beiden Teilen Deutschlands und Österreichs
Zuweilen sind Dinge so selbstverständlich geworden, dass wir zu fragen vergessen haben, wann und warum sie geworden sind. Ein Phänomen, das heutzutage eine natürliche Prägekraft gewonnen hat, ist die in Jahrestagen verkörperte Allgegenwart der Erinnerung. Allein in diesem Jahr ist viel Gedenkarbeit zu leisten: Friedensschluss 1648, Revolution 1848, Kriegsende 1918, "1968". Die Reihe ließe sich beliebig verlängern.
Während einige dieser Ereignisse ganz erwartbar eine große Aufmerksamkeit finden, sind die Märztage 1848 mehr vergessen als diskutiert worden. Weshalb ist das so? Die Frage stellt sich umso dringender, wenn man die Beobachtung ergänzt, dass 1958 oder 1978 ganz anders mit diesen Ereignissen umgegangen wurde als heute. Offenbar kann die Vergangenheit eine ganz unterschiedliche Gegenwartspräsenz entfalten. Das zu untersuchen und damit zum Verstehen vergangener und gegenwärtiger Zeiten beizutragen ist eine zentrale Aufgabe der Geschichtswissenschaften.
Dazu hat Katrin Hammerstein jetzt eine Dissertation vorgelegt, die sich mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus befasst. Den zahlreichen bereits vorliegenden Studien will sie Neues hinzufügen, indem sie die staatliche Geschichtspolitik in Österreich, der Bundesrepublik und der DDR zugleich in den Blick nimmt. Ihre Befunde zeigen einmal mehr, dass die Gleichsetzung der deutschen Geschichte nach 1945 nur mit der bundesrepublikanischen eine verkürzte Perspektive ist. Vielmehr macht die Autorin zahlreiche Ähnlichkeiten und wechselseitige Bezüge in jenen Ländern aus, die einst zum Kern des "Großdeutschen Reiches" gehört hatten.
Wenig überraschend ist, dass alle sich vom Nationalsozialismus distanzierten. Es verblüfft dagegen zu lesen, dass der österreichische Bundeskanzler Vranitzky 1986 eine Rede hielt, die streckenweise das Plagiat eines Zeitungsartikels aus der Feder Habermas' war. Es gab sogar Orte der Denkmalskonkurrenz. Im österreichischen Mauthausen hatte die DDR bereits 1967 ein Denkmal errichtet. Als die Leerstelle westdeutschen Gedenkens öffentlich wurde, setzte die Bundesrepublik 1983 ihr eigenes Denkmal. Österreich wiederum nahm das zum Anlass, um zum 45. Jahrestag des Einmarsches der Wehrmacht Wiedergutmachung zu fordern.
Diese verschiedenen Reaktionen waren Folge der erheblich voneinander abweichenden erinnerungspolitischen Großwetterlage in den drei Staaten. Die bundesdeutsche und österreichische Demokratie ermöglichte einen Debattenpluralismus, wenn auch hier nicht alles sagbar war und abweichende Äußerungen heftig bekämpft wurden. In der SED-Diktatur hingegen konnte sich eine kritische Öffentlichkeit bis 1989 nicht durchsetzen.
Alle drei Staaten waren aus dem Geist des Dagegen gegründet worden, verkörperten in ihrer Abgrenzung vom Nationalsozialismus allerdings ganz unterschiedliche Leitideen. Wien sah sich als erstes Opfer des Reiches, eine Position, die unter Rückgriff auf den entsprechenden Wortlaut der Moskauer Deklaration der Alliierten von 1943 beglaubigt werden konnte. Daher lehnte es zunächst eine Verantwortung für die NS-Verbrechen ab, brachte aber das Kunststück fertig, den zurückkehrenden Kriegsgefangenen Entschädigungszahlungen zu leisten. Die DDR verstand sich ebenfalls als befreiter Staat, der mit einer antifaschistischen Grundhaltung die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen hatte. Der Fokus der Erinnerung lag dementsprechend auf dem kommunistischen Widerstand. In der Bundesrepublik hatte sich dagegen ein antitotalitaristischer Grundkonsens ausgebildet, mit dem sowohl Nationalsozialismus als auch Kommunismus auf Distanz gehalten wurden. Zugleich beanspruchte Bonn die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches, weshalb es die politische Verantwortung für die Verbrechen vor 1945 in Teilen übernahm.
Diese unterschiedlichen Formen der Distanzierung hatten weitreichende Folgen für den Umgang mit der Vergangenheit. Während der Prozess gegen den österreichischen Staatsbürger Adolf Eichmann 1961 im Alpenstaat kaum öffentlich verfolgt wurde, schlug er in Bonn hohe Wellen. Bundespräsident Lübke bemühte sich, die Unterschiede zwischen den Nationalsozialisten damals und den Deutschen heute zu unterstreichen. Für die DDR hingegen zeigte der Prozess einmal mehr, dass die Bundesrepublik ein "Paradies für Judenmörder und Kriegsverbrecher" war.
In der Zeit von Ende der siebziger bis Ende der achtziger Jahre transformierte sich die Erinnerung, was im Buch an der Ausstrahlung der Serie "Holocaust" oder dem Gedenken an die Pogrome von 1938 festgemacht wird. In Österreich stellte die Debatte um die Verstrickung des Bundespräsidenten Kurt Waldheim in NS-Verbrechen die liebgewonnene Vergangenheitsdeutung in Frage. Insgesamt wird überzeugend herausgearbeitet, wie sehr sich die Geschichtspolitik zunehmend auf den Holocaust fokussierte, wobei es Ende der achtziger Jahre sogar zur transnationalen Zusammenarbeit zwischen den Vergleichsstaaten kam. Gleichwohl fällt gerade in diesem Abschnitt eine analytische Leerstelle ins Auge. Die geschilderten Ereignisse werden von der Autorin häufig zur Ursache des erinnerungspolitischen Wandels gemacht. Die Formulierung, dass "Holocaust" für eine Debatte über den Judenmord "sorgte", ist kein Einzelfall. Medien werden so zu Akteuren erklärt, wobei sie doch eher Oberflächenphänomene der Erinnerungskultur waren. Wäre die Serie 1969 ausgestrahlt worden, wäre ihr Effekt ein ganz anderer gewesen. Eine Erklärung dafür - zu denken wäre an generationelle und kulturelle Verschiebungen - bietet das Buch leider nicht.
Seit den neunziger Jahren diversifizierte sich der Opferbegriff erheblich. Die Debatte über Deserteure und Zwangsarbeiter war eng mit der Frage der judikativen und monetären "Wiedergutmachung" verknüpft. Zugleich wurde auch auf die deutschen Opfer - im Bombenkrieg, bei Flucht und Vertreibung - verwiesen. Insgesamt zeigt sich, dass die Bundesrepublik in der Erinnerungskultur eine hegemoniale Stellung innehatte, an deren "DIN-Norm" sich Österreich und die DDR maßen. Deutlich wird auch, wie sehr die Vergangenheitspolitik in den drei Staaten der Legitimation, Stabilisierung und Integration diente.
Diese Entwicklung macht deutlich, dass die starke Präsenz der NS-Vergangenheit in den Formen, wie wir sie heute sehen, ein Kind der achtziger Jahre ist. Sie lässt sich weder als eine Selbstverständlichkeit noch als reine Fortschrittsgeschichte lesen. Mehr ist hier nicht gleich besser. Die Eventisierung und Ritualisierung des Gedenkens hat Kritikern in die Hände gespielt, die der "Vergangenheitsbewältigung" eine lähmende Wirkung für die Zukunft attestieren. Das zeigt, dass der Wert der Erinnerung immer wieder reflektiert werden muss. Bücher wie dieses helfen dabei, indem sie zeigen, dass Erinnerung kein Naturereignis ist, sondern an ihren historischen Kontext gebunden.
CHRISTOPH NÜBEL
Katrin Hammerstein: Gemeinsame Vergangenheit - getrennte Erinnerung?
Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 591 S., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erinnerungspolitik in den beiden Teilen Deutschlands und Österreichs
Zuweilen sind Dinge so selbstverständlich geworden, dass wir zu fragen vergessen haben, wann und warum sie geworden sind. Ein Phänomen, das heutzutage eine natürliche Prägekraft gewonnen hat, ist die in Jahrestagen verkörperte Allgegenwart der Erinnerung. Allein in diesem Jahr ist viel Gedenkarbeit zu leisten: Friedensschluss 1648, Revolution 1848, Kriegsende 1918, "1968". Die Reihe ließe sich beliebig verlängern.
Während einige dieser Ereignisse ganz erwartbar eine große Aufmerksamkeit finden, sind die Märztage 1848 mehr vergessen als diskutiert worden. Weshalb ist das so? Die Frage stellt sich umso dringender, wenn man die Beobachtung ergänzt, dass 1958 oder 1978 ganz anders mit diesen Ereignissen umgegangen wurde als heute. Offenbar kann die Vergangenheit eine ganz unterschiedliche Gegenwartspräsenz entfalten. Das zu untersuchen und damit zum Verstehen vergangener und gegenwärtiger Zeiten beizutragen ist eine zentrale Aufgabe der Geschichtswissenschaften.
Dazu hat Katrin Hammerstein jetzt eine Dissertation vorgelegt, die sich mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus befasst. Den zahlreichen bereits vorliegenden Studien will sie Neues hinzufügen, indem sie die staatliche Geschichtspolitik in Österreich, der Bundesrepublik und der DDR zugleich in den Blick nimmt. Ihre Befunde zeigen einmal mehr, dass die Gleichsetzung der deutschen Geschichte nach 1945 nur mit der bundesrepublikanischen eine verkürzte Perspektive ist. Vielmehr macht die Autorin zahlreiche Ähnlichkeiten und wechselseitige Bezüge in jenen Ländern aus, die einst zum Kern des "Großdeutschen Reiches" gehört hatten.
Wenig überraschend ist, dass alle sich vom Nationalsozialismus distanzierten. Es verblüfft dagegen zu lesen, dass der österreichische Bundeskanzler Vranitzky 1986 eine Rede hielt, die streckenweise das Plagiat eines Zeitungsartikels aus der Feder Habermas' war. Es gab sogar Orte der Denkmalskonkurrenz. Im österreichischen Mauthausen hatte die DDR bereits 1967 ein Denkmal errichtet. Als die Leerstelle westdeutschen Gedenkens öffentlich wurde, setzte die Bundesrepublik 1983 ihr eigenes Denkmal. Österreich wiederum nahm das zum Anlass, um zum 45. Jahrestag des Einmarsches der Wehrmacht Wiedergutmachung zu fordern.
Diese verschiedenen Reaktionen waren Folge der erheblich voneinander abweichenden erinnerungspolitischen Großwetterlage in den drei Staaten. Die bundesdeutsche und österreichische Demokratie ermöglichte einen Debattenpluralismus, wenn auch hier nicht alles sagbar war und abweichende Äußerungen heftig bekämpft wurden. In der SED-Diktatur hingegen konnte sich eine kritische Öffentlichkeit bis 1989 nicht durchsetzen.
Alle drei Staaten waren aus dem Geist des Dagegen gegründet worden, verkörperten in ihrer Abgrenzung vom Nationalsozialismus allerdings ganz unterschiedliche Leitideen. Wien sah sich als erstes Opfer des Reiches, eine Position, die unter Rückgriff auf den entsprechenden Wortlaut der Moskauer Deklaration der Alliierten von 1943 beglaubigt werden konnte. Daher lehnte es zunächst eine Verantwortung für die NS-Verbrechen ab, brachte aber das Kunststück fertig, den zurückkehrenden Kriegsgefangenen Entschädigungszahlungen zu leisten. Die DDR verstand sich ebenfalls als befreiter Staat, der mit einer antifaschistischen Grundhaltung die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen hatte. Der Fokus der Erinnerung lag dementsprechend auf dem kommunistischen Widerstand. In der Bundesrepublik hatte sich dagegen ein antitotalitaristischer Grundkonsens ausgebildet, mit dem sowohl Nationalsozialismus als auch Kommunismus auf Distanz gehalten wurden. Zugleich beanspruchte Bonn die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches, weshalb es die politische Verantwortung für die Verbrechen vor 1945 in Teilen übernahm.
Diese unterschiedlichen Formen der Distanzierung hatten weitreichende Folgen für den Umgang mit der Vergangenheit. Während der Prozess gegen den österreichischen Staatsbürger Adolf Eichmann 1961 im Alpenstaat kaum öffentlich verfolgt wurde, schlug er in Bonn hohe Wellen. Bundespräsident Lübke bemühte sich, die Unterschiede zwischen den Nationalsozialisten damals und den Deutschen heute zu unterstreichen. Für die DDR hingegen zeigte der Prozess einmal mehr, dass die Bundesrepublik ein "Paradies für Judenmörder und Kriegsverbrecher" war.
In der Zeit von Ende der siebziger bis Ende der achtziger Jahre transformierte sich die Erinnerung, was im Buch an der Ausstrahlung der Serie "Holocaust" oder dem Gedenken an die Pogrome von 1938 festgemacht wird. In Österreich stellte die Debatte um die Verstrickung des Bundespräsidenten Kurt Waldheim in NS-Verbrechen die liebgewonnene Vergangenheitsdeutung in Frage. Insgesamt wird überzeugend herausgearbeitet, wie sehr sich die Geschichtspolitik zunehmend auf den Holocaust fokussierte, wobei es Ende der achtziger Jahre sogar zur transnationalen Zusammenarbeit zwischen den Vergleichsstaaten kam. Gleichwohl fällt gerade in diesem Abschnitt eine analytische Leerstelle ins Auge. Die geschilderten Ereignisse werden von der Autorin häufig zur Ursache des erinnerungspolitischen Wandels gemacht. Die Formulierung, dass "Holocaust" für eine Debatte über den Judenmord "sorgte", ist kein Einzelfall. Medien werden so zu Akteuren erklärt, wobei sie doch eher Oberflächenphänomene der Erinnerungskultur waren. Wäre die Serie 1969 ausgestrahlt worden, wäre ihr Effekt ein ganz anderer gewesen. Eine Erklärung dafür - zu denken wäre an generationelle und kulturelle Verschiebungen - bietet das Buch leider nicht.
Seit den neunziger Jahren diversifizierte sich der Opferbegriff erheblich. Die Debatte über Deserteure und Zwangsarbeiter war eng mit der Frage der judikativen und monetären "Wiedergutmachung" verknüpft. Zugleich wurde auch auf die deutschen Opfer - im Bombenkrieg, bei Flucht und Vertreibung - verwiesen. Insgesamt zeigt sich, dass die Bundesrepublik in der Erinnerungskultur eine hegemoniale Stellung innehatte, an deren "DIN-Norm" sich Österreich und die DDR maßen. Deutlich wird auch, wie sehr die Vergangenheitspolitik in den drei Staaten der Legitimation, Stabilisierung und Integration diente.
Diese Entwicklung macht deutlich, dass die starke Präsenz der NS-Vergangenheit in den Formen, wie wir sie heute sehen, ein Kind der achtziger Jahre ist. Sie lässt sich weder als eine Selbstverständlichkeit noch als reine Fortschrittsgeschichte lesen. Mehr ist hier nicht gleich besser. Die Eventisierung und Ritualisierung des Gedenkens hat Kritikern in die Hände gespielt, die der "Vergangenheitsbewältigung" eine lähmende Wirkung für die Zukunft attestieren. Das zeigt, dass der Wert der Erinnerung immer wieder reflektiert werden muss. Bücher wie dieses helfen dabei, indem sie zeigen, dass Erinnerung kein Naturereignis ist, sondern an ihren historischen Kontext gebunden.
CHRISTOPH NÜBEL
Katrin Hammerstein: Gemeinsame Vergangenheit - getrennte Erinnerung?
Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 591 S., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»ein gewichtiger Beitrag zur »Verflochtenheit« (deutsch-)deutscher und österreichischer Geschichte« (Maximilian Graf, Einsicht, November 2018) »Ein wahres Kompendium« (Jens Flemming, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 02/2019)