Skeptische Anfragen an einen boomenden neuen Forschungsansatz Naturwissenschaftler beginnen historisch zu forschen: Mit ihren eigenen Methoden versuchen sie, neue Daten zur Geschichte zu gewinnen. Eine besonders große Rolle spielt dabei die Analyse alter DNA. Die Entschlüsselung jahrhundertealter Genome, so behaupten Fachvertreter, könne zentrale Fragen der Menschheitsgeschichte letztgültig beantworten. Die Ergebnisse werden in Teilen der Naturwissenschaften, aber auch in den Medien gefeiert: Bereits erzielte und zukünftige Erkenntnisgewinne werden als »unermesslich« gepriesen, unsere Geschichte müsse neu geschrieben werden. In diesem Buch gehen zwei Historiker der Frage nach, welche historisch relevanten Fragen die noch junge Wissenschaft der »Archäogenetik« bisher tatsächlich beantworten konnte und inwiefern sie zu einer methodisch reflektierten Geschichtsforschung beizutragen vermag. Dafür werden diejenigen Gebiete näher betrachtet, auf denen die Archäogenetik bisher ihre spektakulärsten Ergebnisse erzielt zu haben glaubt: Migrationen und Epidemien. Die Analysen führen auf grundsätzliche Fragen: In welchem Verhältnis stehen Geistes- und Naturwissenschaften zueinander? Wie kann eine produktive Zusammenarbeit bei der historischen Forschung gelingen?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2021Schreiben Gene denn Geschichte?
Zwei Historiker nehmen auf lehrreiche Weise Ansprüche der Archäogenetik ins Visier
Zwischen 1348 und 1350 wurden auf dem Londoner Friedhof East Smithfield Menschen bestattet, die an der Pest gestorben waren. Im Jahr 2011 war der Biochemiker Johannes Krause, damals Juniorprofessor an der Universität Tübingen, maßgeblich an zwei Forschungsarbeiten beteiligt, in denen es gelang, mittels DNA-Fragmenten aus den Zähnen der Londoner Pesttoten das Erbgut des Erregers zu rekonstruieren und zu zeigen, dass der "Schwarze Tod" des Spätmittelalters sehr nahe mit dem heute als Erreger der Lungen- und Beulenpest bekannten Bakterium verwandt ist. Die Ergebnisse erregten damals großes Aufsehen, in Fachkreisen aber war Krause bereits ein Star. Drei Jahre später wurde er, erst 34 Jahre alt, zum Direktor am neugegründeten "Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte" in Jena berufen.
Es ist schon der (deutsche) Name dieses Instituts, der Mischa Meier und Steffen Patzold erzürnt - auch wenn die beiden Tübinger Professoren ihre Emotionen nicht zuletzt durch glänzenden Stil wohl zu zügeln wissen. Die beiden fühlen sich, so formulieren sie es dann schon, herausgefordert. Patzold ist Fachmann für die Geschichte des Mittelalters und Meier Althistoriker mit Schwerpunkt auf der Spätantike, einer Epoche, in der Europa ebenfalls von Epidemien - vor allem der 541 ausgebrochenen Justinianischen Pest - heimgesucht wurde. Auch deren Erreger haben Genreste in ihren Opfern hinterlassen, aus denen Archäogenetiker durch naturwissenschaftliche Analysen Antworten auf historische Fragen zu finden hofften.
Patzold und Meier erklären nun anhand ausgewählter, aber prominenter Beispiele aus dem Bereich ihrer Expertise, inwieweit die so gestellte Aufgabe schlechterdings nicht erfüllt wurde und so auch gar nicht erfüllbar ist - aller medialen Aufmerksamkeit für die Archäogenetik zum Trotz. Besonders ungnädig urteilen sie über das populärwissenschaftliche Buch "Die Reise unserer Gene", das Johannes Krause 2019 zusammen mit dem Journalisten Thomas Trappe veröffentlicht hat. Daraus zitieren sie Sätze, laut denen die Genetik "zu einem wesentlichen Element der Geschichtsschreibung" werde und "der bisherige Erkenntnisgewinn schon unermesslich" sei, um dann auszuführen, dass davon gar keine Rede sein kann, sofern damit geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse über die Antike oder das Mittelalter gemeint sein sollten. Aber nicht nur dem populärwissenschaftlichen Erzeugnis sprechen Patzold und Meier ab, neues historisches Wissen anzubieten, sondern auch den in hochrangigen Journalen publizierten Fachveröffentlichungen der Archäogenetiker wie zum Beispiel den beiden zum Pesterreger-Genom aus East Smithfield. "Aus ihnen", urteilen die beiden Autoren, "erfährt der Leser über die Geschichte der Großen Pest des vierzehnten Jahrhunderts so gut wie nichts."
Wohlgemerkt: über die Geschichte. Denn dass die Erkenntnisse Krauses und seiner Mitarbeiter hochinteressant sind, dass es sich um herausragende wissenschaftliche Leistungen handelt und die neue Technologie bislang unzugängliche und wichtige Daten liefert, die auch Historikern nutzen könnten - das alles stellen die beiden Historiker keineswegs in Abrede. Nur mit Geschichtswissenschaft selbst hätten Krauses Resultate eben nichts zu tun. Genauso wenig wie Befunde anderer Archäogenetiker, etwa über alte DNA aus der Zeit der Völkerwanderung, die Meier und Patzold in ihrem Buch auf ihre historiographische Aussagekraft prüfen.
Daten und Befunde verlangen nach Interpretationen
So stellen sie, bevor sie zu dieser Prüfung schreiten, zwei Kapitel voran, in denen sie erklären, was ihre Zunft im Allgemeinen und Patzold und Meier im Besonderen unter Geschichte verstehen und worin der Unterschied zwischen einem geschichts- und einem naturwissenschaftlichen Herangehen an die Vergangenheit wesentlich besteht. Dabei ist ihr Geschichtsbegriff durchaus dazu angetan, naturwissenschaftlich sozialisierte Leser erst einmal zu verstören. Aber gerade für sie lohnt diese Lektüre ungemein. Denn hier wird glasklar und ohne den bei Naturwissenschaftlern nicht zu Unrecht als verschwurbelt verpönten Jargon mancher kulturtheoretischer Texte erklärt, worum es den historischen Geisteswissenschaften zu tun ist.
"Geschichte ist nicht dasselbe wie Vergangenheit", schreiben Meier und Patzold. Ihr Gegenstand sei mitnichten etwas, das vor seiner Erforschung durch den Historiker und unabhängig von dessen - sich aus seiner eigenen Zeit ergebenden - Fragen vorhanden und lediglich freizulegen sei. Wann Caesar ermordet wurde, ist gerade keine historische Frage, sondern warum es geschah, ist eine: was ihn in die Situation brachte und was seine Mörder sich davon versprachen - genauer: was wir, die wir so fragen, darüber wissen wollen. "In der Vergangenheit ist unfassbar viel geschehen", schreiben die Autoren. Was den auf die Vergangenheit blickenden Menschen daran interessiert, aus welchen Gründen auch immer, das kann immer nur ein winziger, nach Maßgabe dieses Interesses zusammengestellter Bruchteil davon sein. Und nur das ist Geschichte.
Diese Art geisteswissenschaftlicher Forschung, davon können die Autoren auch einen Leser mit naturwissenschaftlichem Hintergrund unschwer überzeugen, benötigt und praktiziert durchaus methodische Strenge: Die Aussagen müssen nachvollziehbar sein. Und sie arbeitet empirisch, anhand von Daten und Befunden - seien das nun Texte, archäologische Funde oder eben Gensequenzen aus alten Gräbern. Nur ist das alles eben interpretationsbedürftig. "In der Tat", schreiben Patzold und Meier: ",Gene lügen nicht.' Das aber liegt schlicht daran, dass sie gar nicht selbst sprechen, sondern durch Interpretation zum Sprechen gebracht werden müssen."
Hilfswissenschaften für unsere Fragen an die Vergangenheit
Im Hinblick auf schon länger etablierte naturwissenschaftliche Verfahren in der Altertumsforschung, möchte man da ergänzen, ist dies auch schon gang und gäbe und führt heute nur noch in Ausnahmefällen zu Konflikten, etwa wenn Radiokarbondatierungen einer bis dato bewährten Chronologie auf der Basis von Keramikfunden widersprechen und geklärt werden muss, in wessen Disziplin der Fehler liegt. Meiers und Patzolds Darstellung legt nun nahe, dass die blutjunge Archäogenetik vor lauter Begeisterung über ihren immensen Beitrag an neuen Daten aus der Vergangenheit sich vielleicht noch zu wenig daran gewöhnt hat, dass auch sie nur Befunde zur Verfügung stellen kann. Natürlich müssen dann auch Historiker bereit sein, gegebenenfalls liebgewonnene Interpretationen, sagen wir antiker Texte, aufzugeben, wenn die alten Gene konsistent etwas anderes nahelegen. Doch moderne Historiker wie etwa der Völkerwanderungs-Experte Patrick Geary aus Princeton wissen, dass auch alte Texte - etwa über den Zug der Langobarden nach Italien im sechsten Jahrhundert - nicht alle Fragen beantworten, die sich heute stellen lassen. In Gearys Langobarden-Projekt, das Historiker, Archäologen und Archäogenetiker - darunter Johannes Krause - zusammenbringt, sehen Meier und Patzold denn auch ein Musterbeispiel dafür, wie es gelingen kann, historische Fragen mittels alter Gene einer Antwort näher zu bringen.
Die beiden Historiker sehen die Rolle der Archäogenetik in der Geschichtswissenschaft daher analog zu der von Disziplinen wie Papyrologie, Paläographie oder Numismatik - man könnte die Liste auch um naturwissenschaftliche Fächer wie Archäometrie oder Archäobotanik erweitern. Etwas unglücklich ist es vielleicht, solche Fächer als "Hilfswissenschaften" anzusprechen, auch wenn das bei einigen länger etablierten von ihnen eine eingeführte Bezeichnung ist. So würde die große Disziplin der Archäologie das "Hilfs-" wohl von sich weisen, auch wenn sie aus der Perspektive der Historiker eben Befunde liefert und eine ausgegrabene Bestattung historiographisch so wertvoll und so interpretationsbedürftig ist wie ein edierter Papyrus oder eben ein sequenziertes Genom.
Kleine Schroffheiten leisten sich Meier und Patzold allerdings auch anderswo. So klingt die Klage über die große mediale Aufmerksamkeit vieler Resultate der Archäogenetik doch etwas schal. Auch den Hinweis auf deren vergleichsweise hohen Finanzbedarf hätten sich die Autoren besser verkniffen - rechnen sie doch die Kosten eines Genomprojektes sogar in die Zahl geschichtswissenschaftlicher Doktorarbeiten um, die man stattdessen damit hätte finanzieren können. Mit solcher mangelhaften Unterdrückung von Neidgefühlen ist der Sache, an der Patzold und Meier hier liegt, wenig geholfen. Zumal die beiden ihrem Ziel - die Archäogenetik möge sich doch bitte damit anfreunden, zur Geschichtswissenschaft beizutragen wie die anderen genannten Fächer auch, anstatt sich mit ihr zu verwechseln - vielleicht doch näher sind, als sie glauben. So nennt sich das Max-Planck-Institut, an dem Johannes Krause tätig ist, auf Englisch "Institute for the Science of Human History". Warum das gerade nicht bedeuten kann, dass Menschheitsgeschichte nun auf einmal eine "Science" werden soll, ist in diesem kleinen Buch in der Tat überzeugend dargelegt.
ULF VON RAUCHHAUPT
Mischa Meier und Steffen Patzold: "Gene und Geschichte". Was die Archäogenetik zur Geschichtsforschung beitragen kann.
Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart 2021. 168 S., br., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei Historiker nehmen auf lehrreiche Weise Ansprüche der Archäogenetik ins Visier
Zwischen 1348 und 1350 wurden auf dem Londoner Friedhof East Smithfield Menschen bestattet, die an der Pest gestorben waren. Im Jahr 2011 war der Biochemiker Johannes Krause, damals Juniorprofessor an der Universität Tübingen, maßgeblich an zwei Forschungsarbeiten beteiligt, in denen es gelang, mittels DNA-Fragmenten aus den Zähnen der Londoner Pesttoten das Erbgut des Erregers zu rekonstruieren und zu zeigen, dass der "Schwarze Tod" des Spätmittelalters sehr nahe mit dem heute als Erreger der Lungen- und Beulenpest bekannten Bakterium verwandt ist. Die Ergebnisse erregten damals großes Aufsehen, in Fachkreisen aber war Krause bereits ein Star. Drei Jahre später wurde er, erst 34 Jahre alt, zum Direktor am neugegründeten "Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte" in Jena berufen.
Es ist schon der (deutsche) Name dieses Instituts, der Mischa Meier und Steffen Patzold erzürnt - auch wenn die beiden Tübinger Professoren ihre Emotionen nicht zuletzt durch glänzenden Stil wohl zu zügeln wissen. Die beiden fühlen sich, so formulieren sie es dann schon, herausgefordert. Patzold ist Fachmann für die Geschichte des Mittelalters und Meier Althistoriker mit Schwerpunkt auf der Spätantike, einer Epoche, in der Europa ebenfalls von Epidemien - vor allem der 541 ausgebrochenen Justinianischen Pest - heimgesucht wurde. Auch deren Erreger haben Genreste in ihren Opfern hinterlassen, aus denen Archäogenetiker durch naturwissenschaftliche Analysen Antworten auf historische Fragen zu finden hofften.
Patzold und Meier erklären nun anhand ausgewählter, aber prominenter Beispiele aus dem Bereich ihrer Expertise, inwieweit die so gestellte Aufgabe schlechterdings nicht erfüllt wurde und so auch gar nicht erfüllbar ist - aller medialen Aufmerksamkeit für die Archäogenetik zum Trotz. Besonders ungnädig urteilen sie über das populärwissenschaftliche Buch "Die Reise unserer Gene", das Johannes Krause 2019 zusammen mit dem Journalisten Thomas Trappe veröffentlicht hat. Daraus zitieren sie Sätze, laut denen die Genetik "zu einem wesentlichen Element der Geschichtsschreibung" werde und "der bisherige Erkenntnisgewinn schon unermesslich" sei, um dann auszuführen, dass davon gar keine Rede sein kann, sofern damit geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse über die Antike oder das Mittelalter gemeint sein sollten. Aber nicht nur dem populärwissenschaftlichen Erzeugnis sprechen Patzold und Meier ab, neues historisches Wissen anzubieten, sondern auch den in hochrangigen Journalen publizierten Fachveröffentlichungen der Archäogenetiker wie zum Beispiel den beiden zum Pesterreger-Genom aus East Smithfield. "Aus ihnen", urteilen die beiden Autoren, "erfährt der Leser über die Geschichte der Großen Pest des vierzehnten Jahrhunderts so gut wie nichts."
Wohlgemerkt: über die Geschichte. Denn dass die Erkenntnisse Krauses und seiner Mitarbeiter hochinteressant sind, dass es sich um herausragende wissenschaftliche Leistungen handelt und die neue Technologie bislang unzugängliche und wichtige Daten liefert, die auch Historikern nutzen könnten - das alles stellen die beiden Historiker keineswegs in Abrede. Nur mit Geschichtswissenschaft selbst hätten Krauses Resultate eben nichts zu tun. Genauso wenig wie Befunde anderer Archäogenetiker, etwa über alte DNA aus der Zeit der Völkerwanderung, die Meier und Patzold in ihrem Buch auf ihre historiographische Aussagekraft prüfen.
Daten und Befunde verlangen nach Interpretationen
So stellen sie, bevor sie zu dieser Prüfung schreiten, zwei Kapitel voran, in denen sie erklären, was ihre Zunft im Allgemeinen und Patzold und Meier im Besonderen unter Geschichte verstehen und worin der Unterschied zwischen einem geschichts- und einem naturwissenschaftlichen Herangehen an die Vergangenheit wesentlich besteht. Dabei ist ihr Geschichtsbegriff durchaus dazu angetan, naturwissenschaftlich sozialisierte Leser erst einmal zu verstören. Aber gerade für sie lohnt diese Lektüre ungemein. Denn hier wird glasklar und ohne den bei Naturwissenschaftlern nicht zu Unrecht als verschwurbelt verpönten Jargon mancher kulturtheoretischer Texte erklärt, worum es den historischen Geisteswissenschaften zu tun ist.
"Geschichte ist nicht dasselbe wie Vergangenheit", schreiben Meier und Patzold. Ihr Gegenstand sei mitnichten etwas, das vor seiner Erforschung durch den Historiker und unabhängig von dessen - sich aus seiner eigenen Zeit ergebenden - Fragen vorhanden und lediglich freizulegen sei. Wann Caesar ermordet wurde, ist gerade keine historische Frage, sondern warum es geschah, ist eine: was ihn in die Situation brachte und was seine Mörder sich davon versprachen - genauer: was wir, die wir so fragen, darüber wissen wollen. "In der Vergangenheit ist unfassbar viel geschehen", schreiben die Autoren. Was den auf die Vergangenheit blickenden Menschen daran interessiert, aus welchen Gründen auch immer, das kann immer nur ein winziger, nach Maßgabe dieses Interesses zusammengestellter Bruchteil davon sein. Und nur das ist Geschichte.
Diese Art geisteswissenschaftlicher Forschung, davon können die Autoren auch einen Leser mit naturwissenschaftlichem Hintergrund unschwer überzeugen, benötigt und praktiziert durchaus methodische Strenge: Die Aussagen müssen nachvollziehbar sein. Und sie arbeitet empirisch, anhand von Daten und Befunden - seien das nun Texte, archäologische Funde oder eben Gensequenzen aus alten Gräbern. Nur ist das alles eben interpretationsbedürftig. "In der Tat", schreiben Patzold und Meier: ",Gene lügen nicht.' Das aber liegt schlicht daran, dass sie gar nicht selbst sprechen, sondern durch Interpretation zum Sprechen gebracht werden müssen."
Hilfswissenschaften für unsere Fragen an die Vergangenheit
Im Hinblick auf schon länger etablierte naturwissenschaftliche Verfahren in der Altertumsforschung, möchte man da ergänzen, ist dies auch schon gang und gäbe und führt heute nur noch in Ausnahmefällen zu Konflikten, etwa wenn Radiokarbondatierungen einer bis dato bewährten Chronologie auf der Basis von Keramikfunden widersprechen und geklärt werden muss, in wessen Disziplin der Fehler liegt. Meiers und Patzolds Darstellung legt nun nahe, dass die blutjunge Archäogenetik vor lauter Begeisterung über ihren immensen Beitrag an neuen Daten aus der Vergangenheit sich vielleicht noch zu wenig daran gewöhnt hat, dass auch sie nur Befunde zur Verfügung stellen kann. Natürlich müssen dann auch Historiker bereit sein, gegebenenfalls liebgewonnene Interpretationen, sagen wir antiker Texte, aufzugeben, wenn die alten Gene konsistent etwas anderes nahelegen. Doch moderne Historiker wie etwa der Völkerwanderungs-Experte Patrick Geary aus Princeton wissen, dass auch alte Texte - etwa über den Zug der Langobarden nach Italien im sechsten Jahrhundert - nicht alle Fragen beantworten, die sich heute stellen lassen. In Gearys Langobarden-Projekt, das Historiker, Archäologen und Archäogenetiker - darunter Johannes Krause - zusammenbringt, sehen Meier und Patzold denn auch ein Musterbeispiel dafür, wie es gelingen kann, historische Fragen mittels alter Gene einer Antwort näher zu bringen.
Die beiden Historiker sehen die Rolle der Archäogenetik in der Geschichtswissenschaft daher analog zu der von Disziplinen wie Papyrologie, Paläographie oder Numismatik - man könnte die Liste auch um naturwissenschaftliche Fächer wie Archäometrie oder Archäobotanik erweitern. Etwas unglücklich ist es vielleicht, solche Fächer als "Hilfswissenschaften" anzusprechen, auch wenn das bei einigen länger etablierten von ihnen eine eingeführte Bezeichnung ist. So würde die große Disziplin der Archäologie das "Hilfs-" wohl von sich weisen, auch wenn sie aus der Perspektive der Historiker eben Befunde liefert und eine ausgegrabene Bestattung historiographisch so wertvoll und so interpretationsbedürftig ist wie ein edierter Papyrus oder eben ein sequenziertes Genom.
Kleine Schroffheiten leisten sich Meier und Patzold allerdings auch anderswo. So klingt die Klage über die große mediale Aufmerksamkeit vieler Resultate der Archäogenetik doch etwas schal. Auch den Hinweis auf deren vergleichsweise hohen Finanzbedarf hätten sich die Autoren besser verkniffen - rechnen sie doch die Kosten eines Genomprojektes sogar in die Zahl geschichtswissenschaftlicher Doktorarbeiten um, die man stattdessen damit hätte finanzieren können. Mit solcher mangelhaften Unterdrückung von Neidgefühlen ist der Sache, an der Patzold und Meier hier liegt, wenig geholfen. Zumal die beiden ihrem Ziel - die Archäogenetik möge sich doch bitte damit anfreunden, zur Geschichtswissenschaft beizutragen wie die anderen genannten Fächer auch, anstatt sich mit ihr zu verwechseln - vielleicht doch näher sind, als sie glauben. So nennt sich das Max-Planck-Institut, an dem Johannes Krause tätig ist, auf Englisch "Institute for the Science of Human History". Warum das gerade nicht bedeuten kann, dass Menschheitsgeschichte nun auf einmal eine "Science" werden soll, ist in diesem kleinen Buch in der Tat überzeugend dargelegt.
ULF VON RAUCHHAUPT
Mischa Meier und Steffen Patzold: "Gene und Geschichte". Was die Archäogenetik zur Geschichtsforschung beitragen kann.
Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart 2021. 168 S., br., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ulf von Rauchhaupt hätte sich von den Historikern Mischa Meier und Steffen Patzold mehr Selbstdisziplin in Sachen Neid gewünscht, wenn die beiden Autoren die Archäogenetik kritisieren und die ihr erteilte mediale Aufmerksamkeit. In der Sache nämlich scheinen die Autoren für Rauchhaupt durchaus einen Punkt zu treffen, wenn sie mit geballter Expertise an Beispielen darlegen, wo die Grenzen der Genetik liegen, dass sie eben keine geschichtswissenschaftlichen Resultate liefert, sondern höchstens interpretationsbedürftige Daten, genau wie die Archäologie, die Numismatik oder die Papyrologie. Wie eine gelungene interdisziplinäre Zusammenarbeit aussehen könnte, vermitteln die Autoren dem Rezensenten auch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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