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Luigi Luca Cavalli-Sforza ist einer der Begründer der modernen Genetik. In einer Welt, die den Rassismus noch lange nicht besiegt hat, hält er es für seine Pflicht, mit der Kompetenz wissenschaftlicher Erkenntnisse gegen Diskriminierungen zu kämpfen. Seine umfassende Einführung in die Genetik ist ein Standardwerk über die Leitwissenschaft des nächsten Jahrtausends. Einer Wissenschaft, die Fragen von den Voraussetzungen des Lebens bis zur Entwicklung unterschiedlicher Kulturen und Sprachen klärt und die zugleich viele Gefahren des Missbrauchs birgt.

Produktbeschreibung
Luigi Luca Cavalli-Sforza ist einer der Begründer der modernen Genetik. In einer Welt, die den Rassismus noch lange nicht besiegt hat, hält er es für seine Pflicht, mit der Kompetenz wissenschaftlicher Erkenntnisse gegen Diskriminierungen zu kämpfen. Seine umfassende Einführung in die Genetik ist ein Standardwerk über die Leitwissenschaft des nächsten Jahrtausends. Einer Wissenschaft, die Fragen von den Voraussetzungen des Lebens bis zur Entwicklung unterschiedlicher Kulturen und Sprachen klärt und die zugleich viele Gefahren des Missbrauchs birgt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.1999

Die Gene sind alte Wandervögel
Antirassistische Völkerkunde mit biologischer Methode: Luigi Cavalli-Sforza reist durch die Menschheitsgeschichte

Titel, Untertitel und Klappentexte wissenschaftlicher Publikationen sollen die Leser informieren, worum es geht. Der Titel des neuen Buchs des siebenundsiebzigjährigen Humangenetikers Luigi Luca Cavalli-Sforza ist eine knappe Anreihung von drei Begriffen: "Gene, Völker und Sprachen". Der vom Verlag gewählte Untertitel setzt einen besonderen Akzent: "Die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation". Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Gene. Zivilisatorische Prozesse scheinen biologisch begründet zu sein. Der Klappentext verstärkt diese Orientierung: "Die Genetik ist die Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts." Das Buch von Cavalli-Sforza soll zeigen, warum diese apodiktische Behauptung "zu Recht gilt". Da man jedoch weiss, dass die Genetik umstritten ist, folgt die aufklärende Warnung: "Die wachsende Rolle der Genetik in der Medizin beschwört neue Konflikte herauf." Das zur Lektüre empfohlene Buch zeige deshalb die "Gefahren, die vom Missbrauch dieser Wissenschaft drohen". Der Leser erwartet also neugierig, was Cavalli-Sforza, "ein Pionier dieses Fachs", über die Genetik als eine gefährliche Grundlagenwissenschaft zu sagen hat.

Hat der Verfasser dieser werbewirksamen Charakterisierungen das Buch nicht gelesen? Oder hat er es gelesen, aber bewusst seine Intention verfälscht? Denn "Gene, Völker und Sprachen" liefert weder eine Darstellung der biologischen Grundlagen unserer Zivilisation noch eine kritische Auseinandersetzung mit dem möglichen Missbrauch der Genetik. Worum geht es wirklich?

Das Buch geht auf zwei Vorlesungen am Collège de France zurück, in denen Cavalli-Sforza in den Jahren 1981 und 1990 seine Forschungsergebnisse über die letzten hunderttausend Jahre der biologischen und kulturellen Evolution des Menschen vortrug. Der Autor folgte einem "multidisziplinären Ansatz" und begann bei den genetischen Faktoren der Evolution: bei den Gesetzen der Vererbung; den zufälligen Mutationen der Gene; den Bedingungen der natürlichen Selektion und statistischen Fluktuationen der Genhäufigkeiten (die sogenannte "Gendrift"). Aber er wusste, dass die Geschichte der Menschheit zu komplex ist, um sie auf einen genetischen Ursache-Wirkung-Zusammenhang zu reduzieren.

Cavalli-Sforza ist kein Richard Dawkins, der die Phylogenese nur aus genetischer Perspektive sieht und den Menschen als eine Art von Überlebensmaschine im Dienst egoistischer Gene begreift, die selbstsüchtig an ihrer Weitergabe interessiert sind. Er hat seine Arbeiten auf die Demographie ausgedehnt, um wirtschaftliche und sozialpolitische Bewegungen zu verstehen. Kleine Migrationen von Individuen einer Population zu einer anderen oder von einem Ort zu einem anderen spielen als Faktoren der Evolution ebenso eine Rolle wie die grossen Expansionen der Völkerwanderungen. Ergebnisse archäologischer Forschungen wurden hinzugezogen. Die Linguistik wurde interessant, weil Cavalli-Sforza mit ihrer Hilfe die sprachgeschichtlichen Veränderungen und geographischen Sprachverschiedenheiten als Indizien der Menschheitsgeschichte interpretieren konnte. Und schliesslich hat er auch die historischen und systematischen Mechanismen der Informationsübermittlung berücksichtigt, vom elementaren Kontakt zwischen Eltern und Kindern bis zum Datenfluss im World Wide Web.

Die "holistische" Methode des Autors mag anhand eines Beispiels anschaulich werden: Das vierte Kapitel handelt von "technischen Revolutionen und der Geographie der Gene". Beantwortet werden soll die Frage, warum und wie sich vor etwa zehntausend Jahren die erste grosse Expansion des Ackerbaus, vom Mittleren Osten ausgehend, langsam in Europa ausgebreitet hat. Man kann sie als "neolithische Expansion" (Jungsteinzeit) bezeichnen, weil sie mit neuen Herstellungstechniken für Steinwerkzeuge zusammenfiel.

Cavalli-Sforza beginnt mit demographischen Feststellungen. Die Entwicklung neuer Techniken ermöglichte zunächst den Übergang von einer nomadisierenden Jäger- und Sammlerzivilisation, deren Bevölkerungsdichte relativ stabil blieb, zu einer Kultur des Ackerbaus und der Viehzucht. Diese neue Form der Nahrungsmittelproduktion führte zu einem enormen Bevölkerungswachstum, das seinerseits mit Migrationen einherging. "Die Einführung des Ackerbaus", schreibt Cavalli-Sforza, "führte also einerseits zu einer lokalen Verdichtung und andererseits zu einer geographischen Expansion, die sich so lange fortsetzen konnte, wie es die lokale Ökologie erlaubte."

Die Radiokarbonmethode zur Bestimmung des Alters von Weizenkörnern ermöglichte es, die Expansion des Ackerbaus in Europa recht genau zu datieren und ihren Weg zu verfolgen. Sie vollzog sich mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa einem Kilometer pro Jahr, begann im Mittleren Orient und in Anatolien und brauchte mehr als 3500 Jahre, um England zu erreichen. Eine zentrale Frage ist freilich ungeklärt: Erfolgte die Ausbreitung durch eine "demische" Expansion von auswandernden Ackerbauern, oder handelte es sich nur um eine "kulturelle" Weitergabe der neuen Technologie? Während vor dem Zweiten Weltkrieg die meisten Archäologen kulturellen Wandel auf grosse Migrationen zurückführten, tendierte man nach dem Zweiten Weltkrieg dazu, diesen Wandel vor allem kulturell und ausschliesslich lokal zu sehen. Nur die Kaufleute reisten, die Bauern blieben sesshaft. Archäologische Funde schienen diese "kulturelle" Hypothese zu bestätigen. Da sie nicht für eine "demische" Migration sprachen, lautete das Dogma, dass es keine gegeben haben soll.

Wer hat hier Recht? Wie kann dieses Problem gelöst werden? Erst an diesem Punkt kommt die Genetik ins Spiel. In Tausenden von lokalen Populationen sammelten die Genetiker um Cavalli-Sforza Daten, um historischen Migrationsbewegungen auf die Spur zu kommen. Die "genographische Landkarte", die sich aus der geographischen Verteilung des Gens Rh-neg ergab, passte bemerkenswerterweise genau zur Expansionsgeschichte des Ackerbaus. Da die zunehmende Zurückdrängung dieses Gens, das in Europa zunächst vorherrschte, nur durch eine Expansion erklärbar ist, die zur biologischen Vermischung von Populationen führte, war damit ein starkes Indiz für die "demische" Hypothese gefunden.

Dieses Beispiel zeigt, wie Cavalli-Sforza arbeitet. Er ist kein Genetiker, der zivilisatorische Prozesse auf "biologische Grundlagen" zurückführt. Er versucht nicht, die Genetik als "Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts" zu etablieren. Er ist wesentlich bescheidener. Das macht seine wissenschaftliche Grösse aus. Er will bestimmte Probleme der Zivilisationsgeschichtsschreibung lösen. Die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gene bestimmt nicht den zivilisatorischen Prozess, sondern hängt mit technischen Innovationen, demographisch feststellbaren Migrationsbewegungen und kommunikativen, vor allem sprachlichen Informationsübermittlungen zusammen.

Der Grundtenor von "Gene, Völker und Sprachen" ist strikt antirassistisch: Die Genetik hat zeigen können, dass zahllose Migrationen zu einer vorteilhaften genetischen Mischung geführt haben, die weder eine rassische Reinheit noch eine starke rassische Differenz festzustellen erlaubt. Die Annahme, dass eine Rasse (natürlich die eigene) einer anderen biologisch überlegen sei, ist ein Hirngespinst. Genetische Heterogenität ist der Normalfall; und selbst die feststellbaren genetischen Distanzen zwischen verschiedenen "Populationen" (die nicht biologisch, sondern statistisch durch den Raum, den sie bewohnen, definiert sind) zeigen eine Vielfalt, die durch Migrationen und damit verbundene genetische Mischungen verursacht worden ist. Rassische Klassifikationen, schreibt Cavalli-Sforza, sind "absolut willkürlich" und können "nur den Nazis gefallen".

Man merkt diesen Vorlesungen an, dass die multidisziplinäre Forschung für Cavalli-Sforza eine "Quelle grosser intellektueller Befriedigung" ist. Dass es in den historischen Wissenschaften, die keine experimentellen Verifikationen kennen, besonders kompliziert zugeht, macht die Lektüre nicht einfach. Die Fülle des Materials, die Begründungen für verschiedene Hypothesen und die Reflexionen methodischer Verfahren führen dem Leser die Probleme vor Augen, mit denen ein Wissenschaftler zu kämpfen hat, wenn er die millionenjährige Tiefenzeit der Menschheitsgeschichte zu rekonstruieren versucht. Cavalli-Sforza versucht indes nicht, die Genetik als Grundlagen- oder Leitwissenschaft zu inthronisieren. Nicht nur die menschlichen Populationen sind heterogen. Auch die Wissenschaften der menschheitsgeschichtlichen Tiefenzeit lassen sich auf keinen Ansatz reduzieren, der sich als der beste in Szene setzt.

MANFRED GEIER

Luigi Luca Cavalli-Sforza: "Gene, Völker und Sprachen". Die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation. Carl Hanser Verlag, München, Wien 1999. 252 S., geb., 45,- DM.

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"Eine hochgradig kompetente und gründliche Studie über die genetische und kulturelle Evolution des Menschen." Rheinischer Merkur