Das europäische Politikdenken der Neuzeit kreiste um den Begriff des Staates. Dieses Denken scheint heute an sein Ende zu gelangen. Klaus Roth erforscht die Grundlagen und Gründe für den Aufstieg und die steile Karriere der auf den Staat fixierten Ideenwelt - um dadurch zugleich mögliche Ursachen für ihr Verblassen und ihren Niedergang zu beleuchten.
Der Autor analysiert die Vorläufer des Staates (Polis, Reich, Ekklesia) und die in ihrem Rahmen entwickelten Politikvorstellungen, die durch Vermittlung der Politischen Philosophie in modifizierter Gestalt in die neuzeitliche Staatsidee eingeflossen sind. Er arbeitet die Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens und ihren geschichtlichen Wandel heraus, untersucht die Genese und die Metamorphose des abendländischen Ordnungsdenkens und rekonstruiert die Erfahrungen und Erwartungen, die sich im Gang der europäischen Geschichte im Staatsbegriff verdichtet haben. Gegenstand ist nicht die realgeschichtliche Entwicklung des europäischen Staatensystems, sondern die konzeptionelle Vorbereitung in der Politischen Theorie. Beabsichtigt ist kein enragiertes Plädoyer für oder wider den Staat, sondern die bloße Bestandsaufnahme einer Denkbewegung, die in der griechisch-römischen Antike anhebt, in der Polis und im Reich ihre frühen Fixpunkte und Ideale findet, sich in der Spätantike und im frühen Mittelalter mit der jüdisch-christlichen Tradition amalgamiert und im späten Mittelalter den Staat zu favorisieren beginnt, der schließlich in der Frühen Neuzeit seine potentiellen Widersacher aus dem Feld schlagen konnte und zur dominanten politischen Instanz wurde.
Inhaltsverzeichnis:
I. Einleitung: Begriff des Staates. Bilanz der Kontroversen - Folgerungen und Thesen. Gegenstand und Ziel der Untersuchung - Methode und Gang der Untersuchung - II. Philosophie und Politik in der Polis: Begriff und Gestalt der Polis - Politik und Demokratie in der Politischen Philosophie - Nietzsches Mutmaßungen über den Zusammenhang von Philosophie und Politik und über den Niedergang der griechischen Kultur - III. Religion und Politik in den Großreichen: Das Politische in den großen Reichen - Politisches Denken im Hellenismus - Res publica und Imperium: Politisches Denken der Römer - IV. Die jüdisch-christliche Tradition: Politisches Denken im Alten Testament - Politisches Denken im Urchristentum - Die christliche Reichsidee - V. Der Drang zum Staat: Der Kampf ums Reich im Hochmittelalter - Die Krise des christlichen Reiches im Spätmittelalter - Die Lösung: Formierung des europäischen Staatensystems - VI. Resümee - Literaturverzeichnis, Personenregister
Der Autor analysiert die Vorläufer des Staates (Polis, Reich, Ekklesia) und die in ihrem Rahmen entwickelten Politikvorstellungen, die durch Vermittlung der Politischen Philosophie in modifizierter Gestalt in die neuzeitliche Staatsidee eingeflossen sind. Er arbeitet die Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens und ihren geschichtlichen Wandel heraus, untersucht die Genese und die Metamorphose des abendländischen Ordnungsdenkens und rekonstruiert die Erfahrungen und Erwartungen, die sich im Gang der europäischen Geschichte im Staatsbegriff verdichtet haben. Gegenstand ist nicht die realgeschichtliche Entwicklung des europäischen Staatensystems, sondern die konzeptionelle Vorbereitung in der Politischen Theorie. Beabsichtigt ist kein enragiertes Plädoyer für oder wider den Staat, sondern die bloße Bestandsaufnahme einer Denkbewegung, die in der griechisch-römischen Antike anhebt, in der Polis und im Reich ihre frühen Fixpunkte und Ideale findet, sich in der Spätantike und im frühen Mittelalter mit der jüdisch-christlichen Tradition amalgamiert und im späten Mittelalter den Staat zu favorisieren beginnt, der schließlich in der Frühen Neuzeit seine potentiellen Widersacher aus dem Feld schlagen konnte und zur dominanten politischen Instanz wurde.
Inhaltsverzeichnis:
I. Einleitung: Begriff des Staates. Bilanz der Kontroversen - Folgerungen und Thesen. Gegenstand und Ziel der Untersuchung - Methode und Gang der Untersuchung - II. Philosophie und Politik in der Polis: Begriff und Gestalt der Polis - Politik und Demokratie in der Politischen Philosophie - Nietzsches Mutmaßungen über den Zusammenhang von Philosophie und Politik und über den Niedergang der griechischen Kultur - III. Religion und Politik in den Großreichen: Das Politische in den großen Reichen - Politisches Denken im Hellenismus - Res publica und Imperium: Politisches Denken der Römer - IV. Die jüdisch-christliche Tradition: Politisches Denken im Alten Testament - Politisches Denken im Urchristentum - Die christliche Reichsidee - V. Der Drang zum Staat: Der Kampf ums Reich im Hochmittelalter - Die Krise des christlichen Reiches im Spätmittelalter - Die Lösung: Formierung des europäischen Staatensystems - VI. Resümee - Literaturverzeichnis, Personenregister
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2004Der Weltgeist läßt bitten
Alles Staat oder was? Klaus Roths politische Ideengeschichte
Wer Klaus Roths Buch über die Genealogie des Staates lesen will, braucht Zeit, viel Zeit, in jedem Fall mehr Zeit, als dies heutigen Lesegewohnheiten und Zeitbudgets, auch und gerade in akademischen Kreisen, entspricht. Vermutlich wird das Buch mehr pensionierte Studienräte denn Studenten und Nachwuchswissenschaftler als Leser haben. Roth hat nämlich ein wahrhaft anachronistisches Buch geschrieben, das von seiner Anlage und seinem Argumentationsduktus her an die umfänglichen Untersuchungen erinnert, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts von emeritierten Professoren als Summe ihrer lebenslangen Forschungen vorgelegt worden sind.
Aber Roths Buch ist kein Alterswerk, sondern eine politikwissenschaftliche Habilitationsschrift, die vor einiger Zeit am Otto Suhr Institut der Freien Universität Berlin eingereicht und dort angenommen worden ist. Und obendrein ist es, was man von politikwissenschaftlichen Habilitationen nicht unbedingt erwartet, ein Werk von großer Bildung und stupender Belesenheit, ein im besten Sinne bildungsbürgerliches Buch also, das so ganz und gar nicht in die vorherrschende Tendenz der Segmentierung und Spezialisierung von Wissenschaft passen will. Das alles sind Gründe genug, sich die Zeit zu nehmen und auf eine Lektüre einzulassen, die zu einem wahren Streif- und Beutezug durch die abendländische Geistesgeschichte wird.
Es geht Roth, zumindest verheißt dies der Titel seines Buches, um die Genealogie des Staates. Dabei versteht er Staat nicht als Sammelbezeichnung für jegliche Form politischer Ordnung, sondern will den Begriff auf den institutionellen Flächenstaat beschränkt wissen, wie er sich in Europa im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert herausgebildet hat. Aber Beschränkungen beziehungsweise Selbstbeschränkungen sind Roths Sache offenbar nicht, und deswegen setzt seine Genealogie des Staates auch nicht bei den sogenannten konfessionellen Bürgerkriegen der Frühen Neuzeit an, für die der institutionelle Flächenstaat das erfolgreiche Lösungsmodell dargestellt hat, sondern geht zurück bis zum Investiturstreit, von Roth als "Papstrevolution" bezeichnet, in dessen Verlauf die sakral-imperiale Herrschaftsidee des salischen Kaiserhauses durch das energische Auftreten Papst Gregors VII. zerstört worden ist.
Freilich kommt Roth auf die schließlich nach Canossa führenden Auseinandersetzungen erst in der Mitte seines über 800 engbedruckte Seiten (ohne Literaturverzeichnis und Register) starken Buches zu sprechen: Der Investiturstreit nämlich hat, wie er argumentiert, ideengeschichtliche Voraussetzungen, die in einer Genealogie des Staates nicht ausgelassen werden können. Und so beginnt die Arbeit bei der Entdeckung der Demokratie in der Poliswelt der Griechen sowie parallel dazu, aber zeitlich noch weiter zurückgreifend, bei der Entfaltung theokratischer Vorstellungen im Alten Testament. Unterderhand ist aus einer Untersuchung zur Genealogie des institutionellen Flächenstaats auf diese Weise ein Gang durch die Geschichte des politischen Denkens geworden, bei dem kaum eine Zwischenstation und ein Aussichtspunkt ausgelassen werden. Denn wenn schon die griechischen und jüdischen Ursprünge behandelt werden, dann müssen natürlich auch die Römer in Augenschein genommen werden, dazu die urchristliche Gemeindebildung, die Entstehung der Amtskirche und so weiter.
Alles Staat oder was? Unverkennbar ist Roths Argumentation hegelianisch imprägniert, auch und gerade dann, wenn er sich des auf Nietzsche zurückgehenden Begriffs der Genealogie bedient. Nicht nur, daß Nietzsches aphoristische Kürze und Würze Roth gänzlich abgeht - es fehlt ihm auch das Gespür für die Brüche, Überlagerungen und Umdeutungen, wie sie eine genealogische Analyse im Sinne Foucaults auszeichnen müßte. So ist Genealogie, allen methodologischen Vorbemerkungen zum Trotz, für Roth nur ein Wort, das ihm die Lizenz gibt, nicht erst in der Frühen Neuzeit oder vielleicht auch dem späten Mittelalter anfangen zu müssen, sondern seiner omniinklusiven Entdeckerfreude freien Lauf lassen zu dürfen. Das möchte man ihm gönnen, zumal dabei kluge Beobachtungen zutage gefördert und überraschende Zusammenhänge hergestellt werden, wenn dabei nur nicht immer wieder die hegelianische Grundannahme durchscheinen würde, daß sich dies alles vernünftig entwickelt habe, so daß die Genealogie des Staates zuletzt nichts anderes ist als die Auslegung und Entfaltung einer Gestalt der politischen Vernunft.
Die starke Vernünftigkeitsvermutung, die Roths Genealogie des Staates grundiert, ist eine Folge der methodischen Herangehensweise, nämlich der Darstellung der Geschichte des politischen Denkens als im weitesten Sinne gesellschaftlicher Selbstreflexion der politischen Optionen. So jedenfalls beansprucht Roth für sich, die Geschichte des politischen Denkens zu lesen. Die Realgeschichte vollzieht sich auf diese Weise im Spiegel der politischen Ideengeschichte, und das hat zwangsläufig zur Folge, daß Kontingenzen, äußere Umstände, Personen mit ihren Launen und Vorlieben, landschaftliche und klimatische Faktoren keine Bedeutung für den Fortgang der Dinge haben. Sie sind bloß die Begleiter einer Entwicklung, die ausschließlich mit geisteswissenschaftlichen Methoden dechiffriert und dargestellt wird.
So weiß Roth zwar davon zu berichten, daß Bürokratie und stehendes Heer die wichtigsten Faktoren bei der Durchsetzung des institutionellen Flächenstaates waren, aber darüber, wie sie entstanden sind und ihre Entwicklung finanziert worden ist, verliert er so gut wie kein Wort. Man wird aber davon ausgehen müssen, daß die Durchsetzung des aktenmäßigen Betriebs und die Einführung neuer Disziplinarordnungen im Militär dafür, daß sich der institutionelle Flächenstaat gegen konkurrierende Modelle politischer Ordnung durchgesetzt hat, in viel höherem Maße den Ausschlag gegeben hat als die reflexive Einholung der Geschichte des politischen Denkens durch die Zeitgenossen.
Es geht bei Roth freilich nicht nur vernünftig zu, sondern es gibt auch so etwas wie einen sich untergründig vollziehenden Fortschritt in der Geschichte, und der besteht in einer sukzessiven Säkularisierung des Politischen, der Abstreifung seiner religiösen und theologischen Ummäntelungen. In der Rolle des Schützers und Wohltäters, schreibt Roth im Abschnitt über die Formierung des europäischen Staatensystems, sei der Staat an die Stelle Gottes und seiner irdischen Repräsentanten Kirche und Reich getreten, und anstelle des Himmels sei er den Untertanen und Bürgern zum Schutzschirm geworden. Thomas Hobbes, der den Staat als sterblichen Gott bezeichnet hat, hätte dem sicherlich zugestimmt, aber Hobbes konnte - im Unterschied zu Roth - ja auch noch nicht wissen, welche Bedeutung zivilreligiöse Elemente später für die Entwicklung staatlicher Ordnungen haben würden. Oder welche ausgeprägt religiösen Konnotationen in der Idee der Nation, vom Nationalismus ganz zu schweigen, enthalten sein würden. Die Spannungen zwischen Nationalität und Staatlichkeit, die gerade das letzte Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts noch einmal stark geprägt haben, entziehen sich auf diese Weise Roths Wahrnehmungsfeld.
Wird der Staat, dessen ideengeschichtliche Wurzeln Klaus Roth so weit zurückverfolgt hat, für uns auch in Zukunft die politisch bedeutsamste Größe sein? Roth ist skeptisch: Die Globalisierung des in Europa entstandenen Staates, wie sie im zwanzigsten Jahrhundert versucht wurde, sei gescheitert, das Modell des Wohlfahrtsstaates habe sich überlebt, und daß der politischen Ordnungsform des Staates noch größere Entwicklungsmöglichkeiten innewohnen, die neue Antworten auf die veränderten Konstellationen geben können, bezweifelt Roth auch. Nachdem die Dämmerung des Staates angebrochen ist, hat die Eule der Minerva ihren Erkundungsflug unternommen und ist ratlos zurückgekehrt. Freilich hat sie auf diesem Flug viel gesehen, und unter den Trümmern politischer Ordnungen, die den Entstehungsprozeß des Staates säumen, könnte sich einiges finden, was den neuen Herausforderungen eher gewachsen ist als der Staat: Städtebünde, Großreiche, spirituelle Gemeinschaften und vieles andere mehr.
Es könnte freilich auch sein, daß hier eine kurzzeitige Eintrübung für den Einbruch der Dämmerung gehalten wurde und die Eule schlichtweg zu früh losgeflogen ist. Das würde vielleicht auch erklären, warum sie die Gestalt des Staates nur schemenhaft zu Gesicht bekommen und statt dessen die Weiten der politischen Ideengeschichte durchmessen hat.
HERFRIED MÜNKLER
Klaus Roth: "Genealogie des Staates". Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens. Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2003. 940 S., geb., 126,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alles Staat oder was? Klaus Roths politische Ideengeschichte
Wer Klaus Roths Buch über die Genealogie des Staates lesen will, braucht Zeit, viel Zeit, in jedem Fall mehr Zeit, als dies heutigen Lesegewohnheiten und Zeitbudgets, auch und gerade in akademischen Kreisen, entspricht. Vermutlich wird das Buch mehr pensionierte Studienräte denn Studenten und Nachwuchswissenschaftler als Leser haben. Roth hat nämlich ein wahrhaft anachronistisches Buch geschrieben, das von seiner Anlage und seinem Argumentationsduktus her an die umfänglichen Untersuchungen erinnert, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts von emeritierten Professoren als Summe ihrer lebenslangen Forschungen vorgelegt worden sind.
Aber Roths Buch ist kein Alterswerk, sondern eine politikwissenschaftliche Habilitationsschrift, die vor einiger Zeit am Otto Suhr Institut der Freien Universität Berlin eingereicht und dort angenommen worden ist. Und obendrein ist es, was man von politikwissenschaftlichen Habilitationen nicht unbedingt erwartet, ein Werk von großer Bildung und stupender Belesenheit, ein im besten Sinne bildungsbürgerliches Buch also, das so ganz und gar nicht in die vorherrschende Tendenz der Segmentierung und Spezialisierung von Wissenschaft passen will. Das alles sind Gründe genug, sich die Zeit zu nehmen und auf eine Lektüre einzulassen, die zu einem wahren Streif- und Beutezug durch die abendländische Geistesgeschichte wird.
Es geht Roth, zumindest verheißt dies der Titel seines Buches, um die Genealogie des Staates. Dabei versteht er Staat nicht als Sammelbezeichnung für jegliche Form politischer Ordnung, sondern will den Begriff auf den institutionellen Flächenstaat beschränkt wissen, wie er sich in Europa im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert herausgebildet hat. Aber Beschränkungen beziehungsweise Selbstbeschränkungen sind Roths Sache offenbar nicht, und deswegen setzt seine Genealogie des Staates auch nicht bei den sogenannten konfessionellen Bürgerkriegen der Frühen Neuzeit an, für die der institutionelle Flächenstaat das erfolgreiche Lösungsmodell dargestellt hat, sondern geht zurück bis zum Investiturstreit, von Roth als "Papstrevolution" bezeichnet, in dessen Verlauf die sakral-imperiale Herrschaftsidee des salischen Kaiserhauses durch das energische Auftreten Papst Gregors VII. zerstört worden ist.
Freilich kommt Roth auf die schließlich nach Canossa führenden Auseinandersetzungen erst in der Mitte seines über 800 engbedruckte Seiten (ohne Literaturverzeichnis und Register) starken Buches zu sprechen: Der Investiturstreit nämlich hat, wie er argumentiert, ideengeschichtliche Voraussetzungen, die in einer Genealogie des Staates nicht ausgelassen werden können. Und so beginnt die Arbeit bei der Entdeckung der Demokratie in der Poliswelt der Griechen sowie parallel dazu, aber zeitlich noch weiter zurückgreifend, bei der Entfaltung theokratischer Vorstellungen im Alten Testament. Unterderhand ist aus einer Untersuchung zur Genealogie des institutionellen Flächenstaats auf diese Weise ein Gang durch die Geschichte des politischen Denkens geworden, bei dem kaum eine Zwischenstation und ein Aussichtspunkt ausgelassen werden. Denn wenn schon die griechischen und jüdischen Ursprünge behandelt werden, dann müssen natürlich auch die Römer in Augenschein genommen werden, dazu die urchristliche Gemeindebildung, die Entstehung der Amtskirche und so weiter.
Alles Staat oder was? Unverkennbar ist Roths Argumentation hegelianisch imprägniert, auch und gerade dann, wenn er sich des auf Nietzsche zurückgehenden Begriffs der Genealogie bedient. Nicht nur, daß Nietzsches aphoristische Kürze und Würze Roth gänzlich abgeht - es fehlt ihm auch das Gespür für die Brüche, Überlagerungen und Umdeutungen, wie sie eine genealogische Analyse im Sinne Foucaults auszeichnen müßte. So ist Genealogie, allen methodologischen Vorbemerkungen zum Trotz, für Roth nur ein Wort, das ihm die Lizenz gibt, nicht erst in der Frühen Neuzeit oder vielleicht auch dem späten Mittelalter anfangen zu müssen, sondern seiner omniinklusiven Entdeckerfreude freien Lauf lassen zu dürfen. Das möchte man ihm gönnen, zumal dabei kluge Beobachtungen zutage gefördert und überraschende Zusammenhänge hergestellt werden, wenn dabei nur nicht immer wieder die hegelianische Grundannahme durchscheinen würde, daß sich dies alles vernünftig entwickelt habe, so daß die Genealogie des Staates zuletzt nichts anderes ist als die Auslegung und Entfaltung einer Gestalt der politischen Vernunft.
Die starke Vernünftigkeitsvermutung, die Roths Genealogie des Staates grundiert, ist eine Folge der methodischen Herangehensweise, nämlich der Darstellung der Geschichte des politischen Denkens als im weitesten Sinne gesellschaftlicher Selbstreflexion der politischen Optionen. So jedenfalls beansprucht Roth für sich, die Geschichte des politischen Denkens zu lesen. Die Realgeschichte vollzieht sich auf diese Weise im Spiegel der politischen Ideengeschichte, und das hat zwangsläufig zur Folge, daß Kontingenzen, äußere Umstände, Personen mit ihren Launen und Vorlieben, landschaftliche und klimatische Faktoren keine Bedeutung für den Fortgang der Dinge haben. Sie sind bloß die Begleiter einer Entwicklung, die ausschließlich mit geisteswissenschaftlichen Methoden dechiffriert und dargestellt wird.
So weiß Roth zwar davon zu berichten, daß Bürokratie und stehendes Heer die wichtigsten Faktoren bei der Durchsetzung des institutionellen Flächenstaates waren, aber darüber, wie sie entstanden sind und ihre Entwicklung finanziert worden ist, verliert er so gut wie kein Wort. Man wird aber davon ausgehen müssen, daß die Durchsetzung des aktenmäßigen Betriebs und die Einführung neuer Disziplinarordnungen im Militär dafür, daß sich der institutionelle Flächenstaat gegen konkurrierende Modelle politischer Ordnung durchgesetzt hat, in viel höherem Maße den Ausschlag gegeben hat als die reflexive Einholung der Geschichte des politischen Denkens durch die Zeitgenossen.
Es geht bei Roth freilich nicht nur vernünftig zu, sondern es gibt auch so etwas wie einen sich untergründig vollziehenden Fortschritt in der Geschichte, und der besteht in einer sukzessiven Säkularisierung des Politischen, der Abstreifung seiner religiösen und theologischen Ummäntelungen. In der Rolle des Schützers und Wohltäters, schreibt Roth im Abschnitt über die Formierung des europäischen Staatensystems, sei der Staat an die Stelle Gottes und seiner irdischen Repräsentanten Kirche und Reich getreten, und anstelle des Himmels sei er den Untertanen und Bürgern zum Schutzschirm geworden. Thomas Hobbes, der den Staat als sterblichen Gott bezeichnet hat, hätte dem sicherlich zugestimmt, aber Hobbes konnte - im Unterschied zu Roth - ja auch noch nicht wissen, welche Bedeutung zivilreligiöse Elemente später für die Entwicklung staatlicher Ordnungen haben würden. Oder welche ausgeprägt religiösen Konnotationen in der Idee der Nation, vom Nationalismus ganz zu schweigen, enthalten sein würden. Die Spannungen zwischen Nationalität und Staatlichkeit, die gerade das letzte Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts noch einmal stark geprägt haben, entziehen sich auf diese Weise Roths Wahrnehmungsfeld.
Wird der Staat, dessen ideengeschichtliche Wurzeln Klaus Roth so weit zurückverfolgt hat, für uns auch in Zukunft die politisch bedeutsamste Größe sein? Roth ist skeptisch: Die Globalisierung des in Europa entstandenen Staates, wie sie im zwanzigsten Jahrhundert versucht wurde, sei gescheitert, das Modell des Wohlfahrtsstaates habe sich überlebt, und daß der politischen Ordnungsform des Staates noch größere Entwicklungsmöglichkeiten innewohnen, die neue Antworten auf die veränderten Konstellationen geben können, bezweifelt Roth auch. Nachdem die Dämmerung des Staates angebrochen ist, hat die Eule der Minerva ihren Erkundungsflug unternommen und ist ratlos zurückgekehrt. Freilich hat sie auf diesem Flug viel gesehen, und unter den Trümmern politischer Ordnungen, die den Entstehungsprozeß des Staates säumen, könnte sich einiges finden, was den neuen Herausforderungen eher gewachsen ist als der Staat: Städtebünde, Großreiche, spirituelle Gemeinschaften und vieles andere mehr.
Es könnte freilich auch sein, daß hier eine kurzzeitige Eintrübung für den Einbruch der Dämmerung gehalten wurde und die Eule schlichtweg zu früh losgeflogen ist. Das würde vielleicht auch erklären, warum sie die Gestalt des Staates nur schemenhaft zu Gesicht bekommen und statt dessen die Weiten der politischen Ideengeschichte durchmessen hat.
HERFRIED MÜNKLER
Klaus Roth: "Genealogie des Staates". Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens. Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2003. 940 S., geb., 126,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Herfried Münkler lobt zwar unter anderem, dass diese außergewöhnlich umfangreiche Habilitationsschrift von Klaus Roth "ein Werk von großer Bildung und stupender Belesenheit" darstelle, das "so ganz und gar nicht" in die "vorherrschende Tendenz der Segmentierung und Spezialisierung von Wissenschaft passen will", und auch dass "dabei kluge Beobachtungen" und "überraschende Zusammenhänge" hergestellt würden. Dies alles aber kann die zahlreichen Kritikpunkte nicht wettmachen, die der Rezensent anführt. So nennt Münkler etwa die ideengeschichtliche Methode Roths, die alle anderen Faktoren bei der Herausbildung des "institutionellen Flächenstaates", um die es dem Autor eigentlich geht, wie man erfährt, ausblende - weshalb er, anstatt sein Problem zu bearbeiten, dann auch vor allem "die Weiten der politischen Ideengeschichte durchmessen" habe. Außerdem hat den Rezensenten gestört, dass "immer wieder die hegelsche Annahme" durchscheine, dass sich alles Beschriebene "vernünftig entwickelt habe", und es zudem bei Roth dann auch noch "einen sich untergründig vollziehenden Fortschritt" gebe.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH