Endlich erscheint Jirgls Trilogie aus dem Untergrund der letzten Jahre der Deutschen Demokratischen Republik. Jirgl, einer der bedeutendsten und unverwechselbarsten Romanciers unserer Zeit, schuf hier ein subversives Meisterwerk aus finsterer Zeit, das seinem Ruf als Meister der sprachmächtige Prosa voll gerecht wird.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.06.2002Super-Gau auf Hiddensee
Starrsinn kann eine Tugend sein und durch Intensität zum Sieg geführt werden: Endlich erscheint das DDR-Werk von Reinhard Jirgl
Es gibt Autoren – zu ihnen zählen Heiner Müller und Wolf Biermann –, für die hat die Existenz zweier deutscher Staaten, Gesellschaften und Literaturen bedeutet, dass sie ihre Wasserkünste, statt in einem, gleich in zwei Becken springen ließen, so dass ihr Werk sich gewissermaßen verdoppelte. Für andere Schriftsteller jedoch war das Neben- und Nacheinander von DDR und BRD schlicht der Weg vom Regen in die Traufe; und gewiss für niemandem in höherem Grad als für Reinhard Jirgl.
Im Zeichen des Hanfseils
Man kann Jirgls mächtige „Genealogie des Tötens”, die jetzt erschienen ist, nicht besprechen, ohne von den Bedingungen zu reden, unter denen ihr das Erscheinen siebzehn Jahre lang verwehrt geblieben war. Entstanden ist sie im Regen. Der Aufbau-Verlag lehnte ein ers-tes Skript 1985 mit der Begründung ab, es walte darin eine „nichtmarxistische Geschichtsauffassung” vor. Als sich daraufhin Heiner Müller für Jirgl verwandte, fand man die salomonische Auskunft: „Zunächt warten wir die Reaktion auf das erste Buch ab, bevor wir uns mit den neuen Manuskripten befassen.” Da man aber geruhte, das erste Buch nicht zu publizieren, so entfiel leider auch die Voraussetzung für weitere Befassung. In solch abgründiger Schläue nistet mehr totalitäre Bosheit als in der blanken Gewalt; man muss die Bürokratie tödlich hassen dafür. Jirgl widerstand der Versuchung, er blieb stark und begnügte sich damit, auch hier die typische DDR- Selbstblockade zu diagnostizieren. „Warum, höre ich in den letzten Jahren des öfteren nach Lesungen in der ,alten‘ Bundesrepublik aus dem Publikum die Frage, haben Sie nicht einfach im Westen veröffentlicht?” An dieser Frage musste Jirgl vor allem das „einfach” kränken. Wenn er kein Brot hat, warum isst er nicht einfach Kuchen?
Die Traufe ließ lange auf sich warten. Als sie schließlich doch kam, tat sie dies in Gestalt des Luchterhand-Verlags; der brachte 1991 zwar ein einzelnes, fast unbeachtet bleibendes Buch von Jirgl heraus, doch ansonsten beschied ihn dessen Chefin: „,Die meisten Schriftsteller aus der DDR, die wir unter Vertrag haben‘, erklärte mir die Dame am Telefon, ,sind in den letzten Jahren depressiv geworden und haben mit Schreiben aufgehört. Sie haben nicht aufgehört, und das ist jetzt Ihr Problem!‘” Jirgl setzt eingeklammert hinzu: „(Ich verkniff mir die Frage, ob meine Bitte um Vorschuss zum Erwerb eines festen Hanfseils das Zeichen für eingeforderte Depressivität und daraufhin, posthum, die Veröffentlichung meiner Werke möglich sei?)” Die DDR-Literatur war inzwischen, wie der Branchenausdruck lautet, „abgefrühstückt”.
Jirgl hat sein Problem doch noch lösen können und zählt seit einigen Jahren zu den gedruckten und bekannten Autoren. Auch die „Genealogie des Tötens” ist jetzt bei Hanser herausgekommen. Ein ästhetisches Ereignis ist es nicht geworden. Es liegt in der Hand wie eine akademische Qualifikationsschrift der frühen Achtziger, als schon die elektrische Schreibmaschine, aber noch nicht der Computer Standard war, im DIN-A4-Format und trotz eines Umfangs von mehr als achthundert Seiten lediglich broschiert. Das sind in diesem Fall keine Äußerlichkeiten: Unfroh wirkt es, als könnte die Lektüre nimmermehr Vergnügen bereiten, und es stellt sich gerade jener Eindruck ein, den Jirgl hatte vermeiden wollen: dass es sich um eine „Altlast” und zudem um eine „schwierige” handle. In einer „einmaligen numerierten und signierten Auflage von dreihundert Exemplaren” ist es publiziert (mein Exemplar trägt die Nummer 153). Da dieses Buch überhaupt möglich war – war es nicht schöner möglich, als Buch in einem emphatischen Sinn?
Eine „Trilogie” nennt der Autor seine Werkssumme aus dem letzten Jahrzehnt der DDR, doch sollte man die Dreizahl nicht allzu genau nehmen; Teil 1 und Teil 2 sind ihrerseits zusammengesetzt. Prosa wechselt mit Drama, doch weist die dramatische Form so viele prosaische Inklusen auf, dass man zweifeln muss, wie sehr Jirgl wirklich an die Bühne gedacht hat. Großes Vertrauen zu ihr hat er jedenfalls nicht: In ausführlichen Anhängen bindet er Regisseur und Bühnenbildner durch kleinteilige Vorschriften die Hände; das geht so weit, dass er in einem kartesischen Koordinatensystem sogar für Räuspern, Rülpsen und Schluckauf Ge-räuschsverlaufkurven anträgt.
Ein Stück Haut
Im ersten Halbteil treten auf „Klitaemnestra” und „Hermafrodit” und führen auf zeitlos beispielhafter Ebene den undurchbrechbaren Kreislauf von Sexualität und Totschlag vor. Darauf folgt „Mamma Pappa Tsombie”, ein „Libretto für Stimmen und Vocoder”, das ganz die nämliche tödlich-geile Tristesse für die Ostberliner Kleinfamilie des Jahres 1985 registriert; alles endet in einem Blutbad, das die zehnjährige Tochter mit einem Nippesdolch anrichtet, der eigentlich nur dem Wandschmuck dient. Das erzählende Mittelstück „MER – Insel der Ord-nung” spielt in einem Urlaubssommer auf Hiddensee; irgendein Super-Gau ist eingetreten, die Insel verwandelt sich schrittweise in ein Lager. Drei Männer, ein Mechaniker, ein Chirurg und ein Physiker, die alle „Ich” sagen und damit die Erfassung der Perspektive manchmal ziemlich erschweren, buhlen um die Gunst eines phantasmahaften jungen Mädchens. Von ihr bleibt zum Schluss nicht mehr übrig als ein Stück Haut mit typischem Muttermal, das einer der drei zu seinem Entsetzen aus der miserablen Lagersuppe zieht.
Teil 3, der klaustrophobischste, „Kaffer. Nachrichten aus dem zerstörten Leben”, kreist um einen derangierten älteren Mann in Berlin, unter psychiatrischer Beobachtung stehend, der sein Zimmer nicht mehr verlässt und endlose Monologe führt. Diese beginnen mit einem erfrischend zungenfertigen Zynismus: „Muss ich explicirn, dass Kleinkinder & hausmusizierende Damen ich vorm Tod nich vertragen kann? Meine Sehnsucht dem Land der sterilen Fraun &, sicher=sicher, der impotenten Männer. Meine Stimme der Partei, die das Kinder- kriegen mit Todesstrafe od:, wirksamer weil nich so roh-Manntisch, mit Steuern belegt, dagegen der Preis fürn Woll-Wo 1 Trinkgeld ist : Wer nicht zahlen kann & trotzdem wirft: siehe oben.” Allmählich jedoch verfällt er in den grauenhaften Stumpfsinn des eigentlichen Wahns. Hier, auf den letzten hundertfünfzig Seiten, verwandelt sich die Lektüre in eine Qual, man muss sich zwingen, auch wirklich jede Zeile mit dem Blick zu berühren. So soll man nicht lesen, gewiss; ich habe es trotzdem getan und könnte mir kaum vorstellen, dass es irgendeinem Leser anders ergeht.
Jirgls Gewährsleute sind nicht schwer auszumachen: von Heiner Müller entlehnt er den freien und grausigen Umgang mit antiken Stoffen, Gottfried Benn steuert die rauschhaften Kaskaden aus Hauptwörtern sowie die Schnoddrigkeit des Venerologen bei, von Arno Schmidt stammt das animierte Missvergnügen samt der eigenwilligen, zwanghaft sexualisierenden Rechtschreibung. Jirgl scheint es darauf anzulegen, sie zu überbieten, wenigstens in der Länge; so beharrlich unterschiebt er der unschuldigen Silbe „fall” den Phallus, in Wörtern wie „jedenphalls”, „phallweise”, dass man schließlich nicht mehr an einen Auswuchs des Begehrens glaubt, sondern an Rigor mortis.
Dennoch täte man Jirgl unrecht, wollte man ihn als Epigonen einsortieren und damit für erledigt erklären. Gerade die Beharrlichkeit verleiht dem Buch sein Unverwechselbares. Dass es mit dem Menschen, einzeln und als Spezies genommen, nicht zum besten steht und sich möglicherweise (Jirgl schreibt „weichlichermöse”) auch nie bessern wird, das stellt eine These dar, die nicht durch ihre Originalität, sondern nur durch die Intensität ihres Vortrags zum Sieg geführt werden kann. Die inopportune, rücksichtslose Freiheit, von der er gesprochen hat, gestaltet sich in der praktischen Umsetzung als ein unerbittlicher Starrsinn, der den Rang eines Stilprinzips, ja einer literarischen Qualität erlangt. Jirgl ist nicht gefeit gegen den erotischen Kitsch, nicht gegen den Missgriff im hohen Ton, am wenigsten gegen ermüdende Überdehnung seines Texts. Er will zu viel auf einmal, nämlich die Welt insgesamt als negativ Ganzes gedeutet wissen. Aber er bleibt sich dabei auf bewundernswerte Weise treu. Aufs vorteilhafteste sticht er vom Typus des westdeutschen Jungschriftstellers ab, den ein verfrühter Erfolg wie ein Genickschuss getroffen und untauglich zum Prinzipiellen gemacht hat.
Glücks-Pornographie
„Ich kann mich nicht darauf verstehn”, schreibt der Autor in seinem Nachwort, „in der menschlichen Lebens-Erfahrung die des Todes auszublenden; erst das eine im andern setzt den unverkürzten Wert am Leben und dessen Zukunft. Indes vom Geschrei einer Zukunftsverheißung der Staatssozialisten zur DDR-Zeit bis zum parfümierten Geschwätz der Glücks- Pornographen heute verläuft ein und dieselbe Strecke; jene Isophrene, als Linie gleicher Unverschämtheit, hat von jeher die machtvollen Zeitgeister in Ost und West vereinigt, hierin war Deutschland niemals geteilt.” Es gibt niemanden, der diese wahren Worte heute so überzeugend aussprechen könnte wie Reinhard Jirgl.
BURKHARD MÜLLER
REINHARD JIRGL: Genealogie des Tötens. Trilogie. Typoskript in einer auf 300 Exemplare limitierten und signierten Ausgabe. Carl Hanser Verlag, München 2002. 835 Seiten, 50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Starrsinn kann eine Tugend sein und durch Intensität zum Sieg geführt werden: Endlich erscheint das DDR-Werk von Reinhard Jirgl
Es gibt Autoren – zu ihnen zählen Heiner Müller und Wolf Biermann –, für die hat die Existenz zweier deutscher Staaten, Gesellschaften und Literaturen bedeutet, dass sie ihre Wasserkünste, statt in einem, gleich in zwei Becken springen ließen, so dass ihr Werk sich gewissermaßen verdoppelte. Für andere Schriftsteller jedoch war das Neben- und Nacheinander von DDR und BRD schlicht der Weg vom Regen in die Traufe; und gewiss für niemandem in höherem Grad als für Reinhard Jirgl.
Im Zeichen des Hanfseils
Man kann Jirgls mächtige „Genealogie des Tötens”, die jetzt erschienen ist, nicht besprechen, ohne von den Bedingungen zu reden, unter denen ihr das Erscheinen siebzehn Jahre lang verwehrt geblieben war. Entstanden ist sie im Regen. Der Aufbau-Verlag lehnte ein ers-tes Skript 1985 mit der Begründung ab, es walte darin eine „nichtmarxistische Geschichtsauffassung” vor. Als sich daraufhin Heiner Müller für Jirgl verwandte, fand man die salomonische Auskunft: „Zunächt warten wir die Reaktion auf das erste Buch ab, bevor wir uns mit den neuen Manuskripten befassen.” Da man aber geruhte, das erste Buch nicht zu publizieren, so entfiel leider auch die Voraussetzung für weitere Befassung. In solch abgründiger Schläue nistet mehr totalitäre Bosheit als in der blanken Gewalt; man muss die Bürokratie tödlich hassen dafür. Jirgl widerstand der Versuchung, er blieb stark und begnügte sich damit, auch hier die typische DDR- Selbstblockade zu diagnostizieren. „Warum, höre ich in den letzten Jahren des öfteren nach Lesungen in der ,alten‘ Bundesrepublik aus dem Publikum die Frage, haben Sie nicht einfach im Westen veröffentlicht?” An dieser Frage musste Jirgl vor allem das „einfach” kränken. Wenn er kein Brot hat, warum isst er nicht einfach Kuchen?
Die Traufe ließ lange auf sich warten. Als sie schließlich doch kam, tat sie dies in Gestalt des Luchterhand-Verlags; der brachte 1991 zwar ein einzelnes, fast unbeachtet bleibendes Buch von Jirgl heraus, doch ansonsten beschied ihn dessen Chefin: „,Die meisten Schriftsteller aus der DDR, die wir unter Vertrag haben‘, erklärte mir die Dame am Telefon, ,sind in den letzten Jahren depressiv geworden und haben mit Schreiben aufgehört. Sie haben nicht aufgehört, und das ist jetzt Ihr Problem!‘” Jirgl setzt eingeklammert hinzu: „(Ich verkniff mir die Frage, ob meine Bitte um Vorschuss zum Erwerb eines festen Hanfseils das Zeichen für eingeforderte Depressivität und daraufhin, posthum, die Veröffentlichung meiner Werke möglich sei?)” Die DDR-Literatur war inzwischen, wie der Branchenausdruck lautet, „abgefrühstückt”.
Jirgl hat sein Problem doch noch lösen können und zählt seit einigen Jahren zu den gedruckten und bekannten Autoren. Auch die „Genealogie des Tötens” ist jetzt bei Hanser herausgekommen. Ein ästhetisches Ereignis ist es nicht geworden. Es liegt in der Hand wie eine akademische Qualifikationsschrift der frühen Achtziger, als schon die elektrische Schreibmaschine, aber noch nicht der Computer Standard war, im DIN-A4-Format und trotz eines Umfangs von mehr als achthundert Seiten lediglich broschiert. Das sind in diesem Fall keine Äußerlichkeiten: Unfroh wirkt es, als könnte die Lektüre nimmermehr Vergnügen bereiten, und es stellt sich gerade jener Eindruck ein, den Jirgl hatte vermeiden wollen: dass es sich um eine „Altlast” und zudem um eine „schwierige” handle. In einer „einmaligen numerierten und signierten Auflage von dreihundert Exemplaren” ist es publiziert (mein Exemplar trägt die Nummer 153). Da dieses Buch überhaupt möglich war – war es nicht schöner möglich, als Buch in einem emphatischen Sinn?
Eine „Trilogie” nennt der Autor seine Werkssumme aus dem letzten Jahrzehnt der DDR, doch sollte man die Dreizahl nicht allzu genau nehmen; Teil 1 und Teil 2 sind ihrerseits zusammengesetzt. Prosa wechselt mit Drama, doch weist die dramatische Form so viele prosaische Inklusen auf, dass man zweifeln muss, wie sehr Jirgl wirklich an die Bühne gedacht hat. Großes Vertrauen zu ihr hat er jedenfalls nicht: In ausführlichen Anhängen bindet er Regisseur und Bühnenbildner durch kleinteilige Vorschriften die Hände; das geht so weit, dass er in einem kartesischen Koordinatensystem sogar für Räuspern, Rülpsen und Schluckauf Ge-räuschsverlaufkurven anträgt.
Ein Stück Haut
Im ersten Halbteil treten auf „Klitaemnestra” und „Hermafrodit” und führen auf zeitlos beispielhafter Ebene den undurchbrechbaren Kreislauf von Sexualität und Totschlag vor. Darauf folgt „Mamma Pappa Tsombie”, ein „Libretto für Stimmen und Vocoder”, das ganz die nämliche tödlich-geile Tristesse für die Ostberliner Kleinfamilie des Jahres 1985 registriert; alles endet in einem Blutbad, das die zehnjährige Tochter mit einem Nippesdolch anrichtet, der eigentlich nur dem Wandschmuck dient. Das erzählende Mittelstück „MER – Insel der Ord-nung” spielt in einem Urlaubssommer auf Hiddensee; irgendein Super-Gau ist eingetreten, die Insel verwandelt sich schrittweise in ein Lager. Drei Männer, ein Mechaniker, ein Chirurg und ein Physiker, die alle „Ich” sagen und damit die Erfassung der Perspektive manchmal ziemlich erschweren, buhlen um die Gunst eines phantasmahaften jungen Mädchens. Von ihr bleibt zum Schluss nicht mehr übrig als ein Stück Haut mit typischem Muttermal, das einer der drei zu seinem Entsetzen aus der miserablen Lagersuppe zieht.
Teil 3, der klaustrophobischste, „Kaffer. Nachrichten aus dem zerstörten Leben”, kreist um einen derangierten älteren Mann in Berlin, unter psychiatrischer Beobachtung stehend, der sein Zimmer nicht mehr verlässt und endlose Monologe führt. Diese beginnen mit einem erfrischend zungenfertigen Zynismus: „Muss ich explicirn, dass Kleinkinder & hausmusizierende Damen ich vorm Tod nich vertragen kann? Meine Sehnsucht dem Land der sterilen Fraun &, sicher=sicher, der impotenten Männer. Meine Stimme der Partei, die das Kinder- kriegen mit Todesstrafe od:, wirksamer weil nich so roh-Manntisch, mit Steuern belegt, dagegen der Preis fürn Woll-Wo 1 Trinkgeld ist : Wer nicht zahlen kann & trotzdem wirft: siehe oben.” Allmählich jedoch verfällt er in den grauenhaften Stumpfsinn des eigentlichen Wahns. Hier, auf den letzten hundertfünfzig Seiten, verwandelt sich die Lektüre in eine Qual, man muss sich zwingen, auch wirklich jede Zeile mit dem Blick zu berühren. So soll man nicht lesen, gewiss; ich habe es trotzdem getan und könnte mir kaum vorstellen, dass es irgendeinem Leser anders ergeht.
Jirgls Gewährsleute sind nicht schwer auszumachen: von Heiner Müller entlehnt er den freien und grausigen Umgang mit antiken Stoffen, Gottfried Benn steuert die rauschhaften Kaskaden aus Hauptwörtern sowie die Schnoddrigkeit des Venerologen bei, von Arno Schmidt stammt das animierte Missvergnügen samt der eigenwilligen, zwanghaft sexualisierenden Rechtschreibung. Jirgl scheint es darauf anzulegen, sie zu überbieten, wenigstens in der Länge; so beharrlich unterschiebt er der unschuldigen Silbe „fall” den Phallus, in Wörtern wie „jedenphalls”, „phallweise”, dass man schließlich nicht mehr an einen Auswuchs des Begehrens glaubt, sondern an Rigor mortis.
Dennoch täte man Jirgl unrecht, wollte man ihn als Epigonen einsortieren und damit für erledigt erklären. Gerade die Beharrlichkeit verleiht dem Buch sein Unverwechselbares. Dass es mit dem Menschen, einzeln und als Spezies genommen, nicht zum besten steht und sich möglicherweise (Jirgl schreibt „weichlichermöse”) auch nie bessern wird, das stellt eine These dar, die nicht durch ihre Originalität, sondern nur durch die Intensität ihres Vortrags zum Sieg geführt werden kann. Die inopportune, rücksichtslose Freiheit, von der er gesprochen hat, gestaltet sich in der praktischen Umsetzung als ein unerbittlicher Starrsinn, der den Rang eines Stilprinzips, ja einer literarischen Qualität erlangt. Jirgl ist nicht gefeit gegen den erotischen Kitsch, nicht gegen den Missgriff im hohen Ton, am wenigsten gegen ermüdende Überdehnung seines Texts. Er will zu viel auf einmal, nämlich die Welt insgesamt als negativ Ganzes gedeutet wissen. Aber er bleibt sich dabei auf bewundernswerte Weise treu. Aufs vorteilhafteste sticht er vom Typus des westdeutschen Jungschriftstellers ab, den ein verfrühter Erfolg wie ein Genickschuss getroffen und untauglich zum Prinzipiellen gemacht hat.
Glücks-Pornographie
„Ich kann mich nicht darauf verstehn”, schreibt der Autor in seinem Nachwort, „in der menschlichen Lebens-Erfahrung die des Todes auszublenden; erst das eine im andern setzt den unverkürzten Wert am Leben und dessen Zukunft. Indes vom Geschrei einer Zukunftsverheißung der Staatssozialisten zur DDR-Zeit bis zum parfümierten Geschwätz der Glücks- Pornographen heute verläuft ein und dieselbe Strecke; jene Isophrene, als Linie gleicher Unverschämtheit, hat von jeher die machtvollen Zeitgeister in Ost und West vereinigt, hierin war Deutschland niemals geteilt.” Es gibt niemanden, der diese wahren Worte heute so überzeugend aussprechen könnte wie Reinhard Jirgl.
BURKHARD MÜLLER
REINHARD JIRGL: Genealogie des Tötens. Trilogie. Typoskript in einer auf 300 Exemplare limitierten und signierten Ausgabe. Carl Hanser Verlag, München 2002. 835 Seiten, 50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sie ist noch da, eine "anspruchsvolle, experimentelle" und "kompromisslose" Literatur, ist Martin Luchsinger erleichert. Die Werke des gelernten Elektroingenieurs Reinhard Jirgl zählt der Rezensent "ohne Zweifel" zu dieser Kategorie. Seine Trilogie "Genealogie des Tötens", die Jirgl in den achtziger Jahren in der DDR verfasst hat, ist bisher unveröffentlicht geblieben. Der Rezensent lobt daher den Hanser Verlag, dass er dieses "voluminöse Konvolut" nun verlegt, allerdings, wundert sich Luchsinger, in einer auf 300 Exemplare limitierten und "unhandlichen" Auflage - als ob sich der Verlag nicht sicher sei, ob eine Veröffentlichung "richtig" sei, mutmaßt der Rezensent. Sowohl Inhalt, als auch Form und Stil dieser Trilogie seien für den Leser etwas gewöhnungsbedürftig, warnt Luchsinger. Denn Jirgls Werk sei "vieslschichtig" und "vielgestaltig" und erinnere manchmal an Arno Schmidt, findet der Rezensent, auch wenn der Autor eine Nähe zu Schmidt immer von sich gewiesen habe. Trotzdem aber lohne sich der Aufwand, sich auf die abseitigen Pfade des Autors zu begeben und sich auf seine "Suggestivität" einzulassen. Der Inhalt, folgt man den Ausführugen des Rezensenten, verlangt dem Leser allerdings starke Nerven ab. In Teil eins wird vergewaltigt und ein Elternmord begangen, in Teil zwei verwandelt die DDR-Regierung Hiddensee in eine Art Konzentrationslager und in Teil drei schließlich vegetiert ein "verstörter alter Mann" in einer leeren Wohnung in Ostberlin vor sich hin und artikuliert seine Unzufriedenheit über die Verhältnisse in obszönen Schreianfällen, berichtet Luchsinger
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Jirgl ist ein grandioser ästhetischer Artist, der immer über inhaltlichen Abgründen balanciert." Ulf Heise, Märkische Allgemeine, 19./20.5.02 "Es gibt sie noch, die anspruchsvolle, experimentelle, kompromisslose Literatur, und Reinhard Jirgls Werk gehört ohne Zweifel zu ihren bedeutendsten Vertretern." Martin Luchsinger, Frankfurter Rundschau, 19.09.02