Michael Wildt korrigiert die bisherige Auffassung, dass das Reichssicherheitshauptamt ein reines Verwaltungsbüro und seine Führungselite bloße »Schreibtischtäter« waren. Denn er weist ihre aktive Rolle in der Vernichtungspolitik des Reiches nach.
Am 27. September 1939 entstand unter der Leitung von Reinhard Heydrich aus Geheimer Staatspolizei, Kriminalpolizei und Sicherheitsdienst der SS das Reichssicherheitshauptamt. Dessen Führungskräfte sahen ihre Aufgabe in der »Reinhaltung des deutschen Volkskörpers«. Sie sollten in dem von Hitler beschworenen »Schicksalskampf« die Gegner des NS-Regimes - in erster Linie die Juden als Verkörperung der »Gegenrasse«- vernichten.
Heydrich rekrutierte seine »kämpfende Verwaltung« aus politisch engagierten jungen Männern, die ihre sichere Existenz als Ärzte, Juristen oder Studienräte aufgaben, um in einer Institution mitzuwirken, die von jeder Rechtsgrundlage entbunden war. Sie lernten, zivilisatorische Hemmschwellen zu überwinden und den Massenmord als »Problemlösung« zu konzipieren und zu exekutieren.
Am 27. September 1939 entstand unter der Leitung von Reinhard Heydrich aus Geheimer Staatspolizei, Kriminalpolizei und Sicherheitsdienst der SS das Reichssicherheitshauptamt. Dessen Führungskräfte sahen ihre Aufgabe in der »Reinhaltung des deutschen Volkskörpers«. Sie sollten in dem von Hitler beschworenen »Schicksalskampf« die Gegner des NS-Regimes - in erster Linie die Juden als Verkörperung der »Gegenrasse«- vernichten.
Heydrich rekrutierte seine »kämpfende Verwaltung« aus politisch engagierten jungen Männern, die ihre sichere Existenz als Ärzte, Juristen oder Studienräte aufgaben, um in einer Institution mitzuwirken, die von jeder Rechtsgrundlage entbunden war. Sie lernten, zivilisatorische Hemmschwellen zu überwinden und den Massenmord als »Problemlösung« zu konzipieren und zu exekutieren.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.01.2004Volksgemeinschaft und „kämpfende Verwaltung”
Michael Wildts eindrucksvolle Studien über das Reichssicherheitshauptamt und den Sicherheitsdienst der SS
Zu den allzu lang gepflegten Einsichten der Zeitgeschichtsschreibung gehörte die Vorstellung, dass der Nationalsozialismus im Grunde erst mit dem deutschen Überfall auf Polen zu seinem vernichtungswütigen Selbst gefunden habe. Kaum weniger lange, nämlich bis in die neunziger Jahre hinein, hat es aber auch gedauert, ehe eine intensivere Erforschung der Kriegsjahre des „Dritten Reiches” begann. Seitdem wird die vermeintlich so klare Zäsur zwischen Vorkriegs- und Kriegszeit immer blasser. Ein Argument für ihre Relativierung, das zeigt nun Michael Wildt, ist auch die Geschichte des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), dessen Gründung am 27. September 1939 stets als Paradebeispiel einer durch den Kriegsbeginn ausgelösten „Radikalisierung” verstanden wurde.
Die Arbeiten des Historikers, der seiner im letzten Jahr erschienenen großen Studie über das Führungspersonal des RSHA inzwischen noch einen Aufsatzband über den Sicherheitsdienst der SS (SD) zur Seite gestellt hat, belegen eindrucksvoll, dass „Radikalisierung” im Nationalsozialismus mitnichten nur eine Frage der äußeren Umstände war.
Wildt ist in seiner Habilitationsschrift den Lebensläufen und dem professionellen Selbstverständnis von 221 leitenden Mitarbeitern der unter der Regie von Reinhard Heydrich aus Gestapo, Kriminalpolizei und SD zusammengefügten Behörde nachgegangen, die wenig später als die Organisationszentrale des Judenmords fungierte. Dabei fiel ihm auf, dass die meisten dieser Männer dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstammten und dass es sich keineswegs – wie oft behauptet – um soziale Außenseiter und gestrandete Existenzen handelte, sondern mehrheitlich um akademisch gebildete, ehrgeizige Aufsteiger aus der unteren Mittelschicht und aus dem Bürgertum. Nicht etwa aus primitiven Schlägertypen setzte sich das Führungskorps des RSHA zusammen, sondern aus jungen Juristen, Germanisten, Historikern, Publizistikwissenschaftlern und sogar Theologen. Dieser Befund war Anlass, einer prägenden Generationserfahrung nachzuspüren; Wildt glaubt sie in der Tatsache gefunden zu haben, dass den nach 1900 Geborenen die Teilnahme am Ersten Weltkrieg verwehrt geblieben war. Aus einer Jugend, die im idealisierten Krieg den „bohrenden Stachel der verpassten Chance der Bewährung” erblickte, habe sich eine „Generation des Unbedingten” entwickelt, die mit der Vergangenheit brach und den „Blick auf das Zukünftige” lenkte. Zukunft galt diesen Kritikern der „morschen”, depressiven Bürgerwelt nicht als das Ergebnis nüchterner Abwägung und des Kompromisses, sondern als ein dezisionistisches Projekt: als „Frage des Willens und der geistigen Kraft”.
In einer gewissen Akzentverschiebung gegenüber den Arbeiten von Ulrich Herbert, der mit seiner Studie über Werner Best den Anstoß zu dieser Form von „Täterforschung” gegeben und eine „Generation der Sachlichkeit” ausgemacht hatte, hebt Michael Wildt die Energie und Leidenschaft hervor, mit der sich die Kernmannschaft des SD ihren Platz im NS-Staat eroberte: Hinter der „Maske der Sachlichkeit” verbarg sich der unbedingte Wille zur ideologischen Tat. Deren Ausführung allerdings war ebenso eine Frage der Umstände wie der Institutionen: Bei keinem der Jungen, die im RSHA Karriere machen sollten, findet Wildt zu Beginn des „Dritten Reiches” irgendwelche Anzeichen für einen „eliminatorischen” Antisemitismus, obgleich etliche von ihnen ein paar Jahre später die Mordaktionen der SS-Einsatzgruppen befehligten und einige sogar selber schossen. Diese „Radikalisierung” sei ohne die „spezifische nationalsozialistische Staatlichkeit und Herrschaftsstruktur” nicht zu erklären.
Warum sie Mörder wurden
Michael Wildt plädiert deshalb dafür, Ideologie und Institution nicht gegeneinander auszuspielen; seine Interpretation des RSHA als einer „Pionierinstitution” der „kämpfenden Verwaltung” liegt gleichsam quer zum überlebten Streit zwischen Intentionalisten und Strukturalisten – und lenkt den Blick auf das Projekt der „rassistischen Volksgemeinschaft”. Deshalb stelle sich schließlich auch die Frage, „ob die Umwandlung der Gesellschaft in jene ‚Volksgemeinschaft‘ nicht eben die Voraussetzung gewesen ist für die Beteiligung so vieler an den Massenverbrechen des Regimes”. Damit relativiert Wildt freilich auch – zu Recht – den Ausgangspunkt seiner Analyse: die Bedeutung des Faktors Generation.
Wildts gruppenbiographischer Ansatz, der mit dem Generationenkonzept nicht notwendig verbunden ist, liefert eine Fülle wichtiger Erkenntnisse. Dazu gehört zum Beispiel, dass er eine Beobachtung Hannah Arendts erhärtet, die den Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts, seines naturwissenschaftlichen Gestus zum Trotz, als ein geschichtsphilosophisches Narrativ identifizierte; Wildt kann nun zeigen, dass in der auf „Rasse” fixierten Tätergruppe des RSHA tatsächlich so gut wie keine Naturwissenschaftler vertreten waren – ihr Wissen wurde nicht gebraucht.
In dem Konstrukthaft-Dezisionistischen des Rassekonzepts, das die Akteure des RSHA es entwickelten, liegt vermutlich auch eine Erklärung dafür verborgen, dass nach dem Zerbrechen des politischen und institutionellen Rahmens im Frühjahr 1945 davon so wenig übrig blieb. Denn bekanntlich drängte es die akademischen Planer und Exekutoren des Genozids, sofern sie den Strafgerichten der Alliierten entgangen waren, weder zum intellektuellen Bekenntnis noch gar zu weiteren Taten. Vielmehr suchten sie, und auch davon berichtet Michael Wildt, die Anonymität und Ruhe eines bürgerlichen Nachlebens, das ihnen die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik vielfach bis in die sechziger Jahre hinein gewährte.
NORBERT FREI
MICHAEL WILDT: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburger Edition 2002. 964 S., 40 Euro.
MICHAEL WILDT (Hrsg.): Nachrichtendienst, politische Elite, Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS. Hamburger Edition 2003. 387 S., 25 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Michael Wildts eindrucksvolle Studien über das Reichssicherheitshauptamt und den Sicherheitsdienst der SS
Zu den allzu lang gepflegten Einsichten der Zeitgeschichtsschreibung gehörte die Vorstellung, dass der Nationalsozialismus im Grunde erst mit dem deutschen Überfall auf Polen zu seinem vernichtungswütigen Selbst gefunden habe. Kaum weniger lange, nämlich bis in die neunziger Jahre hinein, hat es aber auch gedauert, ehe eine intensivere Erforschung der Kriegsjahre des „Dritten Reiches” begann. Seitdem wird die vermeintlich so klare Zäsur zwischen Vorkriegs- und Kriegszeit immer blasser. Ein Argument für ihre Relativierung, das zeigt nun Michael Wildt, ist auch die Geschichte des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), dessen Gründung am 27. September 1939 stets als Paradebeispiel einer durch den Kriegsbeginn ausgelösten „Radikalisierung” verstanden wurde.
Die Arbeiten des Historikers, der seiner im letzten Jahr erschienenen großen Studie über das Führungspersonal des RSHA inzwischen noch einen Aufsatzband über den Sicherheitsdienst der SS (SD) zur Seite gestellt hat, belegen eindrucksvoll, dass „Radikalisierung” im Nationalsozialismus mitnichten nur eine Frage der äußeren Umstände war.
Wildt ist in seiner Habilitationsschrift den Lebensläufen und dem professionellen Selbstverständnis von 221 leitenden Mitarbeitern der unter der Regie von Reinhard Heydrich aus Gestapo, Kriminalpolizei und SD zusammengefügten Behörde nachgegangen, die wenig später als die Organisationszentrale des Judenmords fungierte. Dabei fiel ihm auf, dass die meisten dieser Männer dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstammten und dass es sich keineswegs – wie oft behauptet – um soziale Außenseiter und gestrandete Existenzen handelte, sondern mehrheitlich um akademisch gebildete, ehrgeizige Aufsteiger aus der unteren Mittelschicht und aus dem Bürgertum. Nicht etwa aus primitiven Schlägertypen setzte sich das Führungskorps des RSHA zusammen, sondern aus jungen Juristen, Germanisten, Historikern, Publizistikwissenschaftlern und sogar Theologen. Dieser Befund war Anlass, einer prägenden Generationserfahrung nachzuspüren; Wildt glaubt sie in der Tatsache gefunden zu haben, dass den nach 1900 Geborenen die Teilnahme am Ersten Weltkrieg verwehrt geblieben war. Aus einer Jugend, die im idealisierten Krieg den „bohrenden Stachel der verpassten Chance der Bewährung” erblickte, habe sich eine „Generation des Unbedingten” entwickelt, die mit der Vergangenheit brach und den „Blick auf das Zukünftige” lenkte. Zukunft galt diesen Kritikern der „morschen”, depressiven Bürgerwelt nicht als das Ergebnis nüchterner Abwägung und des Kompromisses, sondern als ein dezisionistisches Projekt: als „Frage des Willens und der geistigen Kraft”.
In einer gewissen Akzentverschiebung gegenüber den Arbeiten von Ulrich Herbert, der mit seiner Studie über Werner Best den Anstoß zu dieser Form von „Täterforschung” gegeben und eine „Generation der Sachlichkeit” ausgemacht hatte, hebt Michael Wildt die Energie und Leidenschaft hervor, mit der sich die Kernmannschaft des SD ihren Platz im NS-Staat eroberte: Hinter der „Maske der Sachlichkeit” verbarg sich der unbedingte Wille zur ideologischen Tat. Deren Ausführung allerdings war ebenso eine Frage der Umstände wie der Institutionen: Bei keinem der Jungen, die im RSHA Karriere machen sollten, findet Wildt zu Beginn des „Dritten Reiches” irgendwelche Anzeichen für einen „eliminatorischen” Antisemitismus, obgleich etliche von ihnen ein paar Jahre später die Mordaktionen der SS-Einsatzgruppen befehligten und einige sogar selber schossen. Diese „Radikalisierung” sei ohne die „spezifische nationalsozialistische Staatlichkeit und Herrschaftsstruktur” nicht zu erklären.
Warum sie Mörder wurden
Michael Wildt plädiert deshalb dafür, Ideologie und Institution nicht gegeneinander auszuspielen; seine Interpretation des RSHA als einer „Pionierinstitution” der „kämpfenden Verwaltung” liegt gleichsam quer zum überlebten Streit zwischen Intentionalisten und Strukturalisten – und lenkt den Blick auf das Projekt der „rassistischen Volksgemeinschaft”. Deshalb stelle sich schließlich auch die Frage, „ob die Umwandlung der Gesellschaft in jene ‚Volksgemeinschaft‘ nicht eben die Voraussetzung gewesen ist für die Beteiligung so vieler an den Massenverbrechen des Regimes”. Damit relativiert Wildt freilich auch – zu Recht – den Ausgangspunkt seiner Analyse: die Bedeutung des Faktors Generation.
Wildts gruppenbiographischer Ansatz, der mit dem Generationenkonzept nicht notwendig verbunden ist, liefert eine Fülle wichtiger Erkenntnisse. Dazu gehört zum Beispiel, dass er eine Beobachtung Hannah Arendts erhärtet, die den Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts, seines naturwissenschaftlichen Gestus zum Trotz, als ein geschichtsphilosophisches Narrativ identifizierte; Wildt kann nun zeigen, dass in der auf „Rasse” fixierten Tätergruppe des RSHA tatsächlich so gut wie keine Naturwissenschaftler vertreten waren – ihr Wissen wurde nicht gebraucht.
In dem Konstrukthaft-Dezisionistischen des Rassekonzepts, das die Akteure des RSHA es entwickelten, liegt vermutlich auch eine Erklärung dafür verborgen, dass nach dem Zerbrechen des politischen und institutionellen Rahmens im Frühjahr 1945 davon so wenig übrig blieb. Denn bekanntlich drängte es die akademischen Planer und Exekutoren des Genozids, sofern sie den Strafgerichten der Alliierten entgangen waren, weder zum intellektuellen Bekenntnis noch gar zu weiteren Taten. Vielmehr suchten sie, und auch davon berichtet Michael Wildt, die Anonymität und Ruhe eines bürgerlichen Nachlebens, das ihnen die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik vielfach bis in die sechziger Jahre hinein gewährte.
NORBERT FREI
MICHAEL WILDT: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburger Edition 2002. 964 S., 40 Euro.
MICHAEL WILDT (Hrsg.): Nachrichtendienst, politische Elite, Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS. Hamburger Edition 2003. 387 S., 25 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2003Ideologische Leidenschaft
Das Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes
Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburger Edition, Hamburg 2002. 964 Seiten, 40,- [Euro].
Sommer 1943, ein deutsches Arbeitslager in der Ukraine: Den zum Appell versammelten Häftlingen wird eröffnet, daß einige von ihnen als Vergeltung für einen gelungenen Fluchtversuch erschossen werden sollen. Als daraufhin Entsetzen die Menge ergreift, richtet der verantwortliche SS-Offizier seine Pistole auf die wehrlosen Opfer und schießt ohne sichtbare Regung das ganze Magazin leer. Dieser schreckliche Handlanger des Rassenwahns war Erich Ehrlinger, Jahrgang 1910, einer der 221 Führungskräfte des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), die Michael Wildt in seiner gruppenbiographischen Studie untersucht. Er und seine Kameraden organisierten den Genozid nicht nur vom Berliner Schreibtisch aus, sondern führten in der Praxis der Weltanschauungskriege in Polen und der Sowjetunion die Einheiten der Sicherheitspolizei und des SD persönlich zu hunderttausendfachem Mord.
Wer waren diese Täter? Waren sie sozial deklassierte "Teufel in Menschengestalt"? Oder beflissene Bürokraten und ideologiefreie Technokraten? Oder gar - nach den Thesen Goldhagens - "ganz normale Deutsche" mit einem "eliminatorischen Antisemitismus"? Die Analyse Wildts steht quer zu den gängigen Tätertypologien. Anstatt sich auf ein dominantes Verbrecherbild festzulegen, zeigt er die Zusammenhänge von Akteuren, Institutionen und Aktionen. Die Mehrheit des RSHA-Führungskorps stammte aus der Jugendgeneration des Ersten Weltkriegs und schaffte den Aufstieg aus der bürgerlichen unteren Mittelschicht in die akademische Elite der Juristen, Geisteswissenschaftler und Ärzte. Die führenden SD-Angehörigen und Polizisten waren durchschnittlich deutlich jünger und akademisch gebildeter als die anderen höheren Funktionäre, Beamten und Offiziere im "Dritten Reich". Sehr viele waren vor Hitlers Machtübernahme studentische Aktivisten, die dem jugendbündischen Zeitgeist anhingen und die liberale Staatsauffassung ablehnten. Diese jungen Radikalen berauschten sich an Begriffen wie "Führerschaft, Tat, Idee" und waren bereit, den "politischen Willen" ohne die rechtlichen und moralischen Fesseln bürgerlicher Normen kompromißlos durchzusetzen.
Diese "Generation des Unbedingten" drängte nach politischer Aktion. Jedoch wäre ihre Radikalität folgenlos geblieben, hätte das nationalsozialistische Regime diesen Männern nicht einen Aufstiegs- und Machthorizont geboten. Die neuen Ordnungsprinzipien "Volk" und "Rasse" erforderten eine neue politische Polizei, die den weltanschaulichen Kampf bedingungslos durchfocht. Mit dem Reichssicherheitshauptamt wurde im September 1939 eine zentrale und radikal neue Institution des Maßnahmenstaats geschaffen, die sich um das traditionelle Recht nicht weiter zu scheren brauchte.
Die jungen Gruppenleiter und Referenten dieser "kämpfenden Verwaltung" verschrieben sich aus Überzeugung den verbrecherischen Zielen und Taten des Amts. Ihrem Selbstverständnis und Auftrag entsprach es, daß sie nicht nur als Schreibtischtäter eingesetzt wurden, sondern die mörderische Politik, die sie entwarfen, auch vor Ort exekutierten. Erst in Polen 1939 und stärker noch in der Sowjetunion 1941 radikalisierte sich das Vorgehen der Sicherheitspolizei und des SD. Die Eskalation von der Verfolgung über die Vertreibung zur Vernichtung der Juden nahm ihren schrecklichen Lauf.
Wildt erklärt diese Radikalisierung mit dem Amalgam aus der konzeptionellen Radikalität einer jungen Generation, der entgrenzten Struktur einer Institution neuen Typs sowie der brutalen Machtpraxis auf den östlichen Kriegsschauplätzen. Die Analyse ist für die Tätergruppe der RSHA-Führer sehr schlüssig und löst außerdem den scheinbaren Gegensatz zwischen intentionalistischen und funktionalistischen Deutungen der nationalsozialistischen Verbrechen überzeugend auf. Die methodisch und analytisch gleichermaßen gelungene Gruppenbiographie dieser verbrecherischen Akademiker, Intellektuellen und Wissenschaftler verdeutlicht, welche ideologische Leidenschaft sich hinter der Maske der funktionalen Sachlichkeit verbarg.
Jedoch müßte mit Blick auf andere Funktionseliten und das gesamte nationalsozialistische Terrorsystem gefragt werden, ob das Zusammenspiel der drei radikalisierenden Faktoren Generation, Institution und Krieg von Wildt nicht teilweise überbewertet wird. Andere Bereiche zeigen, daß es nicht auf jeden Fall der "Generation des Unbedingten" und neuer Institutionen bedurfte, um den rassenideologischen Terror zu verwalten und umzusetzen. Die Höheren SS- und Polizeiführer etwa kamen aus einer anderen Generation mit anderen Prägungen. Ein wesentliches Charakteristikum der Verbrechen war außerdem der maßgebliche Anteil traditioneller Institutionen und konservativer Eliten. Und schließlich ist zu bedenken, daß der Normenstaat nicht erst durch das Reichssicherheitshauptamt und seine Akteure aufgelöst wurde, sondern durch die Ideologie und Diktatur eines Mannes, der ebenfalls einer älteren Generation entstammte: Adolf Hitler. Diese politischen und ideologischen Strukturen hätten in Wildts fundamentaler Studie vielleicht mehr Beachtung verdient.
JOHANNES HÜRTER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes
Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburger Edition, Hamburg 2002. 964 Seiten, 40,- [Euro].
Sommer 1943, ein deutsches Arbeitslager in der Ukraine: Den zum Appell versammelten Häftlingen wird eröffnet, daß einige von ihnen als Vergeltung für einen gelungenen Fluchtversuch erschossen werden sollen. Als daraufhin Entsetzen die Menge ergreift, richtet der verantwortliche SS-Offizier seine Pistole auf die wehrlosen Opfer und schießt ohne sichtbare Regung das ganze Magazin leer. Dieser schreckliche Handlanger des Rassenwahns war Erich Ehrlinger, Jahrgang 1910, einer der 221 Führungskräfte des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), die Michael Wildt in seiner gruppenbiographischen Studie untersucht. Er und seine Kameraden organisierten den Genozid nicht nur vom Berliner Schreibtisch aus, sondern führten in der Praxis der Weltanschauungskriege in Polen und der Sowjetunion die Einheiten der Sicherheitspolizei und des SD persönlich zu hunderttausendfachem Mord.
Wer waren diese Täter? Waren sie sozial deklassierte "Teufel in Menschengestalt"? Oder beflissene Bürokraten und ideologiefreie Technokraten? Oder gar - nach den Thesen Goldhagens - "ganz normale Deutsche" mit einem "eliminatorischen Antisemitismus"? Die Analyse Wildts steht quer zu den gängigen Tätertypologien. Anstatt sich auf ein dominantes Verbrecherbild festzulegen, zeigt er die Zusammenhänge von Akteuren, Institutionen und Aktionen. Die Mehrheit des RSHA-Führungskorps stammte aus der Jugendgeneration des Ersten Weltkriegs und schaffte den Aufstieg aus der bürgerlichen unteren Mittelschicht in die akademische Elite der Juristen, Geisteswissenschaftler und Ärzte. Die führenden SD-Angehörigen und Polizisten waren durchschnittlich deutlich jünger und akademisch gebildeter als die anderen höheren Funktionäre, Beamten und Offiziere im "Dritten Reich". Sehr viele waren vor Hitlers Machtübernahme studentische Aktivisten, die dem jugendbündischen Zeitgeist anhingen und die liberale Staatsauffassung ablehnten. Diese jungen Radikalen berauschten sich an Begriffen wie "Führerschaft, Tat, Idee" und waren bereit, den "politischen Willen" ohne die rechtlichen und moralischen Fesseln bürgerlicher Normen kompromißlos durchzusetzen.
Diese "Generation des Unbedingten" drängte nach politischer Aktion. Jedoch wäre ihre Radikalität folgenlos geblieben, hätte das nationalsozialistische Regime diesen Männern nicht einen Aufstiegs- und Machthorizont geboten. Die neuen Ordnungsprinzipien "Volk" und "Rasse" erforderten eine neue politische Polizei, die den weltanschaulichen Kampf bedingungslos durchfocht. Mit dem Reichssicherheitshauptamt wurde im September 1939 eine zentrale und radikal neue Institution des Maßnahmenstaats geschaffen, die sich um das traditionelle Recht nicht weiter zu scheren brauchte.
Die jungen Gruppenleiter und Referenten dieser "kämpfenden Verwaltung" verschrieben sich aus Überzeugung den verbrecherischen Zielen und Taten des Amts. Ihrem Selbstverständnis und Auftrag entsprach es, daß sie nicht nur als Schreibtischtäter eingesetzt wurden, sondern die mörderische Politik, die sie entwarfen, auch vor Ort exekutierten. Erst in Polen 1939 und stärker noch in der Sowjetunion 1941 radikalisierte sich das Vorgehen der Sicherheitspolizei und des SD. Die Eskalation von der Verfolgung über die Vertreibung zur Vernichtung der Juden nahm ihren schrecklichen Lauf.
Wildt erklärt diese Radikalisierung mit dem Amalgam aus der konzeptionellen Radikalität einer jungen Generation, der entgrenzten Struktur einer Institution neuen Typs sowie der brutalen Machtpraxis auf den östlichen Kriegsschauplätzen. Die Analyse ist für die Tätergruppe der RSHA-Führer sehr schlüssig und löst außerdem den scheinbaren Gegensatz zwischen intentionalistischen und funktionalistischen Deutungen der nationalsozialistischen Verbrechen überzeugend auf. Die methodisch und analytisch gleichermaßen gelungene Gruppenbiographie dieser verbrecherischen Akademiker, Intellektuellen und Wissenschaftler verdeutlicht, welche ideologische Leidenschaft sich hinter der Maske der funktionalen Sachlichkeit verbarg.
Jedoch müßte mit Blick auf andere Funktionseliten und das gesamte nationalsozialistische Terrorsystem gefragt werden, ob das Zusammenspiel der drei radikalisierenden Faktoren Generation, Institution und Krieg von Wildt nicht teilweise überbewertet wird. Andere Bereiche zeigen, daß es nicht auf jeden Fall der "Generation des Unbedingten" und neuer Institutionen bedurfte, um den rassenideologischen Terror zu verwalten und umzusetzen. Die Höheren SS- und Polizeiführer etwa kamen aus einer anderen Generation mit anderen Prägungen. Ein wesentliches Charakteristikum der Verbrechen war außerdem der maßgebliche Anteil traditioneller Institutionen und konservativer Eliten. Und schließlich ist zu bedenken, daß der Normenstaat nicht erst durch das Reichssicherheitshauptamt und seine Akteure aufgelöst wurde, sondern durch die Ideologie und Diktatur eines Mannes, der ebenfalls einer älteren Generation entstammte: Adolf Hitler. Diese politischen und ideologischen Strukturen hätten in Wildts fundamentaler Studie vielleicht mehr Beachtung verdient.
JOHANNES HÜRTER
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