Die Bilder gingen um die Welt, der Gezi-Park wurde zum weltweiten Symbol des Aufstandes: Im Frühjahr 2013 protestierten aufgeklärte Türken und Türkinnen und forderten mehr Demokratie und den Rücktritt Erdogans. Doch es kam anders: Im August 2014 wählten 52 Prozent Erdogan zum Staatspräsidenten. Warum?Das Land ist gespalten: Die einen sehen in Erdogan den "Vater der Heimat", hoffen auf wirtschaftlichen Aufschwung und Stabilität, die anderen fürchten eine Entwicklung hin zum islamistisch-konservativen Staat. Erdogan verfolgt seinen Kurs unerbittlich: Medien und Verwaltung werden ideologisch auf Linie gebracht, Kritiker inhaftiert, die Justiz, die politische Opposition und das einst mächtige Militär gedemütigt und ins bedeutungslose Aus abgeschoben.Cigdem Akyol, Türkei-Korrespondentin für zahlreiche namhafte deutschsprachige Medien, schildert die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die Erdogan den Aufstieg nach ganz oben ermöglichten. Sie beschreibt seinen Werdegang, zeigt auf, wie sich die Türkei unter Erdogan verändert hat und analysiert die Auswirkungen seines autoritären Politikstils.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.06.2015Gehasst und geliebt
Erst war er ein Reformer, dann wurde er autoritär, aber immer war er erfolgreich: Ciğdem Akyol erklärt die Herrschaft Recep Tayyip Erdoğans
Dass die AKP bei den türkischen Parlamentswahlen die absolute Mehrheit verloren hat, kam für viele überraschend: Bis dahin galt Staatspräsident Erdoğan als nachgerade unschlagbar. Warum er es vermochte, Skandale und Proteste zu überstehen und seine Gegner auszuschalten, erklärt die Journalistin Ciğdem Akyol. Sie erzählt eine Aufsteigergeschichte, die in Istanbuls Arbeiter- und Hafenviertel Kasımpaşa beginnt. Rau geht es dort zu. Hier verkauft der junge Recep Tayyip Erdoğan Sesamkringel, die Familie hat wenig Geld. Es gibt kaum fließendes Wasser, der Strom fällt regelmäßig aus. Fünfmal am Tag beten die Menschen. „Wer hier wohnte“, schreibt Akyol, „war erstens praktizierender Muslim, zweitens arm, drittens wütend.“
In dieser knappen Beschreibung findet sich alles, was den späteren Politiker Erdoğan ausmachen wird: seine Religiosität; seine Überzeugung, dass man die Menschen mit Wohlstand locken muss; und seine Wut auf das laizistische System. Heute steht Erdoğan an der Spitze des Staates, davor hat er das Land mit seiner konservativ-religiösen Partei AKP mehr als zehn Jahre regiert. Er wird gehasst und geliebt. „Kalt lässt er keinen“, schreibt Ciğdem Akyol.
Erdoğans Aufstieg, so die zentrale These des Buches, ist auch ein Produkt der tiefen sozio-kulturellen Spaltung der Türkei. Jahrzehntelang bestimmt die Geschicke des Landes eine „dem Kemalismus verpflichtete Elite, die den Islam strikt aus der Politik heraushalten wollte“. Die frommen Massen, die konservativen Unter- und Mittelschichten haben an der Macht wenig Anteil. Diese „schwarzen Türken“ bilden zwar die Bevölkerungsmehrheit, werden aber von den „weißen Türken“ verachtet.
Die Verachtung ist Erdoğans Antrieb. „Die Menschen hatten genug von dem kleinen Machtzirkel in Politik, Armee und Wirtschaft, der seine Privilegien zur Schau stellte und die Massen ausbeutete – Erdoğans Ehrgeiz flößte ihnen Vertrauen ein“, schreibt Akyol. Der Mann aus Kasımpaşa, „der Sohn eines unterprivilegierten Anatoliers“, ist schließlich einer von ihnen.
Als Regierungschef führt Erdoğan die Türkei aus der Rezession und leitet einen beispiellosen Wirtschaftsboom ein. Er präsentiert das Land als Regionalmacht und verleiht jenen Bevölkerungsschichten Selbstvertrauen, die jahrzehntelang als rückständig abgestempelt worden sind. Und er beginnt, das politische System umzubauen. Das stößt in Europa zunächst auf Zustimmung, denn der Premier und seine AKP reformieren die Justiz, verdrängen das Militär aus der Politik und treiben die Annäherung an die EU voran. Doch dann folgt die autoritäre Wende. Erdoğan hat es geschafft und das System besiegt. Nun dominiert er es – und wendet es mit aller Härte gegen seine Gegner. Zu ihnen zählen immer mehr gesellschaftliche Gruppen, von der liberalen Mittelschicht bis zu Anhängern des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Lange Zeit ist die Opposition zu zersplittert, um gegen den Berserker aus Kasımpaşa anzukommen.
Wo die Sympathien der Autorin liegen, ist klar: Ausführlich widmet sie sich der Gezi-Bewegung von 2013, die sie als Aufstand der Zivilgesellschaft gegen einen selbstherrlichen Autokraten beschreibt. Akyol bedauert, dass sich aus den Gezi-Protesten keine nachhaltige zivilgesellschaftliche Opposition entwickelt habe. Und in fast allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere den Medien und der Justiz, würden die Spielräume für Andersdenkende immer kleiner. Nun hat die Realität das Buch überholt, was die Autorin freuen dürfte: Erdoğans AKP hat bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit auch deshalb verfehlt, weil Zivilgesellschaft und Opposition ein gemeinsames Ziel hatten.
LUISA SEELING
Ciğdem Akyol: Generation Erdoğan. Die Türkei – ein zerrissenes Land im 21. Jahrhundert. Kremayr & Scheriau, Wien 2015. 208 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Erst war er ein Reformer, dann wurde er autoritär, aber immer war er erfolgreich: Ciğdem Akyol erklärt die Herrschaft Recep Tayyip Erdoğans
Dass die AKP bei den türkischen Parlamentswahlen die absolute Mehrheit verloren hat, kam für viele überraschend: Bis dahin galt Staatspräsident Erdoğan als nachgerade unschlagbar. Warum er es vermochte, Skandale und Proteste zu überstehen und seine Gegner auszuschalten, erklärt die Journalistin Ciğdem Akyol. Sie erzählt eine Aufsteigergeschichte, die in Istanbuls Arbeiter- und Hafenviertel Kasımpaşa beginnt. Rau geht es dort zu. Hier verkauft der junge Recep Tayyip Erdoğan Sesamkringel, die Familie hat wenig Geld. Es gibt kaum fließendes Wasser, der Strom fällt regelmäßig aus. Fünfmal am Tag beten die Menschen. „Wer hier wohnte“, schreibt Akyol, „war erstens praktizierender Muslim, zweitens arm, drittens wütend.“
In dieser knappen Beschreibung findet sich alles, was den späteren Politiker Erdoğan ausmachen wird: seine Religiosität; seine Überzeugung, dass man die Menschen mit Wohlstand locken muss; und seine Wut auf das laizistische System. Heute steht Erdoğan an der Spitze des Staates, davor hat er das Land mit seiner konservativ-religiösen Partei AKP mehr als zehn Jahre regiert. Er wird gehasst und geliebt. „Kalt lässt er keinen“, schreibt Ciğdem Akyol.
Erdoğans Aufstieg, so die zentrale These des Buches, ist auch ein Produkt der tiefen sozio-kulturellen Spaltung der Türkei. Jahrzehntelang bestimmt die Geschicke des Landes eine „dem Kemalismus verpflichtete Elite, die den Islam strikt aus der Politik heraushalten wollte“. Die frommen Massen, die konservativen Unter- und Mittelschichten haben an der Macht wenig Anteil. Diese „schwarzen Türken“ bilden zwar die Bevölkerungsmehrheit, werden aber von den „weißen Türken“ verachtet.
Die Verachtung ist Erdoğans Antrieb. „Die Menschen hatten genug von dem kleinen Machtzirkel in Politik, Armee und Wirtschaft, der seine Privilegien zur Schau stellte und die Massen ausbeutete – Erdoğans Ehrgeiz flößte ihnen Vertrauen ein“, schreibt Akyol. Der Mann aus Kasımpaşa, „der Sohn eines unterprivilegierten Anatoliers“, ist schließlich einer von ihnen.
Als Regierungschef führt Erdoğan die Türkei aus der Rezession und leitet einen beispiellosen Wirtschaftsboom ein. Er präsentiert das Land als Regionalmacht und verleiht jenen Bevölkerungsschichten Selbstvertrauen, die jahrzehntelang als rückständig abgestempelt worden sind. Und er beginnt, das politische System umzubauen. Das stößt in Europa zunächst auf Zustimmung, denn der Premier und seine AKP reformieren die Justiz, verdrängen das Militär aus der Politik und treiben die Annäherung an die EU voran. Doch dann folgt die autoritäre Wende. Erdoğan hat es geschafft und das System besiegt. Nun dominiert er es – und wendet es mit aller Härte gegen seine Gegner. Zu ihnen zählen immer mehr gesellschaftliche Gruppen, von der liberalen Mittelschicht bis zu Anhängern des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Lange Zeit ist die Opposition zu zersplittert, um gegen den Berserker aus Kasımpaşa anzukommen.
Wo die Sympathien der Autorin liegen, ist klar: Ausführlich widmet sie sich der Gezi-Bewegung von 2013, die sie als Aufstand der Zivilgesellschaft gegen einen selbstherrlichen Autokraten beschreibt. Akyol bedauert, dass sich aus den Gezi-Protesten keine nachhaltige zivilgesellschaftliche Opposition entwickelt habe. Und in fast allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere den Medien und der Justiz, würden die Spielräume für Andersdenkende immer kleiner. Nun hat die Realität das Buch überholt, was die Autorin freuen dürfte: Erdoğans AKP hat bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit auch deshalb verfehlt, weil Zivilgesellschaft und Opposition ein gemeinsames Ziel hatten.
LUISA SEELING
Ciğdem Akyol: Generation Erdoğan. Die Türkei – ein zerrissenes Land im 21. Jahrhundert. Kremayr & Scheriau, Wien 2015. 208 Seiten, 22 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2016Was hat Recep Tayyip Erdogan vor?
Der Aufstieg eines begabten Straßenjungen zum Sonnenkönig: Die Journalistin Çigdem Akyol widmet dem türkischen Staatspräsidenten eine Biographie
Inmitten des gerade zu Ende gegangenen Fastenmonats Ramadan sorgte ein kleiner Istanbuler Plattenladen weltweit für Schlagzeilen: Ein wütender Mob aus zwanzig Männern stürmte den Laden im Stadtteil Cihangir und prügelte mit Flaschen und Rohrstücken auf den Besitzer und dessen Gäste ein: Aus Anlass des neuen "Radiohead"-Albums fand dort eine Hörparty statt, bei der auch Wein getrunken wurde. Doch Alkohol und Musik, das darf in den Augen von konservativen Muslimen während des Ramadan nicht sein.
Vor zehn, fünfzehn Jahren krähte in der Türkei kein Hahn danach, ob man fastet oder nicht. Seitdem die AKP die Regierung stellt, hat sich die Toleranz verflüchtigt. Wie der Islam zu leben ist, bestimmt nun einzig und allein Recep Tayyip Erdogan. Jeder soll sein wie er: ein frommer sunnitischer Muslim, der nicht raucht, nicht trinkt, der betet und sich auch an die religiösen Vorschriften des Fastenmonats hält. Das Befolgen religiöser Regeln hat für Erdogan Vorrang vor persönlichen Rechten und Freiheiten.
Anders lassen sich seine Worte nach dem Überfall von Cihangir nicht deuten: Den Plattenladen anzugreifen sei genauso falsch gewesen, wie während des Ramadan Alkohol zu trinken und Musik zu hören, erklärte Erdogan, Staatspräsident eines Landes, dessen Gesetze den tätlichen Angriff von Personen verbieten, nicht aber den grundsätzlichen Konsum von Alkohol oder Hörpartys - auch nicht während des Ramadan.
Die in Istanbul lebende deutsch-türkische Journalistin Çigdem Akyol, Jahrgang 1978, hat eine Biographie des türkischen Staatspräsidenten geschrieben, die das Phänomen Erdogan deutschen Lesern näherbringen will. Nach einer Phase der Hoffnung, in der Erdogan als reformwilliger und EU-orientierter Demokrat auftrat, baut er, der lieber die Hand zur Faust ballt, als andere Hände zu schütteln, die Türkei immer mehr zu einem Ein-Mann-Staat nach seinen Vorstellungen um.
Für Akyol ist Erdogan ein Verführer und Narziss, dessen unbändiger Wunsch nach Bedeutsamkeit nur zu verstehen ist, wenn man die politischen und gesellschaftlichen Umstände berücksichtigt, in denen er aufwuchs und Gefallen an der Politik fand. Sie prägten auch die erste Generation der türkischen Gastarbeiter, die sich von 1961 an auf den Weg nach Deutschland machte, weshalb die Lektüre dieser soziohistorischen Analyse, der Akyol viel Sorgfalt widmet, auch ein Gewinn für das Verständnis der hier lebenden Deutsch-Türken ist. Für nicht wenige waren die Verhältnisse der Anlass, der Heimat den Rücken zu kehren.
Damals wie heute ist die türkische Gesellschaft tief gespalten. Die verwestlichte, städtische Elite teilt sich die wichtigsten Posten in Militär, Bürokratie und Verwaltung untereinander auf, für die breite Bevölkerung hat sie nur Geringschätzung übrig. Die türkische Soziologin Nilüfer Göle hat diesen Konflikt mit dem Begriffspaar "weiße Türken" und "schwarze Türken" umschrieben. In eine Familie von "schwarzen Türken" wird Erdogan am 26. Februar 1954 hineingeboren. Er wächst auf am Goldenen Horn von Istanbul, im ärmlichen Hafenviertel Kasimpasa, auf dessen Straßen das Recht des Stärkeren regiert.
Es sind unruhige Jahre, die noch junge türkische Republik kämpft mit Wirtschaftskrisen und Regierungskrisen, öffentliche Hetze gegen Minderheiten ist alltäglich genauso wie politische Gewalt und staatliche Repression. Adnan Menderes, der erste aus freien Wahlen hervorgegangene türkische Ministerpräsident, stellt sich offen gegen den Laizismus und wird 1960 von den Generälen dafür hingerichtet. Erzählungen darüber, wie ihn das als damals sechsjährigen Jungen verstörte, gehören zu Erdogans Reden-Repertoire. Genauso wie die Anekdoten über seine Kindheit und Jugend, in der er Sesamkringel verkauft und keine Konfrontation scheut. Aus religiösen Gründen verbietet der strenge Vater ihm, Fußball zu spielen. Erdogan tut es trotzdem, heimlich. Auch Akyol gibt diese Anekdoten wieder. Bedauerlicherweise erzählt sie wenig darüber hinaus.
Das politische Idol des jungen Erdogan wird Necmettin Erbakan, der Pate des politischen Islams in der Türkei, der von 1970 an verschiedene islamistische Parteien gründet, die immer wieder verboten werden. "Erbakans Parolen für eine ,Rettung durch den Islam' oder einen ,Gottesstaat' sind für Erdogan wie eine Offenbarung", schreibt Akyol. Ausgestattet mit großem rhetorischen Talent macht Erdogan schnell Karriere, wird Oberbürgermeister von Istanbul, kommt dann aber ins Gefängnis, weil er ein vermeintlich islamistisches Gedicht rezitiert. Die Haftzeit ist kurz, trotzdem tritt ein scheinbar gewandelten Erdogan aus dem Gefängnistor, der erkannt habe, dass das kemalistische Establishment das politische Fortkommen eines Islamisten à la Erbakan immer verhindern wird.
Erdogan bricht mit Erbakan und gründet 2001 mit Weggefährten seine eigene Partei, die AKP. Diese entschärft den politischen Islam des Ziehvaters, verleugnet diese Wurzeln aber auch nicht. Schon 2002 wird sie an die Regierung gewählt. In Gang gesetzt wird die Emanzipationsbewegung der "schwarzen Türken", von Leuten also, die das kemalistische Establishment jahrzehntelang als rückständige Tölpel behandelt hatte.
Sie sind nun nicht mehr der Fußabtreter der Nation, sondern bilden das Rückgrat von Erdogans "neuer Türkei". Erdogan, schreibt Akyol, "gab den schwarzen Türken ihre Würde zurück". Bei jeder neuen Wahl danken ihm die Menschen dafür.
Akyols Darstellung ist weitgehend differenziert. Mitunter verfällt sie in einen raunenden Ton, der die Ausgewogenheit stört. Der Aufstieg des frommen türkischen Jungen aus ärmlichen Verhältnissen zum mächtigsten Mann des Landes mag atemberaubend sein, und vielleicht ist es sogar nachvollziehbar, dass man, wenn man sich über einen längeren Zeitraum mit Erdogan befasst, diesem Faszinosum ein wenig erliegt. In einer Biographie, die sich dezidiert um Objektivität bemüht, haben gewisse Sätze nichts verloren.
Wenn es etwa um Erdogans Geburtsort Kasimpasa geht, schreibt Akyol: "Ausgerechnet von hier aus (...) begann 1443 die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, die das Ende des Byzantinischen Reichs einläutete. Fast 500 Jahre später, am 26. Februar 1954 wird hier in einem Holzhaus der heute mächtigste Mann der Türkei geboren." Was möchte die Autorin damit suggerieren?
Oder für das Jahr 1976, Erdogan ist gerade Vorsitzender des Istanbuler Jugendverbands der "Nationalen Heilspartei" geworden, schreibt sie: "(...) trotzdem deutet nichts darauf hin, dass einer mit solch einer politischen, religiösen und gesellschaftlichen Herkunft einmal das höchste Amt des Staates bekleiden wird". Was hätte auch darauf hindeuten können? Oder für das Jahr 2002, als die AKP erstmals die Regierungsgeschäfte übernimmt. "Keiner von ihnen ahnt zu diesem Zeitpunkt, wie lange Erdogan dem Land erhalten bleiben wird." Wie, die Türken können nicht in die Zukunft sehen?
Dem Lektorat hätten diese Phrasen auffallen müssen. Auch die Hinweise auf Quellen und Archive hätten mehr Präzision vertragen. Zwar findet sich am Ende des Buches eine Bibliografie, die unter anderem türkischsprachige Erdogan-Biografien aufführt. Doch wenn die Autorin im Text auf dieses Material verweist, bleiben die Titel im Dunkeln, ist beispielsweise lediglich von "wohlwollenden Biografen" die Rede. Auch der ultimative Titel "Erdogan. Die Biografie", der selbstbewusst einen Endgültigkeitsanspruch manifestiert, wirkt unseriös.
Die Geschichte Erdogans ist noch lange nicht zu Ende erzählt. Wie es aussieht, wird er der Türkei und Europa noch eine ganze Weile erhalten bleiben und noch ist offen, wohin die Reise führt.
Die Frage, ob Erdogan ein Islamist ist oder nicht, beantwortet Akyol mit Nein. Zwar sei unbestritten, dass Erdogan sich eine islamisch-konservative Gesellschaft unter Vorherrschaft des sunnitischen Islam wünsche. Doch nicht das Credo "Der Islams ist die Lösung" leite ihn an, sondern eher das sonnenkönighafte "Der Staat bin ich". Das nach Einschätzung der Autorin für einen Islamisten typische Bestreben, religiös legitimierte Regeln für Staat und Gesellschaft zu etablieren und nichtreligiöse Legitimationen abzulehnen, stellt sie im Falle Erdogans nicht fest. Er sei kein Islamist, sondern "ein Taktiker erster Güte". Seit wann schließt das eine das andere aus?
Man wird diesem Politiker nicht gerecht, wenn man versucht, ideologische Schablonen auf ihn anzuwenden. Dass Erdogan nicht der Demokrat ist, als der er sich lange präsentierte, hat er schon bewiesen. Dass Erdogan die Befolgung religiöser Regeln durchaus zu einer gesellschaftlichen Pflicht erhebt, die vor geltendem Recht Vorrang hat, zeigte er unter anderem mit seiner Reaktion auf den Angriff auf den Plattenladen von Cihangir.
Sicherlich, der Vorfall ist nur eine Momentaufnahme. Er reiht sich jedoch ein in eine Kette von Ereignissen, die sehr wohl darauf hinweisen, dass Erdogan sich nicht von seiner islamistischen Kinderstube verabschiedet hat. Man sollte Erdogan beim Wort nehmen und ihn mit äußerster Vorsicht genießen. Es wäre bedauerlich, wenn es in den Erdogan-Erzählungen von morgen einmal heißen würde: Damals, 2016, hatte noch niemand geahnt, dass Erdogan die Türkei zu einem islamistischen Staat umformen wolle.
KAREN KRÜGER
Çigdem Akyol: "Erdogan". Die Biografie.
Herder Verlag, München 2016. 384 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Aufstieg eines begabten Straßenjungen zum Sonnenkönig: Die Journalistin Çigdem Akyol widmet dem türkischen Staatspräsidenten eine Biographie
Inmitten des gerade zu Ende gegangenen Fastenmonats Ramadan sorgte ein kleiner Istanbuler Plattenladen weltweit für Schlagzeilen: Ein wütender Mob aus zwanzig Männern stürmte den Laden im Stadtteil Cihangir und prügelte mit Flaschen und Rohrstücken auf den Besitzer und dessen Gäste ein: Aus Anlass des neuen "Radiohead"-Albums fand dort eine Hörparty statt, bei der auch Wein getrunken wurde. Doch Alkohol und Musik, das darf in den Augen von konservativen Muslimen während des Ramadan nicht sein.
Vor zehn, fünfzehn Jahren krähte in der Türkei kein Hahn danach, ob man fastet oder nicht. Seitdem die AKP die Regierung stellt, hat sich die Toleranz verflüchtigt. Wie der Islam zu leben ist, bestimmt nun einzig und allein Recep Tayyip Erdogan. Jeder soll sein wie er: ein frommer sunnitischer Muslim, der nicht raucht, nicht trinkt, der betet und sich auch an die religiösen Vorschriften des Fastenmonats hält. Das Befolgen religiöser Regeln hat für Erdogan Vorrang vor persönlichen Rechten und Freiheiten.
Anders lassen sich seine Worte nach dem Überfall von Cihangir nicht deuten: Den Plattenladen anzugreifen sei genauso falsch gewesen, wie während des Ramadan Alkohol zu trinken und Musik zu hören, erklärte Erdogan, Staatspräsident eines Landes, dessen Gesetze den tätlichen Angriff von Personen verbieten, nicht aber den grundsätzlichen Konsum von Alkohol oder Hörpartys - auch nicht während des Ramadan.
Die in Istanbul lebende deutsch-türkische Journalistin Çigdem Akyol, Jahrgang 1978, hat eine Biographie des türkischen Staatspräsidenten geschrieben, die das Phänomen Erdogan deutschen Lesern näherbringen will. Nach einer Phase der Hoffnung, in der Erdogan als reformwilliger und EU-orientierter Demokrat auftrat, baut er, der lieber die Hand zur Faust ballt, als andere Hände zu schütteln, die Türkei immer mehr zu einem Ein-Mann-Staat nach seinen Vorstellungen um.
Für Akyol ist Erdogan ein Verführer und Narziss, dessen unbändiger Wunsch nach Bedeutsamkeit nur zu verstehen ist, wenn man die politischen und gesellschaftlichen Umstände berücksichtigt, in denen er aufwuchs und Gefallen an der Politik fand. Sie prägten auch die erste Generation der türkischen Gastarbeiter, die sich von 1961 an auf den Weg nach Deutschland machte, weshalb die Lektüre dieser soziohistorischen Analyse, der Akyol viel Sorgfalt widmet, auch ein Gewinn für das Verständnis der hier lebenden Deutsch-Türken ist. Für nicht wenige waren die Verhältnisse der Anlass, der Heimat den Rücken zu kehren.
Damals wie heute ist die türkische Gesellschaft tief gespalten. Die verwestlichte, städtische Elite teilt sich die wichtigsten Posten in Militär, Bürokratie und Verwaltung untereinander auf, für die breite Bevölkerung hat sie nur Geringschätzung übrig. Die türkische Soziologin Nilüfer Göle hat diesen Konflikt mit dem Begriffspaar "weiße Türken" und "schwarze Türken" umschrieben. In eine Familie von "schwarzen Türken" wird Erdogan am 26. Februar 1954 hineingeboren. Er wächst auf am Goldenen Horn von Istanbul, im ärmlichen Hafenviertel Kasimpasa, auf dessen Straßen das Recht des Stärkeren regiert.
Es sind unruhige Jahre, die noch junge türkische Republik kämpft mit Wirtschaftskrisen und Regierungskrisen, öffentliche Hetze gegen Minderheiten ist alltäglich genauso wie politische Gewalt und staatliche Repression. Adnan Menderes, der erste aus freien Wahlen hervorgegangene türkische Ministerpräsident, stellt sich offen gegen den Laizismus und wird 1960 von den Generälen dafür hingerichtet. Erzählungen darüber, wie ihn das als damals sechsjährigen Jungen verstörte, gehören zu Erdogans Reden-Repertoire. Genauso wie die Anekdoten über seine Kindheit und Jugend, in der er Sesamkringel verkauft und keine Konfrontation scheut. Aus religiösen Gründen verbietet der strenge Vater ihm, Fußball zu spielen. Erdogan tut es trotzdem, heimlich. Auch Akyol gibt diese Anekdoten wieder. Bedauerlicherweise erzählt sie wenig darüber hinaus.
Das politische Idol des jungen Erdogan wird Necmettin Erbakan, der Pate des politischen Islams in der Türkei, der von 1970 an verschiedene islamistische Parteien gründet, die immer wieder verboten werden. "Erbakans Parolen für eine ,Rettung durch den Islam' oder einen ,Gottesstaat' sind für Erdogan wie eine Offenbarung", schreibt Akyol. Ausgestattet mit großem rhetorischen Talent macht Erdogan schnell Karriere, wird Oberbürgermeister von Istanbul, kommt dann aber ins Gefängnis, weil er ein vermeintlich islamistisches Gedicht rezitiert. Die Haftzeit ist kurz, trotzdem tritt ein scheinbar gewandelten Erdogan aus dem Gefängnistor, der erkannt habe, dass das kemalistische Establishment das politische Fortkommen eines Islamisten à la Erbakan immer verhindern wird.
Erdogan bricht mit Erbakan und gründet 2001 mit Weggefährten seine eigene Partei, die AKP. Diese entschärft den politischen Islam des Ziehvaters, verleugnet diese Wurzeln aber auch nicht. Schon 2002 wird sie an die Regierung gewählt. In Gang gesetzt wird die Emanzipationsbewegung der "schwarzen Türken", von Leuten also, die das kemalistische Establishment jahrzehntelang als rückständige Tölpel behandelt hatte.
Sie sind nun nicht mehr der Fußabtreter der Nation, sondern bilden das Rückgrat von Erdogans "neuer Türkei". Erdogan, schreibt Akyol, "gab den schwarzen Türken ihre Würde zurück". Bei jeder neuen Wahl danken ihm die Menschen dafür.
Akyols Darstellung ist weitgehend differenziert. Mitunter verfällt sie in einen raunenden Ton, der die Ausgewogenheit stört. Der Aufstieg des frommen türkischen Jungen aus ärmlichen Verhältnissen zum mächtigsten Mann des Landes mag atemberaubend sein, und vielleicht ist es sogar nachvollziehbar, dass man, wenn man sich über einen längeren Zeitraum mit Erdogan befasst, diesem Faszinosum ein wenig erliegt. In einer Biographie, die sich dezidiert um Objektivität bemüht, haben gewisse Sätze nichts verloren.
Wenn es etwa um Erdogans Geburtsort Kasimpasa geht, schreibt Akyol: "Ausgerechnet von hier aus (...) begann 1443 die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, die das Ende des Byzantinischen Reichs einläutete. Fast 500 Jahre später, am 26. Februar 1954 wird hier in einem Holzhaus der heute mächtigste Mann der Türkei geboren." Was möchte die Autorin damit suggerieren?
Oder für das Jahr 1976, Erdogan ist gerade Vorsitzender des Istanbuler Jugendverbands der "Nationalen Heilspartei" geworden, schreibt sie: "(...) trotzdem deutet nichts darauf hin, dass einer mit solch einer politischen, religiösen und gesellschaftlichen Herkunft einmal das höchste Amt des Staates bekleiden wird". Was hätte auch darauf hindeuten können? Oder für das Jahr 2002, als die AKP erstmals die Regierungsgeschäfte übernimmt. "Keiner von ihnen ahnt zu diesem Zeitpunkt, wie lange Erdogan dem Land erhalten bleiben wird." Wie, die Türken können nicht in die Zukunft sehen?
Dem Lektorat hätten diese Phrasen auffallen müssen. Auch die Hinweise auf Quellen und Archive hätten mehr Präzision vertragen. Zwar findet sich am Ende des Buches eine Bibliografie, die unter anderem türkischsprachige Erdogan-Biografien aufführt. Doch wenn die Autorin im Text auf dieses Material verweist, bleiben die Titel im Dunkeln, ist beispielsweise lediglich von "wohlwollenden Biografen" die Rede. Auch der ultimative Titel "Erdogan. Die Biografie", der selbstbewusst einen Endgültigkeitsanspruch manifestiert, wirkt unseriös.
Die Geschichte Erdogans ist noch lange nicht zu Ende erzählt. Wie es aussieht, wird er der Türkei und Europa noch eine ganze Weile erhalten bleiben und noch ist offen, wohin die Reise führt.
Die Frage, ob Erdogan ein Islamist ist oder nicht, beantwortet Akyol mit Nein. Zwar sei unbestritten, dass Erdogan sich eine islamisch-konservative Gesellschaft unter Vorherrschaft des sunnitischen Islam wünsche. Doch nicht das Credo "Der Islams ist die Lösung" leite ihn an, sondern eher das sonnenkönighafte "Der Staat bin ich". Das nach Einschätzung der Autorin für einen Islamisten typische Bestreben, religiös legitimierte Regeln für Staat und Gesellschaft zu etablieren und nichtreligiöse Legitimationen abzulehnen, stellt sie im Falle Erdogans nicht fest. Er sei kein Islamist, sondern "ein Taktiker erster Güte". Seit wann schließt das eine das andere aus?
Man wird diesem Politiker nicht gerecht, wenn man versucht, ideologische Schablonen auf ihn anzuwenden. Dass Erdogan nicht der Demokrat ist, als der er sich lange präsentierte, hat er schon bewiesen. Dass Erdogan die Befolgung religiöser Regeln durchaus zu einer gesellschaftlichen Pflicht erhebt, die vor geltendem Recht Vorrang hat, zeigte er unter anderem mit seiner Reaktion auf den Angriff auf den Plattenladen von Cihangir.
Sicherlich, der Vorfall ist nur eine Momentaufnahme. Er reiht sich jedoch ein in eine Kette von Ereignissen, die sehr wohl darauf hinweisen, dass Erdogan sich nicht von seiner islamistischen Kinderstube verabschiedet hat. Man sollte Erdogan beim Wort nehmen und ihn mit äußerster Vorsicht genießen. Es wäre bedauerlich, wenn es in den Erdogan-Erzählungen von morgen einmal heißen würde: Damals, 2016, hatte noch niemand geahnt, dass Erdogan die Türkei zu einem islamistischen Staat umformen wolle.
KAREN KRÜGER
Çigdem Akyol: "Erdogan". Die Biografie.
Herder Verlag, München 2016. 384 S., geb., 24,99 [Euro].
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