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»Das Buch von Melisa Erkurt sollte Pflichtlektüre werden in der Ausbildung von Pädagog_innen und Lehrkräften ... Eine Wucht!« - Sasa Stanisic
Melisa Erkurt ist als Kind mit ihren Eltern aus Bosnien nach Österreich gekommen. Sie hat studiert. Sie arbeitet als Lehrerin und Journalistin. Sie hat es geschafft. Doch sie ist eine Ausnahme. Denn am Ende eines Schuljahres entlässt sie die Klasse mit dem Wissen, dass die meisten ihrer Schülerinnen und Schüler nie ausreichend gut Deutsch sprechen werden, um ihr vorgezeichnetes Schicksal zu durchbrechen. Hier wächst eine Generation ohne Sprache und…mehr

Produktbeschreibung
»Das Buch von Melisa Erkurt sollte Pflichtlektüre werden in der Ausbildung von Pädagog_innen und Lehrkräften ... Eine Wucht!« - Sasa Stanisic

Melisa Erkurt ist als Kind mit ihren Eltern aus Bosnien nach Österreich gekommen. Sie hat studiert. Sie arbeitet als Lehrerin und Journalistin. Sie hat es geschafft. Doch sie ist eine Ausnahme. Denn am Ende eines Schuljahres entlässt sie die Klasse mit dem Wissen, dass die meisten ihrer Schülerinnen und Schüler nie ausreichend gut Deutsch sprechen werden, um ihr vorgezeichnetes Schicksal zu durchbrechen. Hier wächst eine Generation ohne Sprache und Selbstwert heran, der keiner zuhört, weil sie sich nicht artikulieren kann. Über den »Kulturkampf« im Klassenzimmer befinden einstweilen andere. Melisa Erkurt leiht ihre Stimme den Verlierern des Bildungssystems. Nicht sie müssen sich ändern, sondern das System Schule muss neue Wege gehen.
Autorenporträt
Melisa Erkurt, geboren 1991 in Sarajevo, gehört zu den wichtigsten jungen Stimmen des österreichischen Journalismus. Sie war Redakteurin beim Magazin biber und zwei Jahre mit dem Schulprojekt 'Newcomer' an Wiener Brennpunktschulen unterwegs. Erkurt unterrichtete selbst an einer Wiener Schule, war Redakteurin beim ORF Report (Innenpolitik) und leitet seit Januar 2021 das Medienprojekt 'die_chefredaktion'. Sie schreibt eine wöchentliche Kolumne im Falter. Ihre Kolumne in der taz heißt 'Nachsitzen'.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensentin Marija Barišić trifft sich mit der Autorin Melisa Erkurt, die mit ihrem Buch "Generation Haram" recht ordentlich die österreichische Bildungspolitik aufgemischt hat, wie sich Barišić freut. Erkurt, die als Kleinkind mit ihrer Mutter aus Bosnien nach Wien kam, schildert darin ihre eigenen Erlebnisse als ausländisches Kind in einer Vorortklasse, aber auch ihre Erfahrungen als Lehrerin an Wiener Brennpunktschulen. Für Rezensentin Barišić wird deutlich, wieviel Scham, Angst und Verlorenheit Kinder in der Schule spüren, wenn ihr Deutsch nicht gut genug ist, wenn sie Dinge nicht kennen und zu Hause keine schulische Hilfe bekommen können. Erkits Forderung nach mehr SozialarbeiterInnen, PsychologInnen und LehrerInnen mit Migrationshintergrund kann die Rezensentin nur unterstützen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2020

Es geht nicht darum, die Eltern mit ins Boot zu holen
Abschied von Illusionen: Melisa Erkurt schreibt ein streitlustiges Buch über die schulischen Chancen von Migrantenkindern

Das Buch der österreichischen Journalistin Melisa Erkurt hätte eigentlich einen passenderen Titel verdient. Denn so naheliegend es vielleicht ist, die Überschrift einer vielbeachteten Reportage für ihr erstes Buch zu verwenden, so sehr führt er in die Irre. Es geht darin nicht um eine weitere Warnung vor fundamentalistischen Jung-Machos aus muslimisch geprägtem Hause, die Mitschüler mit "haram!"-Rufen auf die Scharia verpflichten wollen und manche Lehrer finster in die Zukunft Europas blicken lassen.

Melisa Erkurts Buch ist vielmehr als Gegenschrift zu Bestseller-Erlebnisberichten wie "Kulturkampf im Klassenzimmer" von Susanne Wiesinger oder "Eine Lehrerin sieht rot" von Doris Unzeitig konzipiert. Auch Erkurt hat als Lehrerin gearbeitet, auch sie argumentiert scharf, doch ihr Buch ergreift Partei für die ihrer Meinung nach falsch verstandenen Migrantenkinder, wobei sich die geschilderten österreichischen Verhältnisse weitgehend auf Deutschland übertragen lassen.

Das Besondere an diesem Buch ist seine Perspektive einer Bildungsaufsteigerin, die verschiedene Migrantenmilieus von innen her kennt und weiß, wie es sich anfühlt, wenn man für sein gutes Deutsch gelobt wird, obwohl man zeitlebens in Österreich gelebt hat, und wie fatal es für das berufliche Fortkommen ist, mit Akzent zu sprechen. Darüber hinaus eröffnet ihr ihre Herkunft eine besonderes Gespür für alle Formen der Animosität gegen Muslime.

Im Bosnien-Krieg mussten die Autorin und ihre muslimische Familie um ihr Leben fürchten, mit ihrer Mutter floh Erkurt 1992 aus Sarajevo nach Niederösterreich. Das Kind sprach im Kindergarten kein Wort, musste die neue Mehrsprachigkeit erst verarbeiten, lernte früh das Lesen lieben und wurde von einer einfühlsamen Grundschullehrerin fürs Gymnasium empfohlen. Als der Vater aus dem Krieg zu seiner Familie in Österreich stößt, darf sie zu Hause kein Deutsch sprechen und beginnt zum Ausgleich, in ihrer zweiten Sprache zu schreiben. Sie macht die Matura, studiert und zweifelt, weil ihre Eltern es aus Unerfahrenheit ebenfalls tun, bis zum Tag ihrer Prüfung, ob sie den Abschluss schafft. Durch Zufall gerät sie in den Journalismus, arbeitet heute für den Österreichischen Rundfunk und verfasst Kolumnen für die Wiener Stadtzeitschrift "Falter" und die "taz".

Diese Lebensgeschichte in Kombination mit einem ausgeprägten Gespür für gesellschaftliche Widersprüche prägen den Ton des Buchs. Es ist streitlustig und kämpferisch, manchmal auch spöttisch, zum Beispiel in der Frage, warum die Österreicher eigentlich in politischen Kampagnen und bei Schulspeisungen ein so großes Interesse daran zeigten, ihr Schweinefleisch mit den Muslimen zu teilen.

Der schulbezogene Befund Melisa Erkurts wird schon im Einleitungskapitel formuliert: "Es scheint, als würde das ganze Land hinnehmen, dass hier eine Bevölkerungsgruppe über Jahrzehnte hinweg auf der Strecke bleibt." Grund dafür sei eine tiefliegende Ignoranz gegenüber den kulturellen, sozialen und häuslichen Verhältnissen, in denen Migranten leben. Wie mit Schülern umzugehen ist, die sich mit Geschwistern ein Zimmer, einen Computer und eine schlechte W-Lan-Verbindung teilen, lerne man nicht in der Lehrerausbildung. Aus Erkurts Sicht passt der gängige Schulunterricht vor allem in den stark migrantisch geprägten Städten und Bezirken nicht mehr zur Realität. Schulen müssten sich daher anpassen, müssten sich "von der Illusion verabschieden, die Eltern mit ins Boot holen zu können", schreibt Erkurt. Das Beharren darauf zerstöre lediglich Bildungschancen der Kinder.

Beeindruckend sind die vielen Hintergrundgeschichten, die die Autorin aus ihrer Zeit als Lehrerin berichtet. Sie schildert eindrücklich den Druck, der auf muslimischen Mädchen, ob mit oder ohne Kopftuch, lastet. Die klügsten und augenöffnenden Sätze des Buches aber betreffen die jugendlichen Provokateure mit Migrationshintergrund, die Erkurt mit großer Empathie betrachtet: "Weil manche von ihnen sich wie Machos und Patriarchen aufführen, vergisst man oft, dass sie die Rolle spielen, die man ihnen abnimmt." Sie wüssten, "dass sie nicht mithalten können", und reagierten daher "mit Provokation, veralteten Rollenbildern, gefährlichen Verhaltensvorschriften, Demokratiefeindlichkeit". Zumindest in einem Punkt könnten sich viele dieser Benachteiligten, das lernten sie früh, mächtig fühlen: "Der Islam steht für sie für die Macht über die Ängste der anderen." In gezielten Provokationen spielten sie mit diesen Ängsten.

Erkurt beschönigt die Auswüchse dieser Haltung nicht, setzt aber auf ihre Veränderbarkeit durch gezielte Maßnahmen. Sie fordert eine kostenlose Ganztagsschule mit vorgelagerter Kindergartenzeit von zwei Jahren. Lehrer müssten angeleitet werden, die psychischen Probleme von Flüchtlingen und Migrantenkindern zu erkennen. Sie müssten lernen, deren Mehrsprachigkeit und Selbständigkeit zu schätzen. Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, bestimmte Frauenbilder und patriarchale Strukturen müssten im Unterricht gezielt thematisiert und diskutiert werden. Im Berufsleben sollten Migrantenquoten eingeführt werden, denn Jugendliche mit Einwanderungshintergrund brauchten Vorbilder.

Wenig überzeugend in dem Buch ist die Rede von einem "antimuslimischen Rassismus", auf dessen Existenz Erkurt mit dem Argument beharrt, die Religionszugehörigkeit werde heute zunehmend ethnisiert. Der Begriff aber verhärtet nur die Fronten, während Erkurts Argumentation nicht schwächer würde, wenn sie durchgehend von einer Diskriminierung migrantischer Kinder und Jugendlicher spräche. Das würde auch die Berührungspunkte mit Gleichaltrigen aus bildungsfernen Familien ohne Migrationshintergrund deutlicher machen.

Durch die Corona-Krise, die im Buch am Rande bereits vorkommt, werden einige von Erkurts Befunden bestätigt. Vielen Lehrern und Bildungspolitikern wurde die prekäre häusliche Situation mancher Schüler im Lockdown erstmals mit Nachdruck bewusst. Aus dieser Erkenntnis müssten jetzt die richtigen Schlüsse gezogen werden. Melisa Erkurts Buch zeigt, wo es über eine verbesserte technische Ausstattung hinaus anzusetzen gilt.

UWE EBBINGHAUS

Melisa Erkurt: "Generation haram". Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020. 192 S., geb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.01.2021

Für die Verlierer
Melisa Erkurt ist mit ihrem Buch über die Bildungschancen von
Migrantenkindern in Österreich berühmt geworden
VON MARIJA BARIŠIĆ
Als der Verlag sie fragte, ob sie ein Buch schreiben wolle, über das Bildungssystem in Österreich, sagte Melisa Erkurt Nein. Sie dachte: „Hä? Wer bin ich schon?“ Dann begann sie zu recherchieren. Wer hatte in den vergangenen Jahren ein Buch über das österreichische Bildungssystem geschrieben? Sie stieß auf Menschen mit ähnlichen Biografien: aus akademischen Kreisen, ohne Migrationshintergrund, die über Leute wie sie geschrieben hatten, über Schülerinnen mit ihrer Biografie. „Wenn sie glauben, dass sie das können, warum ich eigentlich nicht?“
Dann sagte sie Ja.
Melisa Erkurt ist 29 Jahre alt, Journalistin, ehemalige Lehrerin und seit Kurzem Autorin. Ihr Buch „Generation Haram – Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben“ hat sie den „Verlierern dieses Bildungssystems“ gewidmet. „Für alle, die nie eine Chance hatten. Das ist für uns“, schreibt sie auf der ersten Seite.
Seit das Buch im Sommer 2020 erschienen ist, vergeht in Österreich kaum mehr eine Woche, in der kein Artikel über Erkurt erscheint. Die „Stimme der Migranten“, wird sie genannt, „die Vorzeigemigrantin“.
Erkurt lächelt, natürlich fühle man sich geschmeichelt, sagt sie, „aber ich bin nicht die Stimme der Migranten, die haben schon ihre eigene Stimme, nur hat man ihnen halt nie zugehört“. Und dann hört sie auf zu lächeln.
Erkurt hat dichtes, dunkles Haar, blaue Augen und einen fordernden Blick. Sie sagt „LehrerInnen“, „SchülerInnen“, „SozialarbeiterInnen“, und macht vor dem Binnen-I jeweils eine kurze Pause. In Podiumsdiskussionen fällt sie anderen nie ins Wort, auch wenn man ihr ins Wort fällt – und gibt dafür ihren Eltern die Schuld. „Die haben mir den Respekt vor älteren Menschen eingetrichtert“, sagt sie. „Bosnische Erziehung halt.“
Als einjähriges Kind flüchtet Erkurt mit ihrer Mutter vor dem Bosnienkrieg aus Sarajevo nach Wien. Erkurt geht damals in einem kleinen österreichischen Vorort zur Schule, eines der wenigen Kinder mit Migrationshintergrund. Als sie einmal in der Pause mit ihrer Mutter auf Bosnisch telefoniert, liegt am nächsten Tag der Duden auf ihrem Tisch - und ein Post-it mit der Notiz: „Hier wird Deutsch gesprochen.“ Noch heute kontrolliert sie ihre Mails akribisch auf Rechtschreibfehler, bevor sie sie abschickt – aus Angst, die Leute könnten glauben, sie könne kein Deutsch.
Vielleicht kann Erkurt sich deswegen so gut in all jene hineinversetzen, die wirklich kein Deutsch können und denen sie ihr Buch gewidmet hat. Sie nennt sie die „Alis und Hülyas“ des österreichischen Bildungssystems. In den vergangenen sieben Jahren ist Erkurt Hunderten von ihnen begegnet. Sechs Jahre lang als Journalistin und Schulprojektleiterin an „Wiener Brennpunktschulen“, ein Jahr lang als Deutschlehrerin an einem Wiener Gymnasium. Es waren Schulen in Stadtteilen, die für ihren hohen Migrationsanteil bekannt, besser gesagt: verschrien sind.
Die Schülerinnen und Schüler, die Erkurt dort unterrichtet, sind zwischen zwölf und 18 Jahre alt, sie haben Migrationshintergrund und geringe Deutschkenntnisse. Zu Hause teilen sie sich einen Schreibtisch mit mehreren Geschwistern. Ihre Eltern arbeiten in Berufen, die seit Corona als systemrelevant gelten: am Bau, an der Supermarktkasse, im Krankenhaus. Sie haben weder Zeit noch die Kompetenz oder das Sprachvermögen, um ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen. Und schon gar kein Geld, um andere dafür zu bezahlen. Trotzdem gibt Erkurt ihnen immer denselben Ratschlag, wenn sie zu ihr in die Sprechstunde kommen: Lesen und Nachhilfe. Etwas anderes fällt ihr nicht ein, in ihrer Ausbildung zur Lehrerin sei sie nie auf ein diverses Klassenzimmer vorbereitet worden, sagt sie.
„Ich wurde darauf vorbereitet, Hülyas und Alis auszusortieren, um Annas und Pauls zu unterrichten.“ In jedem Interview, auf jeder Podiumsdiskussion wiederholt Erkurt diesen Satz.
Sie ist wütend, wenn sie ihn sagt.
„Annas und Pauls“ – für Erkurt sind sie das privilegierte Äquivalent. Kinder von Akademikereltern ohne Migrationshintergrund, die ein eigenes Zimmer haben und Mütter, die ihnen nachmittags mit den Referaten helfen, um sie danach zum Geigenunterricht zu fahren. Sie haben alles, was „Hülyas und Alis“ nicht haben. Alles, was laut Erkurt derzeit als Normalzustand vorausgesetzt wird, um den Bildungsaufstieg in Österreich zu schaffen. „Und was machen die Kinder, die diese Eltern nicht haben? Sie scheitern, seit Generationen.“
Es gibt da ein Totschlagargument, das in Podiumsdiskussionen immer wieder gegen Erkurt verwendet wird. Und das ist Erkurt selbst. Sie hat es geschafft. Ja, sie hat sogar mehr geschafft als viele Annas und Pauls in diesem Land.
„Die Wahrheit ist aber, dass mein gesamter Bildungserfolg auf einem einzigen Zufall beruht: nämlich dass ich vor 20 Jahren eine Lehrerin hatte, die mehr in mir gesehen hat als das Ausländerkind. Die an mich geglaubt und mich ans Gymnasium, nicht an die Sonderschule geschickt hat.“ Für Erkurt ist ihr Erfolg keine logische Konsequenz ihres Talents, auch nicht ihrer Anstrengung, sondern eine Ausnahme. Die Regel ist die Statistik. „Und die zeigt, dass seit Jahrzehnten immer Menschen aus denselben sozialen Milieus den Bildungsaufstieg schaffen, während Menschen aus denselben sozialen Milieus scheitern.“
Tatsächlich haben in Österreich im Jahr 2018 laut Statistik Austria nur sieben Prozent der 25- bis 44-Jährigen von Eltern mit Pflichtschulabschluss einen Hochschulabschluss erreicht. Wie viele davon einen Migrationshintergrund hatten, scheint in der Statistik nicht auf. Eine andere aus demselben Jahr zeigt aber: 53,9 Prozent, also mehr als die Hälfte aller frühen Schul- und Ausbildungsabbrecher haben Migrationshintergrund. Für Erkurt ist das kein Indiz dafür, dass Kinder von Migranten besonders faul sind, sondern dass sie besonders diskriminiert werden. „Die Hülyas und Alis sind keine Problemschüler, sie haben das Problem.“
Wenn Erkurt das sagt, macht sie andere wütend. Vor allem jene, die sich in der Beschreibung von Annas und Pauls Eltern wiedererkennen. Menschen wie Susanne Wiesinger zum Beispiel.
Sie wäre vermutlich das, was dabei herauskommt, wenn man ein Gegenteil zu Erkurt entwerfen müsste: Lehrerin, 55, blond, Bildungsbürgertum. Als die beiden sich im Oktober bei einer Diskussion in der Universität in Wien gegenübersitzen, hat man das Gefühl, dass hier gerade Hülya und Anna aufeinandertreffen.
So wie Erkurt hat auch Wiesinger als Lehrerin an Wiener Brennpunktschulen unterrichtet und ihre Erfahrungen vor einigen Jahren in einem Buch zusammengefasst: „Kulturkampf im Klassenzimmer“. Wiesinger zeichnet darin ein ganz anderes Bild von ihren Schülerinnen und Schülern. Sie schreibt über muslimische Jungmachos, die sich als religiöse Sittenwächter im Klassenzimmer aufspielen, Eltern, die ihre Töchter aus kulturellen Gründen nicht in den Schwimmunterricht schicken, und Väter, die Lehrerinnen den Handschlag verweigern. Der Einfluss des Islam an Wiener Schulen nehme zu, so Wiesingers Bilanz. Erkurt ärgert sich darüber, das Buch von Wiesinger strotze nur so vor rassistischen Vorurteilen gegenüber Muslimen. Wiesinger hingegen ärgert sich über das Buch von Erkurt, es sei ihr zu „eindimensional“, nicht alle Lehrerinnen und Lehrer seien rassistisch, es gebe auch Annas und Pauls, die Diskriminierung erfahren.
Erkurt, die sich in der Diskussion größtenteils zurückhält, hakt an der Stelle immer wieder ein, nimmt die Hände aus dem Schoß, beginnt zu gestikulieren. „Wenn Migrantinnen versuchen, Rassismus anzusprechen, passiert genau das, was jetzt gerade passiert ist“, sagt sie, „von Seiten der Mehrheitsgesellschaft kommt gleich: ‚Aber Moment, auch wir werden diskriminiert.‘ Und dann reden wir erst recht wieder nicht über Rassismus.“ Es ist wahrscheinlich der einzige Moment, in dem sie sich etwas anmerken lässt: ihren Frust.
Wenn Erkurt aufzählt, was sich im Schulsystem alles ändern muss, sagt sie besonders oft „mehr“. Mehr Sozialarbeiterinnen, mehr Schulpsychologinnen, mehr Lehrerinnen mit Migrationshintergrund. Solche, die sich in die Lebensrealität ihrer Schüler hineinversetzen können, die ihnen ihre Diskriminierungserfahrungen glauben, nicht absprechen. Und: eine verpflichtende Ganztagesschule für alle Kinder bis 14. „Eine, die so konzipiert sein müsste, dass auch die Eltern von Anna und Paul ihre Kinder gerne dorthin schicken, nicht wieder die billigste Variante für die Ausländerkinder.“ Was Erkurt damit meint: Nachhilfe, Theaterpädagogik, Musikinstrumente. Schule solle alles für alle anbieten, nichts voraussetzen, nein, auch nicht die Eltern, die nach den Hausaufgaben schauen. Eine totale Entprivatisierung von Bildung sozusagen. Erst dann könne man von wahrer Chancengleichheit sprechen.
Kurz nach Veröffentlichung des Buches wird Erkurt von Schülern auf der Straße aufgehalten, sie wollen ein Selfie. Es sind Schüler, sagt sie, bei denen andere Menschen die Straßenseite wechseln würden, die im Deutschrap oft „Schwarzköpfe“ genannt werden. Erkurts Augen strahlen, wenn sie davon erzählt. Und trotzdem bezeichnet sie ihr Buch als „keinen großen Wurf“. Warum eigentlich? „Weil ich nur das beschreibe, was Expertinnen seit Jahrzehnten sagen.“ Das Zweiklassensystem an Österreichs Schulen sei schon lange bekannt. Der einzige Unterschied: Zum ersten Mal habe es keine „autochtone Person“ aufgeschrieben. Keine Einheimische, sondern eine von den Bildungsverlierern. Eine von ihnen.
In Wahrheit beruhe ihr
Bildungserfolg auf einem
einzigen Zufall, glaubt sie
Ihr Buch sei kein großer
Wurf, sagt sie selbst.
Es erzähle ja nichts Neues
Melisa Erkurt, geboren 1991 in Sarajevo, hat als erste „nicht-autochtone“ Person in Österreich über Migration und Bildung geschrieben.
Foto: Vedran Pilipović/Zsolnay/Hanser
Melisa Erkurt:
Generation Haram –
Warum Schule lernen
muss, allen eine Stimme
zu geben.
Zsolnay Verlag, Wien 2021. 192 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Das Buch von Melisa Erkurt sollte Lektüre werden in der Ausbildung von Pädagoginnen und Lehrkräften. Es zeigt, präzise, pragmatisch, konstruktiv, die Verfehlungen und Unwegsamkeiten der Bildungssysteme, in denen viele Kinder aus 'bildungsfremden' Familien auf der Strecke bleiben. Eine Wucht!" Sasa Stanisic, 30.08.20

"Beeindruckend sind die vielen Hintergrundgeschichten, die die Autorin aus ihrer Zeit als Lehrerin berichtet. ... Die klügsten und augenöffnenden Sätze des Buches aber betreffen die jugendlichen Provokateure mit Migrationshintergrund, die Erkurt mit großer Empathie betrachtet." Uwe Ebbinghaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.12.20

"Eine Streitschrift, die man verschlingt." Lenore Lötsch, NDR Kultur, 11.09.20

"Erkurt verbindet eine präzise Beobachtungsgabe mit viel Empathie und einem starken Urteilsvermögen." Eric Frey, Der Standard, 28.11.20

"Wenn es ein Buch gibt, das als aufklärerischer Ausgangspunkt für Diskurse genommen werden kannüber das, was in unseren Schulen schiefläuft, dann ist es dieses: 'Generation haram' von Melisa Erkurt." Sasa Stanisic, Deutschlandfunk Kultur, 07.12.20

"Wie Melisa Erkurt in ihrem klugen, realistischen Buch 'Generation haram' beeindruckend schildert, sind wir dabei, eine Generation ohne Sprache und Selbstwert' zu erzeugen." Hans Rauscher, Der Standard, 26.08.20

"Ein gescheites Buch, mit brennendem Herzen geschrieben." Peter Grubmüller, Oberösterreichische Nachrichten, 23.10.20

"'Generation Haram' ist ein gesellschaftspolitisches Buch, das jede_r lesen sollte, die_der nur irgendwas mit Bildung zu tun hat - und das schließt sowohl Eltern als auch (ehemalige) Schüler_innen mit ein." Wienerin, 19.08.20

"Melisa Erkurt hat mit ihrem Buch 'Generation Haram' einen Nerv getroffen." Martin Tschiderer, Wiener Zeitung, 21.08.20

"Melisa Erkurt nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Nicht auf Twitter, nicht in ihren Kolumnen im Falter und bei der taz, nicht impersönlichen Gespräch. Sie formuliert und argumentiert präzise, jeder Satz ein Treffer." Carmen Baumgartner-Pötz, Tiroler Tageszeitung, 15.08.20

"Erkurts Buch ist mit einer argumentativen Dichte und gleichzeitig mit einem Furor geschrieben, die ihresgleichen suchen. Es sollte Pflichtlektüre sein für alle, die sich an Bildungspolitik bzw. den Diskussionen darüber beteiligen - und am besten gleich auch für jedwede Pädagogin und jedweden Pädagogen." Simon Hadler, orf.at, 18.08.20

"Wer auf kurzweilige Unterhaltung mit einer fein dosierten Mischung aus Tragik und Komik aus ist kommt ebenso auf seine Kosten wie jemand, der zum Nachdenken, Reflektieren und Zweifeln angeregt werden oder ein bisschen Geschichtsunterricht erhalten will." Köksal Baltaci, Die Presse, 18.08.20
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