Die in den 1960er Jahren im Osten Deutschlands geborenen »Mauerkinder« waren jung genug, um sich ab 1989 die Welt zu erobern - eine glückliche Generation? Ines Geipel sucht im Dialog zwischen persönlichem Schicksal und aktueller Forschung der Biographie ihrer Generation auf die Spur zu kommen.
Im System Honecker herangewachsen galten die heute 45- bis 55-Jährigen als die Distanzierten, Staatsfernen, für die das Jahr 1989 dann zum Sprungbrett ins größere Deutschland und in die Welt wurde. Sind sie wirklich auf der Gewinnerseite gelandet? Oder hat die zähe Prägekraft der späten DDR mit ihren politischen Tabus, dem Bespitzeln und Verhindern von Individualität à la longue doch ihren Tribut gefordert? Ines Geipel erforscht das Lebensgefühl ihrer Generation in Tiefeninterviews mit Mauerkindern und in aktuellen psychologisch-soziologischen Untersuchungen. Sie findet den Zugang zu einer Generationenerzählung, die von großen Hypotheken, aber auch von großen Chancen handelt.
Im System Honecker herangewachsen galten die heute 45- bis 55-Jährigen als die Distanzierten, Staatsfernen, für die das Jahr 1989 dann zum Sprungbrett ins größere Deutschland und in die Welt wurde. Sind sie wirklich auf der Gewinnerseite gelandet? Oder hat die zähe Prägekraft der späten DDR mit ihren politischen Tabus, dem Bespitzeln und Verhindern von Individualität à la longue doch ihren Tribut gefordert? Ines Geipel erforscht das Lebensgefühl ihrer Generation in Tiefeninterviews mit Mauerkindern und in aktuellen psychologisch-soziologischen Untersuchungen. Sie findet den Zugang zu einer Generationenerzählung, die von großen Hypotheken, aber auch von großen Chancen handelt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Heinz Bude findet in Ines Geipels Buch über die letzte Generation der DDR Aufschlussreiches über tragische Gemütszustände von Durchstartern wie Neo Rauch oder Maybrit Illner. Warum fühlen sich diese Menschen häufig deplatziert in deutschen Verhältnissen? Ihre unerzählte Geschichte, meint Bude, wird nun von Geipel in dichter expressionistischer Sprache beschrieben. Träume von Isolation und Schmerz und Angst vor Untreue einem sich als falsch erwiesenen System gegenüber begegnen Bude, und dahinter scheinen für ihn immer wieder Gründe für das Ende der DDR auf.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.02.2014Hälfte des Lebens
1989 waren sie schon erwachsen, aber noch jung. Sie konnten neu beginnen.
Ines Geipel versucht sich an einem Porträt der „Generation Mauer“
VON JENS BISKY
Wir sagen nicht gern „wir“. Wir kultivieren lieber das Nicht-Dazugehören. Zu lang hat man uns, die wir in den sechziger Jahren in der DDR geboren wurden, fürs Kollektive erzogen und dabei – gegen die Absicht – den Wunsch zum Ausbruch gestärkt. Auch ich gehöre zu dieser Alterskohorte, deren Erfahrungen die Autorin Ines Geipel in einem Porträt nachspürt. Zwar spricht Geipel von einer „Generation“, doch verweigert sie ihr die Marketingfloskeln, die das Genre der Generationenporträts auszeichnen. Diese Gruppe erschließt sich im Nachvollzug verschiedener Lebensgeschichten.
Da ist zunächst die der Autorin, geboren 1960 in Dresden. Der Vater ist Chorleiter, wird Direktor des Pionierpalastes. Oft ist er „auf Lehrgang“, wie die Mutter sagt. Die Tochter weiß heute, dass er im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit in die Bundesrepublik gereist ist, um „operative Aufträge“ zu erfüllen. Wenn er dann wieder am Weißen Hirsch ist, ein Bier getrunken, mit der Mutter gesprochen hat, nähert er dem Zimmer der Tochter, reißt die Tür auf, zerrt sie aus dem Bett und geht „zu seinen Exerzitien über“. Der Vater leidet an Schuppenflechte. Das sei „das Zivilste“ an ihm gewesen: „Je mehr er sich in mir totzuschlagen versuchte, desto wunder wurde er. Sein Panzer schuppte.“
Sie ging auf eine Russisch-Internatsschule in Wickersdorf, wurde eine der besten Sprinterinnen der Welt, 1984 verliebte sie sich während des Trainings für die Olympischen Spiele in einen mexikanischen Geher. Die Staatssicherheit organisierte Zersetzungsmaßnahmen. Ines Geipel begann in Jena ein Germanistikstudium, floh 1989 über Ungarn in den Westen, lebte zunächst in Darmstadt, dann zog sie nach Berlin. In den neunziger Jahren begann sie die Werke verbotener und vergessener Werke zu bergen, zu edieren. Ein erster Band mit Texten Inge Müllers war eine Pioniertat. 2001 gründete sie das „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“. Daneben schrieb sie, Romane, eine Inge-Müller-Biografie, Sachbücher.
Ines Geipels Erinnerungen stehen neben den Lebensgeschichten von Freunden, Bekannten, darunter der Maler Moritz Götze, der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der Literaturhausleiter Hauke Hückstädt, der Schauspieler Tobias Langhoff. Da ist der Freund Robby, der Sohn eines Militärstaatsanwaltes nahm sich, kaum dass die Mauer gefallen war, das Leben, da sind Kommilitoninnen, Erlebnisse auf Podien, vor Gericht, Klassentreffen.
Wie war, wie ist sie nun, die Generation der Ines Geipel? Sympathischerweise scheut die Autorin die forschen Zuschreibungen, konstatiert lediglich „Angst vor Selbstverlust“, „Angst vor dem Schuldigwerden“ und eine „explizite Skepsis gegenüber Macht“. Leicht wäre es gewesen, die „privilegierteste Generation“ (Moritz Götze) als eine zu beschreiben, die sich losgerissen hat, die dank biografischer Gnade den Schritt in die Welt hinaus wagen konnte und wagte. Ines Geipel zeigt vor allem, wie mächtig die Erfahrungen in der DDR gewesen sind. Sie lassen nicht los, sie lassen sich auch nicht, wie die jüngeren „Zonenkinder“ es versuchten, zu emotionalen Konsumgütern verniedlichen. Ihre Generation sieht Geipel in der Rolle der „Entschweiger“: Sie habe die Aufgabe und ein Interesse daran, die Geschichten der Eltern zu rekonstruieren, Lügen, Illusionen, Hilfskonstruktionen zu erkennen.
Wer Mitte der sechziger Jahr geboren wurde, hat inzwischen ebenso viele Jahre im neuen Deutschland wie DDR-Jahre hinter sich. Er muss über den Titel des Buches stolpern: „Generation Mauer“. Warum nicht „Generation Mauerfall“? Hat nicht das Revolutionsjahr 1989 den Blick auf die DDR wie auf alle Gesellschaften verändert? Einem Höhepunkt des Jahres, der Berliner Demonstration am 4. November 1989, widmet Geipel ein eigenes Kapitel, das allein die Lektüre des Buches lohnt. War die machtvolle Kundgebung ein Versuch der Machthaber, Druck aus dem Kessel zu lassen, Einfluss zu sichern, Positionen zurückzuerobern? Ausführlich schildert sie die Spannung zwischen den klugen Sätzen der Redner, „die von oben eine eine nächste Runde Sozialismus ansagten“, und jenen, die unten ausharrten.
Im Rückblick wundert sich einer über die „Mega-Werbeveranstaltung für den endlichen, wahren, reinen Sozialismus“, wo das Gebot der Stunde doch hätte heißen müssen: „Schluss, Aus, Ende . . . Keinen Tag länger.“ Es gibt nur wenige Texte, in denen die Spannungen zwischen heutigem Wissen, damaligen Hoffnungen, zwischen unvereinbaren Ansichten benannt und ausgehalten werden wie in diesem Versuch, den 4. November zu verstehen.
Im Ganzen aber geht dieser Versuch, eine Generation zu porträtieren, nicht auf. Die zweite Lebenshälfte bleibt dafür zu blass. Es stimmt ja, dass „wir“ genug DDR erlebt haben, um „uns“ nicht widerspruchslos unter „pragmatisch“, „hedonistisch“, „glücklich“ einordnen zu lassen. Aber den Erfahrungen der Neuerfindung einer Gesellschaft, des nervenden Ost-West-Hickhacks, der nun bald zweieinhalb Jahrzehnte im Westen wird diese Fixierung aufs Herkommen, auf Kindheitsmuster nicht gerecht.
„Angekommen in der Geschichte“ klingt gut, sagt aber wenig. Ist die Haltung zur DDR wirklich noch das, was unser „Ich“ definiert? Fragen „wir“, zwischen 45 und 55 Jahre alt, uns nicht vielmehr, wie wir die plötzliche Freiheit genutzt haben? Eine Frage, die allerdings mit der verbunden sein kann, wann und warum wir in alte Rollen zurückgefallen sind. Mit bislang mehr Lärm als Ertrag versucht inzwischen eine „Dritte Generation Ostdeutschland“, die Welt von der Wichtigkeit ihrer Erfahrungen zu überzeugen: eine „Simulationsidentität“. Dagegen helfen klug erzählte Erinnerungen wie diese. Den Verdacht aber, dass die Ost-Erfahrungen längst von anderen überlagert wurden, dass ihr Kurs gesunken ist, dass auch für „uns“ die Leitdifferenz nicht mehr Ost-Kind oder West-Kind heißt, können sie nicht ausräumen.
Ines Geipel: Generation Mauer. Ein Porträt. Klett Cotta, Stuttgart 2014. 275 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Die Trabis sind verschwunden, was aber bleibt von der mittleren DDR-Generation?
Foto: Regina Schmeken
Die Weltklasse-Sprinterin Ines Geipel floh 1989 aus Jena über Ungarn nach Westdeutschland. Heute ist sie Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Foto: dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
1989 waren sie schon erwachsen, aber noch jung. Sie konnten neu beginnen.
Ines Geipel versucht sich an einem Porträt der „Generation Mauer“
VON JENS BISKY
Wir sagen nicht gern „wir“. Wir kultivieren lieber das Nicht-Dazugehören. Zu lang hat man uns, die wir in den sechziger Jahren in der DDR geboren wurden, fürs Kollektive erzogen und dabei – gegen die Absicht – den Wunsch zum Ausbruch gestärkt. Auch ich gehöre zu dieser Alterskohorte, deren Erfahrungen die Autorin Ines Geipel in einem Porträt nachspürt. Zwar spricht Geipel von einer „Generation“, doch verweigert sie ihr die Marketingfloskeln, die das Genre der Generationenporträts auszeichnen. Diese Gruppe erschließt sich im Nachvollzug verschiedener Lebensgeschichten.
Da ist zunächst die der Autorin, geboren 1960 in Dresden. Der Vater ist Chorleiter, wird Direktor des Pionierpalastes. Oft ist er „auf Lehrgang“, wie die Mutter sagt. Die Tochter weiß heute, dass er im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit in die Bundesrepublik gereist ist, um „operative Aufträge“ zu erfüllen. Wenn er dann wieder am Weißen Hirsch ist, ein Bier getrunken, mit der Mutter gesprochen hat, nähert er dem Zimmer der Tochter, reißt die Tür auf, zerrt sie aus dem Bett und geht „zu seinen Exerzitien über“. Der Vater leidet an Schuppenflechte. Das sei „das Zivilste“ an ihm gewesen: „Je mehr er sich in mir totzuschlagen versuchte, desto wunder wurde er. Sein Panzer schuppte.“
Sie ging auf eine Russisch-Internatsschule in Wickersdorf, wurde eine der besten Sprinterinnen der Welt, 1984 verliebte sie sich während des Trainings für die Olympischen Spiele in einen mexikanischen Geher. Die Staatssicherheit organisierte Zersetzungsmaßnahmen. Ines Geipel begann in Jena ein Germanistikstudium, floh 1989 über Ungarn in den Westen, lebte zunächst in Darmstadt, dann zog sie nach Berlin. In den neunziger Jahren begann sie die Werke verbotener und vergessener Werke zu bergen, zu edieren. Ein erster Band mit Texten Inge Müllers war eine Pioniertat. 2001 gründete sie das „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“. Daneben schrieb sie, Romane, eine Inge-Müller-Biografie, Sachbücher.
Ines Geipels Erinnerungen stehen neben den Lebensgeschichten von Freunden, Bekannten, darunter der Maler Moritz Götze, der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der Literaturhausleiter Hauke Hückstädt, der Schauspieler Tobias Langhoff. Da ist der Freund Robby, der Sohn eines Militärstaatsanwaltes nahm sich, kaum dass die Mauer gefallen war, das Leben, da sind Kommilitoninnen, Erlebnisse auf Podien, vor Gericht, Klassentreffen.
Wie war, wie ist sie nun, die Generation der Ines Geipel? Sympathischerweise scheut die Autorin die forschen Zuschreibungen, konstatiert lediglich „Angst vor Selbstverlust“, „Angst vor dem Schuldigwerden“ und eine „explizite Skepsis gegenüber Macht“. Leicht wäre es gewesen, die „privilegierteste Generation“ (Moritz Götze) als eine zu beschreiben, die sich losgerissen hat, die dank biografischer Gnade den Schritt in die Welt hinaus wagen konnte und wagte. Ines Geipel zeigt vor allem, wie mächtig die Erfahrungen in der DDR gewesen sind. Sie lassen nicht los, sie lassen sich auch nicht, wie die jüngeren „Zonenkinder“ es versuchten, zu emotionalen Konsumgütern verniedlichen. Ihre Generation sieht Geipel in der Rolle der „Entschweiger“: Sie habe die Aufgabe und ein Interesse daran, die Geschichten der Eltern zu rekonstruieren, Lügen, Illusionen, Hilfskonstruktionen zu erkennen.
Wer Mitte der sechziger Jahr geboren wurde, hat inzwischen ebenso viele Jahre im neuen Deutschland wie DDR-Jahre hinter sich. Er muss über den Titel des Buches stolpern: „Generation Mauer“. Warum nicht „Generation Mauerfall“? Hat nicht das Revolutionsjahr 1989 den Blick auf die DDR wie auf alle Gesellschaften verändert? Einem Höhepunkt des Jahres, der Berliner Demonstration am 4. November 1989, widmet Geipel ein eigenes Kapitel, das allein die Lektüre des Buches lohnt. War die machtvolle Kundgebung ein Versuch der Machthaber, Druck aus dem Kessel zu lassen, Einfluss zu sichern, Positionen zurückzuerobern? Ausführlich schildert sie die Spannung zwischen den klugen Sätzen der Redner, „die von oben eine eine nächste Runde Sozialismus ansagten“, und jenen, die unten ausharrten.
Im Rückblick wundert sich einer über die „Mega-Werbeveranstaltung für den endlichen, wahren, reinen Sozialismus“, wo das Gebot der Stunde doch hätte heißen müssen: „Schluss, Aus, Ende . . . Keinen Tag länger.“ Es gibt nur wenige Texte, in denen die Spannungen zwischen heutigem Wissen, damaligen Hoffnungen, zwischen unvereinbaren Ansichten benannt und ausgehalten werden wie in diesem Versuch, den 4. November zu verstehen.
Im Ganzen aber geht dieser Versuch, eine Generation zu porträtieren, nicht auf. Die zweite Lebenshälfte bleibt dafür zu blass. Es stimmt ja, dass „wir“ genug DDR erlebt haben, um „uns“ nicht widerspruchslos unter „pragmatisch“, „hedonistisch“, „glücklich“ einordnen zu lassen. Aber den Erfahrungen der Neuerfindung einer Gesellschaft, des nervenden Ost-West-Hickhacks, der nun bald zweieinhalb Jahrzehnte im Westen wird diese Fixierung aufs Herkommen, auf Kindheitsmuster nicht gerecht.
„Angekommen in der Geschichte“ klingt gut, sagt aber wenig. Ist die Haltung zur DDR wirklich noch das, was unser „Ich“ definiert? Fragen „wir“, zwischen 45 und 55 Jahre alt, uns nicht vielmehr, wie wir die plötzliche Freiheit genutzt haben? Eine Frage, die allerdings mit der verbunden sein kann, wann und warum wir in alte Rollen zurückgefallen sind. Mit bislang mehr Lärm als Ertrag versucht inzwischen eine „Dritte Generation Ostdeutschland“, die Welt von der Wichtigkeit ihrer Erfahrungen zu überzeugen: eine „Simulationsidentität“. Dagegen helfen klug erzählte Erinnerungen wie diese. Den Verdacht aber, dass die Ost-Erfahrungen längst von anderen überlagert wurden, dass ihr Kurs gesunken ist, dass auch für „uns“ die Leitdifferenz nicht mehr Ost-Kind oder West-Kind heißt, können sie nicht ausräumen.
Ines Geipel: Generation Mauer. Ein Porträt. Klett Cotta, Stuttgart 2014. 275 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Die Trabis sind verschwunden, was aber bleibt von der mittleren DDR-Generation?
Foto: Regina Schmeken
Die Weltklasse-Sprinterin Ines Geipel floh 1989 aus Jena über Ungarn nach Westdeutschland. Heute ist sie Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2014Das geteilte Deutschland lässt sie nie mehr los
Angst vor der Untreue etwas Falschem gegenüber: Ines Geipel kennt die Beschwerden der Mauerkinder
Ines Geipel hat ein aufschlussreiches Buch über die letzte Generation der DDR geschrieben. Es handelt sich um die Ostdeutschen, die in den sechziger Jahren geboren wurden und heute an vielen Stellen des vereinten Deutschlands in gute Positionen gelangt sind. Sei es als kompetente Facharbeiter, sei es als wichtige Leute in den Medien, sei es als dynamische Unternehmer oder als weltweit begehrte Kulturproduzenten. Neo Rauch gehört dazu, Maybrit Illner oder die Leute von "Rammstein".
Diese Generation ist eigentlich eine glückliche Generation. Das System der DDR hat sie in pragmatischer Distanz und hedonistischer Unbekümmertheit über sich ergehen lassen. Man hörte David Bowie und hockte im Schichtarbeiterkino, man steckte sich in Röhrenjeans, und wenn man studiert hatte, gehörten die Bücher aus dem Merve Verlag zur Bibliothek des Lebens. 1989 kam für diese Kohorte zum biographisch besten Zeitpunkt. Sie sind dann richtig durchgestartet und haben sich ziemlich mühelos ins neue Deutschland integriert. Trotzdem sind sie von einem unglücklichen Bewusstsein beherrscht. Ines Geipel beschreibt, wie ihre Altersgenossen immer wieder von tragischen Gemütszuständen eingeholt werden und sich am Ende deplaziert in den deutschen Verhältnissen fühlen. Man wollte sich ironisch davonstehlen und fand sich plötzlich als die letzte tragische Generation, die noch eine echte Verbindung zum geteilten Deutschland und zum vergangenen Jahrhundert besitzt. Für Ines Geipel ist das der Grund für die seltsame Unerzähltheit der Geschichte ihrer eigenen Generation.
Man erfährt in diesem Buch viel über die Gründe der Implosion der DDR. Schließlich ist diese Gesellschaft am Ende daran zugrunde gegangen, dass eine endlose Schlange junger Familien mit ihren kleinen Trabants das Land über Ungarn verlassen hat. Ihnen ging es weder schlecht, noch wurden sie von dem Repressionssystem dieses Staates verfolgt. Sie hatten einfach genug vom Sozialismus der Einsperrung, an dem auch ein menschliches Antlitz nichts mehr ändern konnte.
Ines Geipel beschreibt die widersprüchliche Situation bei der letzten großen Demonstration vom 4. November 1989 in Berlin. Auf dem Podium standen Gregor Gysi, Markus Wolf, Christa Wolf und Heiner Müller und wollten die Menge davon überzeugen, dass man den Sozialismus noch retten könne. Aber sie merkten überhaupt nicht, dass ihnen niemand mehr zuhören wollte. Von heute aus war das ein Augenblick der kollektiven Entscheidung: "Exit" war wichtiger als "voice".
Die Mauerkinder sind über Nacht losgegangen und haben Erich Honecker mit seinem Land alleingelassen. Mehr als vierzig Prozent der rund 350 000 Ostdeutschen, die zwischen August und November 1989 die DDR verlassen haben, sind zu dieser Generation zu zählen. "Erich - nein, danke! Wir sind glücklich!" In einer eigentümlich expressionistischen Sprache beschreibt Ines Geipel viele schwere Träume, die von Isolation, Schmerz und Tod handeln. Man hat dem System der Herkunft den Todesstoß versetzt und fühlt sich am Ende offenbar trotzdem nicht wirklich befreit. Das ganze Buch zeugt von der Angst vor der Untreue zu etwas, das sich als falsch erwiesen hat.
Die Gleichaltrigen im Westen haben den Punk, den Dekonstruktivismus und die Grünen für sich entdeckt. Das war ein großangelegtes historisches Entlastungsprogramm, von dem Deutschland heute profitiert. Die Ostvariante dieser Generation will dagegen auf Erfahrung, Geschichte und Erinnerung bestehen. Die heutigen Mittfünfziger hadern immer noch damit, dass das Gewesene doch nicht nur gewesen sein kann.
Wenn man Ines Geipels dichter Beschreibung Glauben schenkt, sperrt sich die Generation der Mauerkinder dem Vergleich mit dem Befinden ihrer Generationsgenossen in weiteren Kontexten und anderen Ländern ostwärts wie westwärts. Mit dem Pathos, dass die Geschichte ihres ungelebten Lebens jetzt endlich erzählt werden müsste, verkapseln sich die Mauerkinder in einem geschichtlichen Sonderbewusstsein, das ihnen offensichtlich gar nicht guttut. Es fällt ihnen schwer, sich vergleichbar zu machen und in den Augen der anderen zu sehen. Vielleicht ist das von den Mitgliedern dieser Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaft zu viel verlangt. Es wäre aber die Voraussetzung dafür, die DDR als Teil der deutschen Geschichte zu begreifen, mit der sie nicht allein sind.
HEINZ BUDE
Ines Geipel: "Generation Mauer". Ein Porträt. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2014. 275 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Angst vor der Untreue etwas Falschem gegenüber: Ines Geipel kennt die Beschwerden der Mauerkinder
Ines Geipel hat ein aufschlussreiches Buch über die letzte Generation der DDR geschrieben. Es handelt sich um die Ostdeutschen, die in den sechziger Jahren geboren wurden und heute an vielen Stellen des vereinten Deutschlands in gute Positionen gelangt sind. Sei es als kompetente Facharbeiter, sei es als wichtige Leute in den Medien, sei es als dynamische Unternehmer oder als weltweit begehrte Kulturproduzenten. Neo Rauch gehört dazu, Maybrit Illner oder die Leute von "Rammstein".
Diese Generation ist eigentlich eine glückliche Generation. Das System der DDR hat sie in pragmatischer Distanz und hedonistischer Unbekümmertheit über sich ergehen lassen. Man hörte David Bowie und hockte im Schichtarbeiterkino, man steckte sich in Röhrenjeans, und wenn man studiert hatte, gehörten die Bücher aus dem Merve Verlag zur Bibliothek des Lebens. 1989 kam für diese Kohorte zum biographisch besten Zeitpunkt. Sie sind dann richtig durchgestartet und haben sich ziemlich mühelos ins neue Deutschland integriert. Trotzdem sind sie von einem unglücklichen Bewusstsein beherrscht. Ines Geipel beschreibt, wie ihre Altersgenossen immer wieder von tragischen Gemütszuständen eingeholt werden und sich am Ende deplaziert in den deutschen Verhältnissen fühlen. Man wollte sich ironisch davonstehlen und fand sich plötzlich als die letzte tragische Generation, die noch eine echte Verbindung zum geteilten Deutschland und zum vergangenen Jahrhundert besitzt. Für Ines Geipel ist das der Grund für die seltsame Unerzähltheit der Geschichte ihrer eigenen Generation.
Man erfährt in diesem Buch viel über die Gründe der Implosion der DDR. Schließlich ist diese Gesellschaft am Ende daran zugrunde gegangen, dass eine endlose Schlange junger Familien mit ihren kleinen Trabants das Land über Ungarn verlassen hat. Ihnen ging es weder schlecht, noch wurden sie von dem Repressionssystem dieses Staates verfolgt. Sie hatten einfach genug vom Sozialismus der Einsperrung, an dem auch ein menschliches Antlitz nichts mehr ändern konnte.
Ines Geipel beschreibt die widersprüchliche Situation bei der letzten großen Demonstration vom 4. November 1989 in Berlin. Auf dem Podium standen Gregor Gysi, Markus Wolf, Christa Wolf und Heiner Müller und wollten die Menge davon überzeugen, dass man den Sozialismus noch retten könne. Aber sie merkten überhaupt nicht, dass ihnen niemand mehr zuhören wollte. Von heute aus war das ein Augenblick der kollektiven Entscheidung: "Exit" war wichtiger als "voice".
Die Mauerkinder sind über Nacht losgegangen und haben Erich Honecker mit seinem Land alleingelassen. Mehr als vierzig Prozent der rund 350 000 Ostdeutschen, die zwischen August und November 1989 die DDR verlassen haben, sind zu dieser Generation zu zählen. "Erich - nein, danke! Wir sind glücklich!" In einer eigentümlich expressionistischen Sprache beschreibt Ines Geipel viele schwere Träume, die von Isolation, Schmerz und Tod handeln. Man hat dem System der Herkunft den Todesstoß versetzt und fühlt sich am Ende offenbar trotzdem nicht wirklich befreit. Das ganze Buch zeugt von der Angst vor der Untreue zu etwas, das sich als falsch erwiesen hat.
Die Gleichaltrigen im Westen haben den Punk, den Dekonstruktivismus und die Grünen für sich entdeckt. Das war ein großangelegtes historisches Entlastungsprogramm, von dem Deutschland heute profitiert. Die Ostvariante dieser Generation will dagegen auf Erfahrung, Geschichte und Erinnerung bestehen. Die heutigen Mittfünfziger hadern immer noch damit, dass das Gewesene doch nicht nur gewesen sein kann.
Wenn man Ines Geipels dichter Beschreibung Glauben schenkt, sperrt sich die Generation der Mauerkinder dem Vergleich mit dem Befinden ihrer Generationsgenossen in weiteren Kontexten und anderen Ländern ostwärts wie westwärts. Mit dem Pathos, dass die Geschichte ihres ungelebten Lebens jetzt endlich erzählt werden müsste, verkapseln sich die Mauerkinder in einem geschichtlichen Sonderbewusstsein, das ihnen offensichtlich gar nicht guttut. Es fällt ihnen schwer, sich vergleichbar zu machen und in den Augen der anderen zu sehen. Vielleicht ist das von den Mitgliedern dieser Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaft zu viel verlangt. Es wäre aber die Voraussetzung dafür, die DDR als Teil der deutschen Geschichte zu begreifen, mit der sie nicht allein sind.
HEINZ BUDE
Ines Geipel: "Generation Mauer". Ein Porträt. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2014. 275 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Sofern Sie sich selbst in irgendeiner Weise mit der Ost-West-Thematik auseinandersetzen oder in therapeutischen Kontexten mit Menschen dieser Generation zu tun haben, kaufen Sie dieses Buch. Sie werden ebenso wie ich bestimmte Ereignisse und Prozesse besser verstehen können. Es betrifft eine Generation, über die bisher zu wenig erzählt wurde, wie Ines Geipel selbst sagt, und an der exemplarisch Prozesse transgenerationaler Traumatransmission sichtbar werden.« Harald J. Freyberger, Trauma & Gewalt, November 2016 » ... feinsinnige Beobachtungen und gemeinsame Erfahrungen, die sich durch die spannenden Biographien ziehen. Sehr lesenswert.« Zeitzeichen, November 2014 »Über die Ängste, Brüche und unverhofften Glücksfälle ihrer "Generation Mauer" hat sie ein kluges und beeindruckend offenes Buch geschrieben.« Maja Anter, Gewandhaus-Magazin, August 2014 »Selten ist dieser Zustand des Weggehens und Nie-richtig-Ankommens so poetisch beschrieben worden wie von Geipel, inzwischen Professorin für Verssprache.« Chrismon plus, 7/2014 »... ein aufschlussreiches Buch über die letzte Generation der DDR ... Man erfährt in diesem Buch viel über die Gründe der Implosion der DDR.« Heinz Bude, FAZ, 21.5.2014»Es wird zwar viel geforscht zur deutsch-deutschen Geschichte, aber sind die Forschungsergebnisse auch als Realität ins mentale Bewusstsein der Deutschen eingegangen? Wohl nicht, denn sonst wären die Bücher von Ines Geipel nicht so aufwühlend und verstörend - und sie wären nicht so nötig, um die Abläufe in der eigenen Gesellschaft zu verstehen« Insa Wilke, Zeit online, 7.5.2014 >>Lesen Sie die ganze Rezension hier nach! »Ihre Generation sieht Geipel in der Rolle der "Entschweiger": Sie habe die Aufgabe und ein Interesse daran, die Geschichten der Eltern zu rekonstruieren, Lügen, Illusionen, Hilfskonstruktionen zu erkennen.« Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, 27.2.2014 »Generation Mauer" hebt die Sechziger aus der Anonymität einer DDR-Erinnerungsscham und setzt der Kessel-Buntes-Ostalgie und der bloßen Ironie-Verwertung kraftvolle Zeitgeschichten entgegen.« Peter Ufer, Sächsische Zeitung, 27.2.2014 »Reportage, Erinnerung, Reflexion: Das geht im Buch gekonnt ineinander über.« Christian Eger, Mitteldeutsche Zeitung, 8.3.2014 »... ein bemerkenswertes Psychogramm einer Generation.« Peter Ufer, Sächsische Presse, 27.2.2014
»... ein aufschlussreiches Buch über die letzte Generation der DDR ... Man erfährt in diesem Buch viel über die Gründe der Implosion der DDR.« Heinz Bude, FAZ, 21.5.2014 Heinz Bude FAZ 20140521