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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.02.2009

Wirtschaftsbuch
Warum Tafeln die Armut unterstützen
Seit dem frühen Morgen säumt die Schlange den Bürgersteig. Die Tür öffnet sich. In Reih und Glied betreten Menschen den Ausgaberaum. Nehmen einen Einkaufskorb, rücken von Position zu Position. Brot, Gemüse, Milch. „Ein Stück Marzipan?”, fragt die Dame hinter dem Tresen. „Danke.” Knappes Lächeln, schneller Schritt hinaus.
Lebensmitteltafeln in Deutschland. Seit 1994 ist ihre Zahl von sieben auf heute 800 emporgeschnellt. Es sind beängstigende Zahlen. Verunsichert, neugierig und bemüht, nicht vorschnell zu urteilen, hat der Soziologe Stefan Selke vor Ort recherchiert. Er ist auf eine Parallelwelt gestoßen, es ist die Welt der wachsenden Gruppe der Hartz-IV-Empfänger, der geringfügig Beschäftigten oder aus der Bahn Geworfenen, die sich „Fast ganz unten” – so lautet der Buchtitel – durchwursteln. Deren Armut kaum zu sehen ist und die auf die Krümel der Konsumgesellschaft angewiesen sind. Selke entdeckt ein „institutionalisiertes, ehrenamtliches Helfen”, das – genährt von eigenen Abstiegsängsten der Helfer – in Mode gekommen ist. Folgerichtig interpretiert er die Tafeln als „Trendsetter” einer „neuen sozialen Bewegung”.
Hinter den Tafeln legt Selke ein Geflecht frei, dessen Verästelungen sich weit durch die Gesellschaft ziehen. Möglich werden die Tafeln durch die Wegwerfgesellschaft, in der 20 Prozent der Lebensmittel für den Müll produziert werden, um Engpässe und Nachfrageschwankungen abfedern zu können. Und durch die Haltung der Konsumenten, die einen Apfel mit Druckstellen selbstverständlich im Regal liegen lassen. Selke beschreibt die Logik der Spender – Supermärkte, Bäckereien, Hotels – die nicht nur soziale Motive umtreiben, sondern auch wirtschaftliches Kalkül, denn die Tafeln sparen Entsorgungskosten.
Selke schreibt auch über die Gemeinschaft der Helfer, die sich – freiwillig oder als Ein-Euro-Jobber – engagieren. Nicht zuletzt, weil ihnen die typischen Abwärtsspiralen der Kunden so begreifbar sind, weil fast jeder jemanden kennt, der Arbeit, Haus, Partner und Perspektive verloren hat. Und weil diese Menschen eben nur fast, aber nicht ganz unten in Obdachlosigkeit, Drogenmilieu oder Kriminalität angekommen sind, taugen sie als Blaupause für Identifikation. Schließlich erzählt Selke über die Tafelvereine selbst, die jährlich 100 000 Tonnen aussortierte Lebensmittel verwerten und nicht nur Bedürftigen helfen, sondern auch die Logik einer Überflussgesellschaft stützen, die sich auf diese Weise leichter ertragen lässt.
Denn wenn Tafeln die Verteilung der Lebensmittel nach derselben Dramaturgie wie einen Einkauf im Supermarkt inszenieren, spielen sie ein Spiel mit: Sie vermeiden nicht nur, dass das Entgegennehmen der Ware zum Akt des Bettelns wird, sondern sie simulieren Normalität. Selke hält das für eine Fiktion, die zeigt, wie sehr das Leben der Grenzgänger ein selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft geworden ist. Hier liegt die Schattenseite des – zweifelsohne – verdienstvollen Tafelwesens: Es läuft Gefahr, soziale Ungleichheit zu stabilisieren, anstatt sie infrage zu stellen. Es ist eine Entwicklung, die sich noch verschärfen wird, wenn sich Tafeln weiter professionalisieren und differenzieren. Bereits jetzt gibt es Abgabestellen mit psychologischer Beratung. Wo Yoga-, Wellness- und Kaffeefahrt-Angebote für Arme nicht mehr weit sind, scheint die Parallelgesellschaft fast perfekt zu sein.
Stefan Selke ist ein fesselndes und eindringliches Buch gelungen, das in Zeiten von Börsencrash und Finanzkrise das allzu oft ausgeblendete Phänomen neuer Armut stärker in die Öffentlichkeit holt. Die vielen Wiederholungen im Buch sieht man ihm da gerne nach. Anja Dilk
Zum Thema
Über die neue Armut
Nadja Klinger, Jens König: Einfach abgehängt. Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland. Rowohlt Verlag, Berlin 2006, 256 Seiten, 14,90 Euro.
Das Buch enthält sensible Portraits und scharfe Analysen über die neue Armut, die längst auch die Mittelschicht bedroht.
Soziale Ungleichheit
Paul Nolte: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik. Verlag C. H. Beck, München 2004, 256 Seiten, 12,90 Euro.
Ein Klassiker zur sozialen Ungleichheit. In der Tradition des Sozialwissenschaftlers Pierre Bourdieux erinnert Historiker Nolte an die „klassenprägende Kraft von Konsum, Kultur und Lebensstil”.
Stefan Selke: Fast ganz unten.
Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2008,
231 Seiten, 19,90 Euro.
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