Kerstin kommt zu spät: Ihre Großmutter ist bereits beerdigt und das Fotoalbum, welches ihr versprochen wurde, ist nicht zu finden. Sie kommt nicht mehr weg aus der alten Dorfschule, in der ihre Großmutter Russischlehrerin war und in der sie aufwuchs. Kerstin wird von Effi heimgesucht, der sie noch die Einlösung eines Schwurs schuldig ist und Sternemann&Greiff, die - mit Rachegedanken ins Dorf zurückgekehrt - erfahren, wer sie damals wirklich ins Heim gebracht hat.Dem Buch sei eine Warnung vorangestellt: Es wird gefressen, sich vermehrt, zersetzt, geschlagen und Plasma gesungen. Niemand entkommt der rasenden Gewalt des veteranischen Wesens. Hermaphroditen, Kannibalen, Geschöpfe, die weder Tier noch Pflanze sind, gehen im Taumel der blütenlosen Hochzeit sofort in andere Formen des organischen Lebens über."Genossin Kuckuck" ist eine fantastische und zugleich autobiografische Bilderzählung, die den Bogen über eine Kindheit im Dorf Pritschitanow der 1960er Jahre bis zur Privatisierungvon Volkseigentum in den 1990ern spannt. Anke Feuchtenberger hat unter dem Arbeitstitel "Ein deutsches Tier im deutschen Wald" über ein Jahrzehnt an dieser Geschichte gearbeitet."Niemand sonst erzählt wie Anke Feuchtenberger, keiner kann sich dem Sog dieses Comics entziehen." - Andreas Platthaus, FAZ
"Niemand sonst erzählt wie Anke Feuchtenberger, keiner kann sich dem Sog dieses Comics entziehen." - Andreas Platthaus, FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2023Zu Ehren Anke Feuchtenbergers
Hamburg ist dank des Wirkens von Anke Feuchtenberger als Professorin für Illustration an der dortigen Hochschule für Angewandte Wissenschaften zum Zentrum der deutschen Comicszene geworden. Aus dem Kreis ihrer Schüler ist auch das Comicfestival Hamburg hervorgegangen, das in diesem Jahr bereits zum siebzehnten Mal veranstaltet wird und als seinen Stargast eben Anke Feuchtenberger begrüßt. Denn die 1963 in Ost-Berlin geborene Autorin, die in der Nachwendezeit mit ihren ebenso literarischen wie feministischen Comics auch international Furore gemacht hat, bringt nun einen seit Jahren in Arbeit befindlichen und deshalb schon legendenumwobenen Band heraus: "Genossin Kuckuck", auf der Grundlage ihrer eigenen Biographie entstanden und 450 Seiten stark. Deshalb wird das am 28. September beginnende viertägige Festival ihr eine Ausstellung und ein großes Symposion widmen. Weitere Ausstellungen und Präsentationen von Verlagen runden das Programm ab. F.A.Z.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hamburg ist dank des Wirkens von Anke Feuchtenberger als Professorin für Illustration an der dortigen Hochschule für Angewandte Wissenschaften zum Zentrum der deutschen Comicszene geworden. Aus dem Kreis ihrer Schüler ist auch das Comicfestival Hamburg hervorgegangen, das in diesem Jahr bereits zum siebzehnten Mal veranstaltet wird und als seinen Stargast eben Anke Feuchtenberger begrüßt. Denn die 1963 in Ost-Berlin geborene Autorin, die in der Nachwendezeit mit ihren ebenso literarischen wie feministischen Comics auch international Furore gemacht hat, bringt nun einen seit Jahren in Arbeit befindlichen und deshalb schon legendenumwobenen Band heraus: "Genossin Kuckuck", auf der Grundlage ihrer eigenen Biographie entstanden und 450 Seiten stark. Deshalb wird das am 28. September beginnende viertägige Festival ihr eine Ausstellung und ein großes Symposion widmen. Weitere Ausstellungen und Präsentationen von Verlagen runden das Programm ab. F.A.Z.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Martina Knoben betrachtet mit viel Freude Anke Feuchtenbergers Graphic Novel. Die Geschichte dreht sich um Kerstin und Effi, die zunächst beste Freundinnen sind. Traumartig entwickelt sich diese Geschichte, die in den 1960ern beginnt und in der DDR spielt - bei Feuchtenberg ein abgründiges, märchenhaft anmutendes Land. Schönheit und Schrecken sind nah beieinander in dieser Welt, etwa wenn es um Naturbeschreibungen geht, so Knoben weiter. Es sind vor allem die Naturbilder, mit Bleistift und Kohle illustriert, die Knoben nicht zuletzt durch ihre Vielschichtigkeit ganz besonders beeindrucken. Möglicherweise ist dieses Buch ein Meilenstein auf dem Weg zur Anerkennung der Graphic Novel als Kunstform, glaubt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2024Das geht auf die Knochen
Zum ersten Mal könnte eine Graphic Novel den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik gewinnen. Geschaffen wurde sie von Anke Feuchtenberger.
Skizzen macht sie nie, auch keine Storyboards. Es geht immer gleich ums Ganze, die Zeichnungen sind Versuche ins Unbekannte, sie können und dürfen sich auch verselbstständigen. „Die Zeichnungen sind, wie sie sind“, sagt Anke Feuchtenberger am Telefon. Wenn eine nicht gelungen sei, werfe sie das Blatt gleich wieder weg. Was bleiben darf, hängt sie in ihrem Atelier kapitelweise an die Wand: „Es ist wichtig, dass die Zeichnungen mich umgeben.“ Feuchtenberger zeichnet oft im Stehen, nicht nur mit Daumen und Zeigefinger, der ganze Körper arbeitet. „Wenn ich zeichne, will ich am liebsten selbst in den Raum der Zeichnungen eintreten können.“
Knapp 450 oft düstere, unheimliche, immer wieder auch märchenhaft schöne Seiten hat sie auf diese Weise für „Genossin Kuckuck“ geschaffen. Es ist ein wildes Werk, in dem sie von einer Kindheit und Jugend in der DDR erzählt, von den 1960er Jahren bis zur Privatisierung von Volkseigentum in den Neunzigern – aber nicht linear oder mit logisch nachvollziehbarer Story. Eher wie man träumt.
Fragmente sind entstanden, die das Persönliche mit dem Politischen, das Erspürte, Gefühlte, das Irreale mit Splittern von Historischem verbinden. Mehr als 13 Jahre hat Anke Feuchtenberger an diesem Mammutbuch gearbeitet. Als erste Graphic Novel überhaupt ist „Genossin Kuckuck. Ein deutsches Tier im deutschen Wald“ jetzt in der Kategorie Belletristik für den Leipziger Buchpreis nominiert.
Im Zentrum des Buches stehen das Mädchen Kerstin, das quasi ohne Eltern aufwächst, weil diese vor allem für den Sozialismus leben, und Kerstins beste Freundin Effi. Aber was heißt schon beste Freundin? Für einen „Westkaugummi“ wird Kerstin von Effi verraten, dabei hatten die beiden Kinder einander doch versprochen, sich immer zu lieben. Als Beweis ihrer Liebe soll Kerstin ihre Hand in das Maul eines ausgestopften Keilers legen, dessen Kopf an der Wand hängt. Der will ihre Hand dann aber nicht wieder hergeben: „Du kommst hier nie mehr raus.“
Diese Heimat ist abgründig, oft finster und grausam wie im Märchen, die DDR ein Stück historischer Wirklichkeit, die heute schon wie geträumt anmutet. Der nette Opi Grund füttert seine Tiere aus Schüsseln, auf deren Grund sich ein Hakenkreuz befindet und befummelt Kerstin in der Garage. Effi dreht bei einem Dorffest Pirouetten auf dem Eis, bis es schmilzt, nur noch Müll im See herumdümpelt und alle sauer sind auf sie. Der Hündin Mona wird von einem Keiler der Bauch aufgeschlitzt. Anke Feuchtenberger hat selbst Hunde, es muss wehgetan haben, diese Sequenz zu zeichnen. Schneckenmädchen tragen vertrocknete Artgenossinnen zum Wasser. So gruselig das immer wieder ist – vor allem Pflanzen und Tiere sind in diesem Buch meist hypnotisch schön. Sie sind mit so viel zärtlicher Hingabe gezeichnet – man möchte sich in dieser verführerisch sinnlichen Welt verlieren.
Gezeichnet ist das Buch vor allem mit Bleistift und Kohle. Sie massiere Grafit und Kohle zunächst in das Papier ein, mit dem sie arbeitet, sagt Feuchtenberger. So entstehe eine graue Masse, „aus der ich dann das Weiß heraushole.“ – „Das geht ganz schön auf die Knochen.“ Während Feuchtenberger in ihren Büchern gewöhnlich bei einem Zeichenstil bleibt (eine Ausnahme war „Die Spaziergängerin“ von 2012), hat sie bei „Genossin Kuckuck“ mit unterschiedlichen Materialien gearbeitet, je nach Charakter der Kapitel. Im Buch gibt es viel Schwarz und Weiß, aber auch ein beißendes Rot. Feuchtenberger hat hier mit roter Tusche auf weißem Papier gearbeitet, was schneller geht und die vom Einmassieren von Kohle und Grafit beanspruchte Hand entlastete. Die „roten Kapitel“ seien außerdem besonders heftige, grausame Kapitel, die Arbeit mit Tusche hätte ihr geholfen, durch diese Passagen schneller durchzuzeichnen.
War die DDR, war ihre Kindheit wie im Buch? „Es ist alles absolut wahr und es ist alles erfunden“, sagt Anke Feuchtenberger, und ergänzt, dass sie das schon häufig in Interviews gesagt habe, der Satz also etwas abgenutzt sei – aber besser könne sie es nicht formulieren. Comic möchte man ihre grafische Erzählung jedenfalls nicht nennen. Bilder fügen sich zu Assoziationsräumen, ohne Sprechblasen, ohne klare Story. Da steht die Leserin schon mal wie der Ochs vorm Berg – was als Sprachbild ausnahmsweise erlaubt ist, weil Anke Feuchtenberger selbst so viel Natur in ihre Erzählungen einbezieht.
Wenn sie sage, dass ihre Bücher von „Alltäglichem“ handeln, dann meine sie nicht den Alltag einer alleinerziehenden Mutter oder Ähnliches, sondern das „Eintauchen in den Raum“, die „Beobachtung von Licht, von Himmel“ – und sie meint Schnecken. Als ihr Garten von einer Schneckenplage heimgesucht wurde (Anke Feuchtenberger lebt in Hamburg und in Vorpommern), habe sie sich eine Stunde hingesetzt und die Tiere beobachtet – und dann „Die Königin Vonjanze“ gezeichnet: Natur auf Schneckenaugenhöhe, mit faszinierenden Schneckenporträts, dazu Sätze wie dieser: „Sie wiegt anmutig grüssend ihr Köpfchen hin und her.“ Schönheit und Ekel liegen in Feuchtenbergers Büchern nah beieinander. Geboren wurde sie 1963 in Ost-Berlin, in ihrer Jugend spielten Comics noch keine Rolle. „Mosaik“, das beliebte Comicheft der DDR, habe sie nicht gekannt. Feuchtenberger studierte Bildhauerei und Grafik, entwarf Plakate fürs Theater, eine erste Verbindung von Zeichnung und Erzählung. Als sie nach dem Ende der DDR mit dem Comiczeichnen begann, Mitte zwanzig war sie da, habe sie eine große Freiheit verspürt, eben weil sie als Kind keine Comics gelesen hatte, deren Stil sie hätte prägen können.
Dass sie so lang an „Genossin Kuckuck“ gearbeitet hat, liegt nicht nur am Buch selbst, sondern auch daran, dass Feuchtenberger zwei Berufe hat. Sie ist nicht nur die bedeutendste deutsche Comickünstlerin, die mit Werken wie „Die Hure H“ (mit einem Text von Katrin de Vries), „Die Spaziergängerin“ oder „Der Spalt“ grafisches Erzählen neu definiert hat – sondern hat auch als Hochschullehrerin die Comicszene geprägt wie keine andere. Seit 1997 unterrichtet sie als Professorin an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften Zeichnen und grafisches Erzählen. Zu ihren Studentinnen gehörten Birgit Weyhe (deren Comic „Rude Girl“ es 2023 in Leipzig in die Auswahl zum Buchpreis in der Sachbuch-Kategorie schaffte), Barbara Yelin oder Line Hoven. Wenn heute klassische Belletristik-Verlage Graphic Novels herausgeben und Comics für Literaturpreise nominiert sind, dann liegt das maßgeblich auch an ihr. Falls „Genossin Kuckuck“ an diesem Donnerstag mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet würde, wäre das ein weiterer Meilenstein auf dem Weg der Anerkennung des Comics als der „neunten Kunst“. Schon die Nominierung sei für die Comicszene ein wichtiges Signal gewesen, sagt Feuchtenberger, und denkt dabei vor allem auch an ihre Studenten. Sie unterrichtet gern, eine zweite Leidenschaft sei das. Den jungen Künstlern will sie mitgeben, was ihr selbst so wichtig ist: zeichnend in die Welt zu gehen, sie zeichnend zu sehen.
MARTINA KNOBEN
„Es ist alles absolut
wahr und es ist
alles erfunden.“
Sie ist die
bedeutendste deutsche
Comickünstlerin
Die Künstlerin und Comiczeichnerin Anke Feuchtenberger.
Foto: G. Glücklich
Erzählen, wie man träumt: Bildkonstellation aus Anke Feuchtenbergers Graphic Novel „Genossin Kuckuck“.
Foto: Feuchtenberger/Reprodukt, Berlin 2023
Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck. Ein deutsches Tier im deutschen Wald. Reprodukt, Berlin 2023. 426 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zum ersten Mal könnte eine Graphic Novel den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik gewinnen. Geschaffen wurde sie von Anke Feuchtenberger.
Skizzen macht sie nie, auch keine Storyboards. Es geht immer gleich ums Ganze, die Zeichnungen sind Versuche ins Unbekannte, sie können und dürfen sich auch verselbstständigen. „Die Zeichnungen sind, wie sie sind“, sagt Anke Feuchtenberger am Telefon. Wenn eine nicht gelungen sei, werfe sie das Blatt gleich wieder weg. Was bleiben darf, hängt sie in ihrem Atelier kapitelweise an die Wand: „Es ist wichtig, dass die Zeichnungen mich umgeben.“ Feuchtenberger zeichnet oft im Stehen, nicht nur mit Daumen und Zeigefinger, der ganze Körper arbeitet. „Wenn ich zeichne, will ich am liebsten selbst in den Raum der Zeichnungen eintreten können.“
Knapp 450 oft düstere, unheimliche, immer wieder auch märchenhaft schöne Seiten hat sie auf diese Weise für „Genossin Kuckuck“ geschaffen. Es ist ein wildes Werk, in dem sie von einer Kindheit und Jugend in der DDR erzählt, von den 1960er Jahren bis zur Privatisierung von Volkseigentum in den Neunzigern – aber nicht linear oder mit logisch nachvollziehbarer Story. Eher wie man träumt.
Fragmente sind entstanden, die das Persönliche mit dem Politischen, das Erspürte, Gefühlte, das Irreale mit Splittern von Historischem verbinden. Mehr als 13 Jahre hat Anke Feuchtenberger an diesem Mammutbuch gearbeitet. Als erste Graphic Novel überhaupt ist „Genossin Kuckuck. Ein deutsches Tier im deutschen Wald“ jetzt in der Kategorie Belletristik für den Leipziger Buchpreis nominiert.
Im Zentrum des Buches stehen das Mädchen Kerstin, das quasi ohne Eltern aufwächst, weil diese vor allem für den Sozialismus leben, und Kerstins beste Freundin Effi. Aber was heißt schon beste Freundin? Für einen „Westkaugummi“ wird Kerstin von Effi verraten, dabei hatten die beiden Kinder einander doch versprochen, sich immer zu lieben. Als Beweis ihrer Liebe soll Kerstin ihre Hand in das Maul eines ausgestopften Keilers legen, dessen Kopf an der Wand hängt. Der will ihre Hand dann aber nicht wieder hergeben: „Du kommst hier nie mehr raus.“
Diese Heimat ist abgründig, oft finster und grausam wie im Märchen, die DDR ein Stück historischer Wirklichkeit, die heute schon wie geträumt anmutet. Der nette Opi Grund füttert seine Tiere aus Schüsseln, auf deren Grund sich ein Hakenkreuz befindet und befummelt Kerstin in der Garage. Effi dreht bei einem Dorffest Pirouetten auf dem Eis, bis es schmilzt, nur noch Müll im See herumdümpelt und alle sauer sind auf sie. Der Hündin Mona wird von einem Keiler der Bauch aufgeschlitzt. Anke Feuchtenberger hat selbst Hunde, es muss wehgetan haben, diese Sequenz zu zeichnen. Schneckenmädchen tragen vertrocknete Artgenossinnen zum Wasser. So gruselig das immer wieder ist – vor allem Pflanzen und Tiere sind in diesem Buch meist hypnotisch schön. Sie sind mit so viel zärtlicher Hingabe gezeichnet – man möchte sich in dieser verführerisch sinnlichen Welt verlieren.
Gezeichnet ist das Buch vor allem mit Bleistift und Kohle. Sie massiere Grafit und Kohle zunächst in das Papier ein, mit dem sie arbeitet, sagt Feuchtenberger. So entstehe eine graue Masse, „aus der ich dann das Weiß heraushole.“ – „Das geht ganz schön auf die Knochen.“ Während Feuchtenberger in ihren Büchern gewöhnlich bei einem Zeichenstil bleibt (eine Ausnahme war „Die Spaziergängerin“ von 2012), hat sie bei „Genossin Kuckuck“ mit unterschiedlichen Materialien gearbeitet, je nach Charakter der Kapitel. Im Buch gibt es viel Schwarz und Weiß, aber auch ein beißendes Rot. Feuchtenberger hat hier mit roter Tusche auf weißem Papier gearbeitet, was schneller geht und die vom Einmassieren von Kohle und Grafit beanspruchte Hand entlastete. Die „roten Kapitel“ seien außerdem besonders heftige, grausame Kapitel, die Arbeit mit Tusche hätte ihr geholfen, durch diese Passagen schneller durchzuzeichnen.
War die DDR, war ihre Kindheit wie im Buch? „Es ist alles absolut wahr und es ist alles erfunden“, sagt Anke Feuchtenberger, und ergänzt, dass sie das schon häufig in Interviews gesagt habe, der Satz also etwas abgenutzt sei – aber besser könne sie es nicht formulieren. Comic möchte man ihre grafische Erzählung jedenfalls nicht nennen. Bilder fügen sich zu Assoziationsräumen, ohne Sprechblasen, ohne klare Story. Da steht die Leserin schon mal wie der Ochs vorm Berg – was als Sprachbild ausnahmsweise erlaubt ist, weil Anke Feuchtenberger selbst so viel Natur in ihre Erzählungen einbezieht.
Wenn sie sage, dass ihre Bücher von „Alltäglichem“ handeln, dann meine sie nicht den Alltag einer alleinerziehenden Mutter oder Ähnliches, sondern das „Eintauchen in den Raum“, die „Beobachtung von Licht, von Himmel“ – und sie meint Schnecken. Als ihr Garten von einer Schneckenplage heimgesucht wurde (Anke Feuchtenberger lebt in Hamburg und in Vorpommern), habe sie sich eine Stunde hingesetzt und die Tiere beobachtet – und dann „Die Königin Vonjanze“ gezeichnet: Natur auf Schneckenaugenhöhe, mit faszinierenden Schneckenporträts, dazu Sätze wie dieser: „Sie wiegt anmutig grüssend ihr Köpfchen hin und her.“ Schönheit und Ekel liegen in Feuchtenbergers Büchern nah beieinander. Geboren wurde sie 1963 in Ost-Berlin, in ihrer Jugend spielten Comics noch keine Rolle. „Mosaik“, das beliebte Comicheft der DDR, habe sie nicht gekannt. Feuchtenberger studierte Bildhauerei und Grafik, entwarf Plakate fürs Theater, eine erste Verbindung von Zeichnung und Erzählung. Als sie nach dem Ende der DDR mit dem Comiczeichnen begann, Mitte zwanzig war sie da, habe sie eine große Freiheit verspürt, eben weil sie als Kind keine Comics gelesen hatte, deren Stil sie hätte prägen können.
Dass sie so lang an „Genossin Kuckuck“ gearbeitet hat, liegt nicht nur am Buch selbst, sondern auch daran, dass Feuchtenberger zwei Berufe hat. Sie ist nicht nur die bedeutendste deutsche Comickünstlerin, die mit Werken wie „Die Hure H“ (mit einem Text von Katrin de Vries), „Die Spaziergängerin“ oder „Der Spalt“ grafisches Erzählen neu definiert hat – sondern hat auch als Hochschullehrerin die Comicszene geprägt wie keine andere. Seit 1997 unterrichtet sie als Professorin an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften Zeichnen und grafisches Erzählen. Zu ihren Studentinnen gehörten Birgit Weyhe (deren Comic „Rude Girl“ es 2023 in Leipzig in die Auswahl zum Buchpreis in der Sachbuch-Kategorie schaffte), Barbara Yelin oder Line Hoven. Wenn heute klassische Belletristik-Verlage Graphic Novels herausgeben und Comics für Literaturpreise nominiert sind, dann liegt das maßgeblich auch an ihr. Falls „Genossin Kuckuck“ an diesem Donnerstag mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet würde, wäre das ein weiterer Meilenstein auf dem Weg der Anerkennung des Comics als der „neunten Kunst“. Schon die Nominierung sei für die Comicszene ein wichtiges Signal gewesen, sagt Feuchtenberger, und denkt dabei vor allem auch an ihre Studenten. Sie unterrichtet gern, eine zweite Leidenschaft sei das. Den jungen Künstlern will sie mitgeben, was ihr selbst so wichtig ist: zeichnend in die Welt zu gehen, sie zeichnend zu sehen.
MARTINA KNOBEN
„Es ist alles absolut
wahr und es ist
alles erfunden.“
Sie ist die
bedeutendste deutsche
Comickünstlerin
Die Künstlerin und Comiczeichnerin Anke Feuchtenberger.
Foto: G. Glücklich
Erzählen, wie man träumt: Bildkonstellation aus Anke Feuchtenbergers Graphic Novel „Genossin Kuckuck“.
Foto: Feuchtenberger/Reprodukt, Berlin 2023
Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck. Ein deutsches Tier im deutschen Wald. Reprodukt, Berlin 2023. 426 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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