Ein wohlsituierter New Yorker Geschäftsmann stürzt urplötzlich in eine mentale Krise. Um zu gesunden, so spürt er, muss er seinen von grauem Erfolg geprägten Alltag hinter sich lassen, und kurzerhand tritt er eine Schiffsreise an. Kaum auf See, stellt sich die erhoffte Erleichterung tatsächlich ein, doch dann ... macht er einen einzigen falschen Schritt und landet mitten im Pazifik, während sein Schiff sich immer weiter von ihm entfernt. Was denkt ein Mensch in solch einer Situation? Woraus schöpft er Hoffnung? Und wie blickt er nun auf sein Leben, dessen er vor Kurzem noch so überdrüssig war?Mit Gentleman über Bord gelang Herbert Clyde Lewis ein tiefgründiges, genial komponiertes Meisterwerk, das fast ein Jahrhundert lang weitgehend unbeachtet blieb und in der vorzüglichen Übersetzung von Klaus Bonn jetzt endlich auf Deutsch vorliegt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2023Diese Seefahrt ist nicht lustig
Durstig im größten Gewässer der Welt: Bei Herbert Clyde Lewis geht ein "Gentleman über Bord".
Ach, noch einmal den wunderbaren Sonnenuntergang anschauen! Aber Vorsicht, Ölfleck an Deck, und, hast du's nicht gesehen, schon landet man im Wasser, genauer gesagt: im Pazifik! Da braucht man nicht einmal einen Albatros angeschossen zu haben, derart gemein kann das Schicksal einen strafen.
So ungefähr beginnt der im Original bereits 1937 erschienene kurze Roman "Gentleman über Bord" ("Gentleman Overboard") von Herbert Clyde Lewis. Der heute hinlänglich unbekannte Autor, Sohn einer aus Russland stammenden jüdischen Einwandererfamilie in New York, arbeitete als Reporter Anfang der Dreißigerjahre in China, dann in den Vereinigten Staaten. Gerade als sein erster Roman, eben "Gentleman Overboard" erschien, war Lewis in den Privatkonkurs geschlittert, zog nach Hollywood, schrieb Drehbücher, wurde für seinen Beitrag zum Film "Ein Leben wie ein Millionär" (1947, Originaltitel: "It Happened on 5th Avenue", deutscher Alternativtitel: "Der reichste Mann der Welt") mit seinem Ko-Autor Frederick Stephani für den Oscar nominiert (den sie aber nicht gewannen) und verstarb mit gerade einmal einundvierzig Jahren 1950 an einem Herzinfarkt. Sein letzter, vierter Roman, "The Silver Dark", kam 1959 postum heraus. Dennoch ein ziemlich bewegtes Leben.
Auf eine weniger bewegte Biographie muss sein Protagonist Henry Preston Standish, Mitte dreißig, Aktienmakler, verheiratet, zwei kleine Kinder, zurückblicken, als er da im Stillen Ozean vor sich hin planscht. Eben noch, da war es laut Borduhr etwa fünf in der Frühe, an Deck der "Arabella", eigentlich ein Frachtschiff, das aber wegen des Umsatzes stets auch rund ein Dutzend Passagiere - im konkreten Fall sind es acht, Standish miteingeschlossen - befördert, muss er zuschauen, wie das Schiff gemächlich am Horizont verschwindet. Niemand hat seinen Unfall in dieser frühen Stunde bemerkt, wach war ohnehin bloß der Smutje. Und der kümmerte sich bereits um das Frühstück, achtete also nicht auf den Frühaufsteher.
In insgesamt zehn Kapiteln schildert Lewis abwechselnd, was Standish so durch den Kopf geht - wieso ist er überhaupt auf diese Reise gegangen? Ach ja, sein Leben war ihm irgendwie zu langweilig geworden! - und was die übrigen Leute, Mannschaft und Passagiere, tun. Einige vermissen ihn übrigens schon um die Mittagszeit, aber machen sich noch keine wirklichen Sorgen. Der Kapitän erfährt überhaupt erst am mittleren Nachmittag, dass Standish verschwunden zu sein scheint, und wird eher grantig, da er nun vermutlich das Schiff wenden lassen muss, um nach dem Typen zu suchen.
Mit doch ziemlich schwarzem Humor, aber keineswegs ohne zumindest ein bisserl Mitgefühl erzählt Lewis von den recht aussichtslosen Plänen, die Henry Preston Standish fasst und meist bald wieder verwirft, von seinen Erinnerungen an Frau und Kinder und Geschäftspartner und seinen wirren Gedankenspielen, wie sie dann wohl auf die Nachricht seines Ertrinkens reagieren werden. Wird sein Fauteuil, in dem er abends immer Zeitungen und Magazine gelesen hat, je wieder benutzt werden? Wie schaut wohl ein Begräbnis für jemanden aus, der auf See verschwunden ist? Irgendwann bemerkt er dann auch, wie durstig er ist und wie lächerlich das wiederum ist, mitten im größten Gewässer des Erdballs auf dem Rücken liegend, beinahe nackt - vom Großteil seiner Kleidung hat er sich, aus Gründen des Gewichts nassen Stoffes, also an sich nicht völlig unvernünftig, bereits getrennt - dahinzutreiben, aber nichts von all dem Wasser trinken zu können.
In seinem Nachwort attestiert Jochen Schimmang der Erzählung viel Empathie für alle - mit der Ausnahme eines ebenfalls auf der "Arabella" mitreisenden bigotten, evangelikalen Missionarspaares - und schließt mit dem Satz: "Der Roman ist eben das Meisterwerk, das er hätte werden können." Nun, das mag etwas zu hoch gegriffen sein, aber unterhaltsam ist "Gentleman über Bord" auf jeden Fall und gibt auch ein schönes Abbild der Gedankenwelt eines großen Teiles der aufstrebenden Mittelschicht der Vereinigten Staaten im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine feine Entdeckung für ein deutschsprachiges Lesepublikum ist dem Mare-Verlag damit durchaus anzurechnen. MARTIN LHOTZKY
Herbert Clyde Lewis: "Gentleman über Bord". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Klaus Bonn. Mit einem Nachwort von Jochen Schimmang. Mare Verlag, Hamburg 2023. 176 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Durstig im größten Gewässer der Welt: Bei Herbert Clyde Lewis geht ein "Gentleman über Bord".
Ach, noch einmal den wunderbaren Sonnenuntergang anschauen! Aber Vorsicht, Ölfleck an Deck, und, hast du's nicht gesehen, schon landet man im Wasser, genauer gesagt: im Pazifik! Da braucht man nicht einmal einen Albatros angeschossen zu haben, derart gemein kann das Schicksal einen strafen.
So ungefähr beginnt der im Original bereits 1937 erschienene kurze Roman "Gentleman über Bord" ("Gentleman Overboard") von Herbert Clyde Lewis. Der heute hinlänglich unbekannte Autor, Sohn einer aus Russland stammenden jüdischen Einwandererfamilie in New York, arbeitete als Reporter Anfang der Dreißigerjahre in China, dann in den Vereinigten Staaten. Gerade als sein erster Roman, eben "Gentleman Overboard" erschien, war Lewis in den Privatkonkurs geschlittert, zog nach Hollywood, schrieb Drehbücher, wurde für seinen Beitrag zum Film "Ein Leben wie ein Millionär" (1947, Originaltitel: "It Happened on 5th Avenue", deutscher Alternativtitel: "Der reichste Mann der Welt") mit seinem Ko-Autor Frederick Stephani für den Oscar nominiert (den sie aber nicht gewannen) und verstarb mit gerade einmal einundvierzig Jahren 1950 an einem Herzinfarkt. Sein letzter, vierter Roman, "The Silver Dark", kam 1959 postum heraus. Dennoch ein ziemlich bewegtes Leben.
Auf eine weniger bewegte Biographie muss sein Protagonist Henry Preston Standish, Mitte dreißig, Aktienmakler, verheiratet, zwei kleine Kinder, zurückblicken, als er da im Stillen Ozean vor sich hin planscht. Eben noch, da war es laut Borduhr etwa fünf in der Frühe, an Deck der "Arabella", eigentlich ein Frachtschiff, das aber wegen des Umsatzes stets auch rund ein Dutzend Passagiere - im konkreten Fall sind es acht, Standish miteingeschlossen - befördert, muss er zuschauen, wie das Schiff gemächlich am Horizont verschwindet. Niemand hat seinen Unfall in dieser frühen Stunde bemerkt, wach war ohnehin bloß der Smutje. Und der kümmerte sich bereits um das Frühstück, achtete also nicht auf den Frühaufsteher.
In insgesamt zehn Kapiteln schildert Lewis abwechselnd, was Standish so durch den Kopf geht - wieso ist er überhaupt auf diese Reise gegangen? Ach ja, sein Leben war ihm irgendwie zu langweilig geworden! - und was die übrigen Leute, Mannschaft und Passagiere, tun. Einige vermissen ihn übrigens schon um die Mittagszeit, aber machen sich noch keine wirklichen Sorgen. Der Kapitän erfährt überhaupt erst am mittleren Nachmittag, dass Standish verschwunden zu sein scheint, und wird eher grantig, da er nun vermutlich das Schiff wenden lassen muss, um nach dem Typen zu suchen.
Mit doch ziemlich schwarzem Humor, aber keineswegs ohne zumindest ein bisserl Mitgefühl erzählt Lewis von den recht aussichtslosen Plänen, die Henry Preston Standish fasst und meist bald wieder verwirft, von seinen Erinnerungen an Frau und Kinder und Geschäftspartner und seinen wirren Gedankenspielen, wie sie dann wohl auf die Nachricht seines Ertrinkens reagieren werden. Wird sein Fauteuil, in dem er abends immer Zeitungen und Magazine gelesen hat, je wieder benutzt werden? Wie schaut wohl ein Begräbnis für jemanden aus, der auf See verschwunden ist? Irgendwann bemerkt er dann auch, wie durstig er ist und wie lächerlich das wiederum ist, mitten im größten Gewässer des Erdballs auf dem Rücken liegend, beinahe nackt - vom Großteil seiner Kleidung hat er sich, aus Gründen des Gewichts nassen Stoffes, also an sich nicht völlig unvernünftig, bereits getrennt - dahinzutreiben, aber nichts von all dem Wasser trinken zu können.
In seinem Nachwort attestiert Jochen Schimmang der Erzählung viel Empathie für alle - mit der Ausnahme eines ebenfalls auf der "Arabella" mitreisenden bigotten, evangelikalen Missionarspaares - und schließt mit dem Satz: "Der Roman ist eben das Meisterwerk, das er hätte werden können." Nun, das mag etwas zu hoch gegriffen sein, aber unterhaltsam ist "Gentleman über Bord" auf jeden Fall und gibt auch ein schönes Abbild der Gedankenwelt eines großen Teiles der aufstrebenden Mittelschicht der Vereinigten Staaten im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine feine Entdeckung für ein deutschsprachiges Lesepublikum ist dem Mare-Verlag damit durchaus anzurechnen. MARTIN LHOTZKY
Herbert Clyde Lewis: "Gentleman über Bord". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Klaus Bonn. Mit einem Nachwort von Jochen Schimmang. Mare Verlag, Hamburg 2023. 176 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Manuela Reichart feiert die Wiederentdeckung von Herbert Clyde Lewis' Roman aus dem Jahre 1937, der nun in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die Handlung spielt auf hoher See: Auf einem Schiff, auf dem sich in den ersten Kapiteln die "allerfeinsten Gesellschaftskomödie[n]" abspielen, berichtet die Rezensentin. Der Geschäftsmann Henry Preston, lesen wir, geht während der Fahrt über Bord und treibt für den Rest der Handlung im Ozean umher. Seine anfängliche Hoffnung von den anderen Passagieren vermisst und gerettet zu werden, bewahrheitet sich nicht und so zerbricht Prestons Weltbild Stück für Stück. Es freut die Rezensentin, dass dem unglücklichen Autoren Lewis, der zeitlebens wenige Erfolge vorweisen konnte und mit 41 Jahren starb, mit dieser Veröffentlichung wieder Aufmerksamkeit zuteil wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dieses Buch müssen Sie lesen.« The Sunday Times
"Das ist das Beste, was ich seit Jahren gelesen habe."