Ganz dicht dran - ein Schriftsteller in der faszinierenden Welt der Basketballprofis. Thomas Pletzinger kehrt zurück in eine Welt, in der er einst zu Hause war: Kabine, Halle, Mannschaftsbus - die Welt des Basketballs. Als Juniorenspieler stand er vor einer Profikarriere, jetzt hat er als teilnehmender Beobachter eine Saison mit dem Profiteam von Alba Berlin verbracht. Ihn interessieren die Menschen und ihre Geschichten: Spieler, Trainer, Manager und Fans. Wie stellt man ein Team zusammen? Wie holt man den Meistertitel? Wie hält man dem immensen Druck stand? Thomas Pletzinger erzählt von der Magie des Spiels, von seiner Ästhetik und Kultur, von Glück und Euphorie des Erfolgs, aber auch von enttäuschenden Niederlagen, vom Schmerz im Training und der Monotonie der Reisen- und immer wieder von sich und seiner Begeisterung für diesen Sport. Bemerkenswert ist, wie nah er den Akteuren kommt, welche Dramen sich hinter den Kulissen abspielen, welche Szenen er einfängt. Mit einer literarischen Sprache geht er dem Reiz und Schrecken des Profisports nach. Ein Buch für alle, die den Profisport jenseits der täg lichen Sportberichterstattung erleben wollen
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2012Die Stadien der Weltjugend
Auf die Bücher gehören Warnhinweise: Achtung, enthält Herzblut! Und jede Menge Wirklichkeit, egal, ob sie erfunden ist. Wir waren mit ihm beim Basketball
von Thomas Pletzinger
Die beiden Hauptfiguren in Thomas Pletzingers erstem Roman, "Bestattung eines Hundes", sind Schreiber, die nicht glauben, dass ihre Arbeit allzu viel mit der Wirklichkeit zu tun hat: Ein Schriftsteller, der seine Memoirenmanuskripte im Luganer See versenkt, weil sie ihm nicht dabei geholfen haben, die Vergangenheit zu reparieren. Ein Journalist, der sich 345 Seiten lang davor drückt, einen Artikel zu schreiben, und dann Sachen sagt wie: "Schreiben ist nicht wahr, wie eine Dose Cola wahr ist."
Thomas Pletzinger ist nicht wie seine Figuren. Wo sie hadern, da fallen Pletzinger - 1,95 Meter, Pragmatikerglatze, helles Gemüt - im Gespräch alle paar Minuten Themen aus der direkten Wirklichkeit ein, über die man übrigens auch dringend noch mal ein Buch schreiben müsste: Indie-Rockbands! Großkrankenhäuser! Traumatisierte Soldaten! Steffi Graf!
Und mit seinem zweiten Buch, das er drei Jahre nach dem Roman geschrieben hat, "Gentlemen, wir leben am Abgrund" heißt es, hat er schon gezeigt, wie es was werden kann mit der Romanze zwischen Wirklichkeit und Schreiben. Das Buch handelt von ihm selbst, dem Schriftsteller Thomas Pletzinger, der ein Jahr mit einer professionellen Basketballmannschaft verbringt. Es ist ein Buch, für das es in Deutschland, wo man Bücher danach einteilt, ob sie jetzt auf die rechte oder die linke Seite der "Spiegel"-Bestsellerliste gehören, eigentlich keinen Platz gibt. Es ist ein Sachbuch, weil die Geschichte nicht erfunden, sondern mitgeschrieben ist. Es ist ein Roman, weil er nichts vermitteln, aber viel erzählen will.
Die Verantwortung, von der Schriftsteller in Interviews häufig schrecklich abstrakt behaupten, man trüge sie als Schreiber gegenüber der Gesellschaft, den eigenen Charakteren und der Literatur an sich: Sie gibt es bei Thomas Pletzinger zum Anfassen. Ihm kann man nämlich hinterherfahren, wenn er sich auf sein siechendes Gazelle-Rad setzt, die Schriftstellermütze aufzieht und dann seine Figuren ganz unmetaphorisch besuchen geht.
Zu finden sind sie in einer Turnhalle in Berlin-Mitte, da, wo der künstliche Glanz der Friedrichstraße nicht mehr hinreicht, die vereinzelten Plattenbauten aber auch noch etwas verloren herumstehen. Es ist das letzte Vorbereitungsspiel von Alba Berlin, bevor die Saison losgeht. Die Wände sind mit Weichholzlatten verkleidet, die Lüftung kommt mit der Nachlieferung unverbrauchter Luft nicht hinterher, der frische Schweiß steht in der Luft. Eine normale bundesdeutsche Turnhalle, wären da nicht am Spielfeldrand gegenüber die Analysten, die ihre Laptops mit Wurfquoten oder Ballbesitzprozenten füttern, wäre nicht das Quietschen der Gummisohlen auf dem Parkettboden so viel schriller und hochfrequenter, als man das kennt.
Und wäre da nicht Thomas Pletzinger, der einem in die Rippen stößt und erklärt, dass das da gerade eben ein ganz typischer "Pick & Roll"-Spielzug war, dass Basketball in Europa härter gespielt wird als in Amerika, und der gegen Ende des Spiels, das Alba haushoch gewinnt, auf die andere Spielfeldseite zeigt und sagt: "Pass auf, gleich explodiert der Coach." Die Mannschaft lasse jetzt langsam nach, und was der Trainer da eben auf Serbisch gemurmelt habe, das habe er in seinem Jahr mit der Mannschaft von ganz vielen "Jugos" gehört. "Das heißt ungefähr so viel wie: ,Geh zurück in die Fotze deiner Mutter.'" Er muss grinsen. Die Worte klingen ausgesprochen drastischer als gedacht, und so fragt er zur Sicherheit noch den Pressesprecher, der sich neben uns gesetzt hat: "Oder, Jan? So ungefähr, oder?"
Thomas Pletzinger hat zehn Monate lang fast jeden Tag in dieser Halle gesessen - rechts der Eingangstür, links dem Trainerbüro. Das Notizbuch Marke "Semikolon" lag auf dem Schoß (vierzig davon hat er vollgeschrieben), manchmal lief das Aufnahmegerät (neunzig Stunden). Er saß im Bus zu jedem Auswärtsspiel in der dritten Reihe und vor jedem Spiel in der Kabine. "Mein Platz war mittendrin, gleich neben den Wasserkästen", schreibt er in seinem Buch. Und wenn man heute verstohlen rechts neben der Tür nachschaut, dann stehen sie da tatsächlich, die Wasserkästen.
Nach dem Spiel begrüßt uns Yassin Idbihi, der riesige Deutsch-Marrokaner, der im Buch ständig "Süddeutsche Zeitung" liest, und lässt einen solchen Regen aus Schweißtropfen auf den sitzenden Pletzinger niederprasseln, dass der sich schüttelt. Sven Schultze, der für seine harte Spielweise bekannte Flügelspieler, war eben noch damit beschäftigt, seine 2,06 Meter, 110 Kilo in hilflose Verteidiger krachen zu lassen. Jetzt grinst er breit und sagt: "Na, Pletze?"
Die Saison 2010/11 hätte für die Mannschaft nicht dramatischer und für einen Schriftsteller nicht besser laufen können. Nach ordentlichem Saisonanfang erlebt die Mannschaft gegen das Team aus Bamberg die höchste Niederlage der Vereinsgeschichte, 103:52. Es regnet Niederlagen gegen viel kleinere und eigentlich schlechtere Teams. Der Trainer wird beurlaubt. Die Mannschaft schafft es dennoch in die Playoffs. Sie kämpft, kratzt und beißt sich ins Finale und begegnet dort, genau, Bamberg.
Pletzinger schreibt mit, die Metaphern überlässt er anderen. Er redet mit dem Geschäftsführer über den Versuch, die Berliner zu Basketballfans zu machen, und bekommt als Antwort: "Fußball ist unangefochten, Handball ist Volksmusik, Eishockey ist Rock 'n' Roll. Und Basketball ist Jazz."
Es schadet beim Lesen nicht, wenn man sich bei alldem für die Dramolette interessiert, die eben nur der Sport so schreiben kann. (Pletzinger las in der Halbzeitpause eines Spiels vor 12000 Fans. 3000 kauften das Buch sofort.) Aber man muss Basketball nicht gut finden, und man muss es noch nicht einmal richtig verstehen, um mitgerissen und berührt zu werden, wenn sich 22 riesige Männer in kleine Busse zwängen, ihre viel zu kaputten Rücken und Knie doch noch irgendwie geschmiert kriegen und es schaffen, den eigenen Vorteil dem der Gemeinschaft unterzuordnen, obwohl sie genau wissen, dass sie im nächsten Jahr wohl bei einer anderen Mannschaft spielen, bei den Artland Dragons aus Quakenbrück oder bei den Brose Baskets aus Bamberg.
Thomas Pletzinger hat das alles mitgemacht, den absurden Rechercheaufwand und die Langeweile ("meistens ist einfach nichts passiert, aber ich war nur da, als der Trainer gefeuert wurde, weil ich halt eben immer da war"), weil er dabei etwas über sich selbst gelernt hat. Er hat selbst einmal Basketball gespielt, in der Jugend der Mannschaft, die damals Brandt Hagen hieß und heute Phoenix Hagen heißt. Wie alle wollte er Profi werden, wie fast alle sah er um die Volljährigkeit herum ein, dass das nichts werden würde.
Anders als seine eingangs erwähnten Romanfiguren versteht er, dass man mit dem Schreiben die Vergangenheit zwar nicht besiegen, dass man sich aber mit seiner Hilfe Alternativen bauen kann. Egal, ob man sie sich ausdenkt oder bei denen sucht, gegen die man früher gespielt hat. Immer wieder versucht sich Pletzinger im Buch an ein Spiel aus den neunziger Jahren zu erinnern, in dem ihm gegen den heutigen Rekordnationalspieler und "Alba"-Leitwolf Patrick Femerling möglicherweise ein Dunking gelungen war. Er redet mit Femerling darüber, der lacht und kann sich nicht erinnern, und der Trainer von damals hat die Videokassette mit dem Beweis verloren. Immer kommt die Erinnerung, dass hier einer mitschreibt, der eine eigene Geschichte und eigene tote Punkte hat. Als Berlin gegen Hagen spielt, seine alte Mannschaft, wohnt die Mannschaft im "Mercure Hotel", Pletzinger bei seinen Eltern. In der Hagener Halle: "Ich sah dort oben den zehnjährigen linkischen Jungen, der ich war. Er stand zwischen 2499 anderen brüllenden Menschen und sah einem Basketballspiel zu (. . .). Ich sah den Jungen mit elf, zwölf, dreizehn Jahren, immer linkischer, immer ein wenig größer, rausnehmbare Zahnspange, Sweatshirts in furchtbaren Pastellfarben am Leib (die Erinnerung an diese Zeit hat fürchterliche Pastellfarben)."
Der Trick dabei ist, das Pletzinger das eben nicht nur erzählt, weil er sich verständlicherweise für seine eigene Geschichte interessiert, sondern auch als Vorwarnung: Achtung, enthält Herzblut. Einmal redet er nachts auf dem Hotelflur mit dem Trainer: "Der Coach flüsterte sich in Rage. Trainer. Momente, in denen sich Spiele entscheiden. Karrieren. Lebenswege. Schiedsrichter. Spielkultur. Protektion. Kunst. Fiktion. Fakten. Ich versuchte ihm zu folgen und verlor den Faden."
Immer beschreibt Pletzinger, wie er nickt, obwohl er eigentlich gerade nichts versteht. Er vergisst sein Notizbuch im Bus und kann nicht mitschreiben. Er merkt an, dass er nach Monaten mit der Mannschaft auch die kleinste Restobjektivität verloren hat. "Glaubt mir nicht!", ruft uns der Autor aus seinem Buch entgegen. Also glaubt man ihm natürlich. Von all dem, was an "Gentlemen, wir leben am Abgrund" gut ist, kann man von dieser Aufrichtigkeit der Wirklichkeit und den eigenen Charakteren gegenüber am meisten lernen. Daniel Mandelkern, die Journalistenfigur, die Pletzingers erstes Buch bestimmt, sagt nach der Sache mit der Cola noch etwas. Er sagt: "Wenn man sein Leben mit dem Geschriebenen vergleicht, bleibt lediglich ein Rest von Ähnlichkeit, nicht viel."
Und wieder geht es Pletzinger anders als seiner Figur. Yassin Idbihi, erzählt er, den wir auch in der Halle treffen, hat sich das Buch gleich mehrmals gekauft und einschweißen lassen. Denn besser wird er seinen Kindern später auch nicht erklären können, wie er damals so war, als junger Mann, der sein Leben einem Spiel verschrieben hatte.
GREGOR QUACK
Thomas Pletzinger: "Gentlemen, wir leben am Abgrund., Kiepenheuer & Witsch 2012, 256 Seiten, 14,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf die Bücher gehören Warnhinweise: Achtung, enthält Herzblut! Und jede Menge Wirklichkeit, egal, ob sie erfunden ist. Wir waren mit ihm beim Basketball
von Thomas Pletzinger
Die beiden Hauptfiguren in Thomas Pletzingers erstem Roman, "Bestattung eines Hundes", sind Schreiber, die nicht glauben, dass ihre Arbeit allzu viel mit der Wirklichkeit zu tun hat: Ein Schriftsteller, der seine Memoirenmanuskripte im Luganer See versenkt, weil sie ihm nicht dabei geholfen haben, die Vergangenheit zu reparieren. Ein Journalist, der sich 345 Seiten lang davor drückt, einen Artikel zu schreiben, und dann Sachen sagt wie: "Schreiben ist nicht wahr, wie eine Dose Cola wahr ist."
Thomas Pletzinger ist nicht wie seine Figuren. Wo sie hadern, da fallen Pletzinger - 1,95 Meter, Pragmatikerglatze, helles Gemüt - im Gespräch alle paar Minuten Themen aus der direkten Wirklichkeit ein, über die man übrigens auch dringend noch mal ein Buch schreiben müsste: Indie-Rockbands! Großkrankenhäuser! Traumatisierte Soldaten! Steffi Graf!
Und mit seinem zweiten Buch, das er drei Jahre nach dem Roman geschrieben hat, "Gentlemen, wir leben am Abgrund" heißt es, hat er schon gezeigt, wie es was werden kann mit der Romanze zwischen Wirklichkeit und Schreiben. Das Buch handelt von ihm selbst, dem Schriftsteller Thomas Pletzinger, der ein Jahr mit einer professionellen Basketballmannschaft verbringt. Es ist ein Buch, für das es in Deutschland, wo man Bücher danach einteilt, ob sie jetzt auf die rechte oder die linke Seite der "Spiegel"-Bestsellerliste gehören, eigentlich keinen Platz gibt. Es ist ein Sachbuch, weil die Geschichte nicht erfunden, sondern mitgeschrieben ist. Es ist ein Roman, weil er nichts vermitteln, aber viel erzählen will.
Die Verantwortung, von der Schriftsteller in Interviews häufig schrecklich abstrakt behaupten, man trüge sie als Schreiber gegenüber der Gesellschaft, den eigenen Charakteren und der Literatur an sich: Sie gibt es bei Thomas Pletzinger zum Anfassen. Ihm kann man nämlich hinterherfahren, wenn er sich auf sein siechendes Gazelle-Rad setzt, die Schriftstellermütze aufzieht und dann seine Figuren ganz unmetaphorisch besuchen geht.
Zu finden sind sie in einer Turnhalle in Berlin-Mitte, da, wo der künstliche Glanz der Friedrichstraße nicht mehr hinreicht, die vereinzelten Plattenbauten aber auch noch etwas verloren herumstehen. Es ist das letzte Vorbereitungsspiel von Alba Berlin, bevor die Saison losgeht. Die Wände sind mit Weichholzlatten verkleidet, die Lüftung kommt mit der Nachlieferung unverbrauchter Luft nicht hinterher, der frische Schweiß steht in der Luft. Eine normale bundesdeutsche Turnhalle, wären da nicht am Spielfeldrand gegenüber die Analysten, die ihre Laptops mit Wurfquoten oder Ballbesitzprozenten füttern, wäre nicht das Quietschen der Gummisohlen auf dem Parkettboden so viel schriller und hochfrequenter, als man das kennt.
Und wäre da nicht Thomas Pletzinger, der einem in die Rippen stößt und erklärt, dass das da gerade eben ein ganz typischer "Pick & Roll"-Spielzug war, dass Basketball in Europa härter gespielt wird als in Amerika, und der gegen Ende des Spiels, das Alba haushoch gewinnt, auf die andere Spielfeldseite zeigt und sagt: "Pass auf, gleich explodiert der Coach." Die Mannschaft lasse jetzt langsam nach, und was der Trainer da eben auf Serbisch gemurmelt habe, das habe er in seinem Jahr mit der Mannschaft von ganz vielen "Jugos" gehört. "Das heißt ungefähr so viel wie: ,Geh zurück in die Fotze deiner Mutter.'" Er muss grinsen. Die Worte klingen ausgesprochen drastischer als gedacht, und so fragt er zur Sicherheit noch den Pressesprecher, der sich neben uns gesetzt hat: "Oder, Jan? So ungefähr, oder?"
Thomas Pletzinger hat zehn Monate lang fast jeden Tag in dieser Halle gesessen - rechts der Eingangstür, links dem Trainerbüro. Das Notizbuch Marke "Semikolon" lag auf dem Schoß (vierzig davon hat er vollgeschrieben), manchmal lief das Aufnahmegerät (neunzig Stunden). Er saß im Bus zu jedem Auswärtsspiel in der dritten Reihe und vor jedem Spiel in der Kabine. "Mein Platz war mittendrin, gleich neben den Wasserkästen", schreibt er in seinem Buch. Und wenn man heute verstohlen rechts neben der Tür nachschaut, dann stehen sie da tatsächlich, die Wasserkästen.
Nach dem Spiel begrüßt uns Yassin Idbihi, der riesige Deutsch-Marrokaner, der im Buch ständig "Süddeutsche Zeitung" liest, und lässt einen solchen Regen aus Schweißtropfen auf den sitzenden Pletzinger niederprasseln, dass der sich schüttelt. Sven Schultze, der für seine harte Spielweise bekannte Flügelspieler, war eben noch damit beschäftigt, seine 2,06 Meter, 110 Kilo in hilflose Verteidiger krachen zu lassen. Jetzt grinst er breit und sagt: "Na, Pletze?"
Die Saison 2010/11 hätte für die Mannschaft nicht dramatischer und für einen Schriftsteller nicht besser laufen können. Nach ordentlichem Saisonanfang erlebt die Mannschaft gegen das Team aus Bamberg die höchste Niederlage der Vereinsgeschichte, 103:52. Es regnet Niederlagen gegen viel kleinere und eigentlich schlechtere Teams. Der Trainer wird beurlaubt. Die Mannschaft schafft es dennoch in die Playoffs. Sie kämpft, kratzt und beißt sich ins Finale und begegnet dort, genau, Bamberg.
Pletzinger schreibt mit, die Metaphern überlässt er anderen. Er redet mit dem Geschäftsführer über den Versuch, die Berliner zu Basketballfans zu machen, und bekommt als Antwort: "Fußball ist unangefochten, Handball ist Volksmusik, Eishockey ist Rock 'n' Roll. Und Basketball ist Jazz."
Es schadet beim Lesen nicht, wenn man sich bei alldem für die Dramolette interessiert, die eben nur der Sport so schreiben kann. (Pletzinger las in der Halbzeitpause eines Spiels vor 12000 Fans. 3000 kauften das Buch sofort.) Aber man muss Basketball nicht gut finden, und man muss es noch nicht einmal richtig verstehen, um mitgerissen und berührt zu werden, wenn sich 22 riesige Männer in kleine Busse zwängen, ihre viel zu kaputten Rücken und Knie doch noch irgendwie geschmiert kriegen und es schaffen, den eigenen Vorteil dem der Gemeinschaft unterzuordnen, obwohl sie genau wissen, dass sie im nächsten Jahr wohl bei einer anderen Mannschaft spielen, bei den Artland Dragons aus Quakenbrück oder bei den Brose Baskets aus Bamberg.
Thomas Pletzinger hat das alles mitgemacht, den absurden Rechercheaufwand und die Langeweile ("meistens ist einfach nichts passiert, aber ich war nur da, als der Trainer gefeuert wurde, weil ich halt eben immer da war"), weil er dabei etwas über sich selbst gelernt hat. Er hat selbst einmal Basketball gespielt, in der Jugend der Mannschaft, die damals Brandt Hagen hieß und heute Phoenix Hagen heißt. Wie alle wollte er Profi werden, wie fast alle sah er um die Volljährigkeit herum ein, dass das nichts werden würde.
Anders als seine eingangs erwähnten Romanfiguren versteht er, dass man mit dem Schreiben die Vergangenheit zwar nicht besiegen, dass man sich aber mit seiner Hilfe Alternativen bauen kann. Egal, ob man sie sich ausdenkt oder bei denen sucht, gegen die man früher gespielt hat. Immer wieder versucht sich Pletzinger im Buch an ein Spiel aus den neunziger Jahren zu erinnern, in dem ihm gegen den heutigen Rekordnationalspieler und "Alba"-Leitwolf Patrick Femerling möglicherweise ein Dunking gelungen war. Er redet mit Femerling darüber, der lacht und kann sich nicht erinnern, und der Trainer von damals hat die Videokassette mit dem Beweis verloren. Immer kommt die Erinnerung, dass hier einer mitschreibt, der eine eigene Geschichte und eigene tote Punkte hat. Als Berlin gegen Hagen spielt, seine alte Mannschaft, wohnt die Mannschaft im "Mercure Hotel", Pletzinger bei seinen Eltern. In der Hagener Halle: "Ich sah dort oben den zehnjährigen linkischen Jungen, der ich war. Er stand zwischen 2499 anderen brüllenden Menschen und sah einem Basketballspiel zu (. . .). Ich sah den Jungen mit elf, zwölf, dreizehn Jahren, immer linkischer, immer ein wenig größer, rausnehmbare Zahnspange, Sweatshirts in furchtbaren Pastellfarben am Leib (die Erinnerung an diese Zeit hat fürchterliche Pastellfarben)."
Der Trick dabei ist, das Pletzinger das eben nicht nur erzählt, weil er sich verständlicherweise für seine eigene Geschichte interessiert, sondern auch als Vorwarnung: Achtung, enthält Herzblut. Einmal redet er nachts auf dem Hotelflur mit dem Trainer: "Der Coach flüsterte sich in Rage. Trainer. Momente, in denen sich Spiele entscheiden. Karrieren. Lebenswege. Schiedsrichter. Spielkultur. Protektion. Kunst. Fiktion. Fakten. Ich versuchte ihm zu folgen und verlor den Faden."
Immer beschreibt Pletzinger, wie er nickt, obwohl er eigentlich gerade nichts versteht. Er vergisst sein Notizbuch im Bus und kann nicht mitschreiben. Er merkt an, dass er nach Monaten mit der Mannschaft auch die kleinste Restobjektivität verloren hat. "Glaubt mir nicht!", ruft uns der Autor aus seinem Buch entgegen. Also glaubt man ihm natürlich. Von all dem, was an "Gentlemen, wir leben am Abgrund" gut ist, kann man von dieser Aufrichtigkeit der Wirklichkeit und den eigenen Charakteren gegenüber am meisten lernen. Daniel Mandelkern, die Journalistenfigur, die Pletzingers erstes Buch bestimmt, sagt nach der Sache mit der Cola noch etwas. Er sagt: "Wenn man sein Leben mit dem Geschriebenen vergleicht, bleibt lediglich ein Rest von Ähnlichkeit, nicht viel."
Und wieder geht es Pletzinger anders als seiner Figur. Yassin Idbihi, erzählt er, den wir auch in der Halle treffen, hat sich das Buch gleich mehrmals gekauft und einschweißen lassen. Denn besser wird er seinen Kindern später auch nicht erklären können, wie er damals so war, als junger Mann, der sein Leben einem Spiel verschrieben hatte.
GREGOR QUACK
Thomas Pletzinger: "Gentlemen, wir leben am Abgrund., Kiepenheuer & Witsch 2012, 256 Seiten, 14,99 Euro
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"Es ist ein weises Buch, das unglaubliche Geschichten über enthusiastische Menschen erzählt, die ihr Leben einer Sache verschrieben haben." Volker Weidermann Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20120401