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In Teilen Lateinamerikas hat Gewalt eine scheinbar unaufhaltsame Eigendynamik entwickelt. Die Grenzen zwischen dem Legalen und Illegalen, zwischen Staat und organisierter Kriminalität, verrechtlichtem und rechtlosem Leben verschwimmen. Im Gegensatz zur politischen Gewalt desvergangenen Jahrhunderts hat diese neue Gewalt keine klar erkennbaren Schaltzentren und oft kein erkennbares Ziel. Sie ist expliziter und zugleich undurchschaubarer, lokaler und globaler: scheinbar jede:r kann ihr Akteur oder Opfer sein, vermeintlich überall.Wie können wir die Beziehungen zwischen Ebenen und Orten unserer…mehr

Produktbeschreibung
In Teilen Lateinamerikas hat Gewalt eine scheinbar unaufhaltsame Eigendynamik entwickelt. Die Grenzen zwischen dem Legalen und Illegalen, zwischen Staat und organisierter Kriminalität, verrechtlichtem und rechtlosem Leben verschwimmen. Im Gegensatz zur politischen Gewalt desvergangenen Jahrhunderts hat diese neue Gewalt keine klar erkennbaren Schaltzentren und oft kein erkennbares Ziel. Sie ist expliziter und zugleich undurchschaubarer, lokaler und globaler: scheinbar jede:r kann ihr Akteur oder Opfer sein, vermeintlich überall.Wie können wir die Beziehungen zwischen Ebenen und Orten unserer gewaltsamen Gegenwart denken - vom Körper bis zum Globalen, von Europa zu Lateinamerika? Wo und von wem wird Macht heute organisiert und ausgeübt? Welchen Zweck erfüllt die Gewalt, und wie können wir ihre globale Verstrickung entschlüsseln? Wie können wir über sie sprechen, wie sie darstellen, was dagegen tun?Mit Beiträgen u. a. von Carlos Beristain, Verónica Gago, Anne Huffschmid, Mario Rufer und Rita Segato.
Autorenporträt
Timo Dorsch arbeitet an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Journalismus. Im Mandelbaum Verlag ist 2020 sein Buch Nekropolitik. Neoliberalismus, Staat und organisiertes Verbrechen in Mexiko erschienen.

Jana Flörchinger arbeitet als freie Referentin und Kuratorin zu feministischen Strategien und sexualisierter Gewalt.

Börries Nehe koordiniert die International Research Group on Authoritarianism & Counter-Strategies der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Tjerk Brühwiller macht sich auf eine gehörige Portion Kapitalismuskritik gefasst, wenn die Autoren dieses Sammelbands der Gewalt in Lateinamerika auf den Grund gehen. Aber die nimmt er in Kauf. Denn der Band verschafft ihm tatsächlich neue und hilfreiche Zugänge, um die ungeheure Gewalt in so unterschiedlichen Ländern wie Mexiko, Brasilien, Kolumbien und Venezuela zu ergründen. Brühwiller liest hier nach, welche Dynamiken die Gewaltakteure antreiben, wie sich Parallelstaaten etablieren und wie Kartelle und Paramilitärs global verstrickt sind. Besonders hervor hebt er den Beitrag des spanischen Arztes Carlos Martin Beristain, der nachzeichne, wie selbst in den politischen Konflikten immer auch die Kontrolle von Territorium und Bevölkerung maßgeblich war, sowie den Text der brasilianischen Anthropologin Rita Laura Segato, die die Brutalität mit Kategorien der Unterwerfung und Ausbeutung zu fassen zu bekommen versuche.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2022

Warum die Gewalt regiert
Annäherung an die Logik der scheinbar ziellosen und chaotischen Gewalt in Lateinamerika

Keine Region außerhalb von Kriegsgebieten ist so tödlich wie Lateinamerika. Allein in Brasilien, Mexiko, Kolumbien und Venezuela wurden 2021 mehr als 100 000 Menschen gewaltsam getötet. Hinzu kommen Zehntausende Verschwundene, eine erschreckende Zahl von Frauenmorden, Erpressungen und Entführungen. Neben dieser spektakulären Sichtbarkeit der Gewalt, den unzähligen bildhaften Berichten in den Medien, den Statistiken und Infografiken und den fast romantisierten Erzählungen über Drogenbosse in Fernsehserien steht die Unmöglichkeit, diesen brutalen Vorgängen einen Sinn zuzuschreiben.

In Lateinamerika hat eine neue Form von Gewalt überhandgenommen, die sich von der Gewalt unterscheidet, die noch vor wenigen Jahrzehnten vorherrschte, als die meisten Länder der Region von Militärdiktaturen regiert wurden. Dies ist eine der Hauptthesen der Herausgeber Timo Dorsch, Jana Flörchinger und Börries Nehe in ihrem Sammelband. Diese neue Gewalt sei allgegenwärtig, schreiben sie. Sie zeigt sich in den verschiedensten Winkeln der Region, in der Morde, Entführungen und Erpressungen zur Normalität geworden sind.

Eine oberflächliche Betrachtung, die routinemäßige Berichterstattung sowie die weitgehende Straflosigkeit tragen zu dieser Normalisierung der Gewalt bei. Und dennoch sei diese neue Gewalt nur schwer zu greifen. Denn sie scheine chaotisch, weniger zielgerichtet und ideologisch als die Gewalt unter den Militärdiktaturen. "Die Gewaltakteure der Gegenwart hingegen sind verfangen in einer Dynamik, die für sie - und uns - zunehmend unbegreiflich ist. Doch die für sich genommen unerklärlichen Gesten, Einzelhandlungen und Motivationen produzieren in ihrer Gesamtheit, in ihrer chaotischen Verstricktheit, ein Gefüge von Macht und Herrschaft, dessen innere Logik verständlich und lesbar gemacht werden kann."

Ziel des Sammelbandes ist es, diese Logik zu entschlüsseln und aufzuzeigen. Das Interesse dafür entspringe nicht aus einem wissenschaftlichen Interesse, sondern aus einer politischen Notwendigkeit heraus, erläutern die Herausgeber. Zwar scheine die Gewalt und das "Regiert-werden-durch-Gewalt" weitestgehend ein Problem des globalen Südens zu sein. Doch die Dynamik der Gewalt weise weit über ihre scheinbar klar umgrenzte räumliche Zuordnung hinaus. "Ihre lokalen Manifestationen müssen in der Logik einer weltweiten Produktion der Gewalt - einer globalen 'Geographie der Gewalt' - gedacht werden, von der Europa gleichermaßen Teil ist, in der wir uns verorten und gegen die wir uns positionieren müssen." Doch mit welchen Kategorien könne eine Gewalt erfasst werden, die sich doch in ihrer unfassbaren Brutalität, ihrer scheinbaren Richtungslosigkeit und Unvorhersehbarkeit jeder Kategorisierung entziehe? Wie könnten ihre lokalen und spezifischen Ausprägungen ebenso gedacht werden wie ihre globale Verstricktheit, ihre Wiederkehr, ihr gleichzeitiges Aufflammen an ganz unterschiedlichen Orten?

Um sich dem Wesen der neuen Gewalt in Lateinamerika anzunähern und ihre unterschiedlichen Ausprägungen zu beleuchten, haben die Herausgeber eine ganze Reihe von Stimmen und Perspektiven vereint. Der Sammelband umfasst Beiträge von insgesamt 21 Wissenschaftlern, Journalisten und Aktivisten aus verschiedenen lateinamerikanischen und europäischen Ländern. Die Artikel basieren auf Beiträgen und Diskussionen einer 2019 von der Goethe-Universität Frankfurt und der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützten Konferenz. Die Autoren haben ihre damals präsentierten Ansätze in einigem zeitlichen Abstand wieder aufgenommen und weiterentwickelt. Das Buch ist in vier Rubriken unterteilt - Erzählen, Körper, Gemeinschaft, Erinnerung -, die eher symbolisch gedacht sind und aufzeigen, wie verflochten das Thema und in der Folge auch die Beiträge der Autoren sind, von denen viele auch an anderer Stelle stehen könnten. Gleichzeitig ist diese Aufgliederung auch ein Indiz dafür, dass dieser Sammelband sich an eine sehr komplexe und bisher weitgehend unbearbeitete Frage heranwagt.

Bereits im ersten Kapitel berichtet der spanische Arzt und Psychologe Carlos Martín Beristain von seinen langjährigen Erfahrungen in der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in Konfliktgebieten in Lateinamerika und Afrika. Er stellt fest, dass die Gewalt schon früher, als sie noch von klar erkennbaren "Konfliktparteien" ausging, neben dem eigentlichen Konflikt zwei wesentliche Dimensionen enthielt: die Kontrolle von Territorien (und ihrer Ressourcen) und die Kontrolle der Bevölkerung. Anschauungsbeispiele finden sich überall, von den von Drogenkartellen kontrollierten Regionen Mexikos bis in den hintersten Winkel Amazoniens, wo illegale Goldgräber und mit ihnen organisierte Verbrecherbanden sich festgesetzt haben. Diese Kontrolle geht aber über Territorien hinaus, wie die brasilianische Anthropologin Rita Laura Segato beschreibt, indem sie den Körper, insbesondere jenen der Frauen, als kleinste Einheit des von der Gewalt betroffenen "Kriegsterritoriums" beschreibt.

Die heutige Gewalt in Lateinamerika kann auch als eine Folge der Entwicklung dieser Weltregion gesehen werden, in der sich bis heute koloniale Strukturen und Muster gehalten haben. Dazu gehört ein fortwährender Prozess der Eroberung, der Unterwerfung und der Ausbeutung der Natur und auch des Menschen. Aber auch die Herausbildung von para-legalen Strukturen, was Segato den "zweiten Staat" nennt, gehen bis in die Kolonialzeit zurück. Heute haben Kartelle, Paramilitärs, Banden, korrupte Behörden, Politiker und auch Unternehmer sowie deren illegalen Zweige diesen "Parallelstaat" ausgefüllt. Sie folgen laut den Autoren und Herausgebern einer "Funktionslogik eines immer brutaler agierenden, immer autoritärer gerierenden weltweiten Kapitalismus", der auf der rücksichtslosen Ausbeutung von Mensch und Natur basiere. Das bedeute nicht, dass jeder Gewaltmanifestation eine ökonomische Motivation zugrunde liege.

Wer eine nicht zu knappe Portion Kapitalismuskritik erträgt und sich für Lateinamerika interessiert, wird am Sammelband Gefallen finden. Einige der Beiträge sind anhand von konkreten Fällen und Beispielen sehr realitätsnah und führen den Leser direkt an verschiedene Schauplätze und Situationen der Gewalt heran. Das schafft nicht nur einen tiefen Einblick und damit Verständnis, sondern bietet an vielen Stellen - so bedrückend das Thema auch sein mag - auch einen gewissen Lesegenuss. Der Sammelband überzeugt durch seinen sehr vielseitigen Blick auf ein unglaublich komplexes Problem, das angesichts seiner Ausmaße und Folgen für eine ganze Weltregion viel mehr Aufmerksamkeit verdient. TJERK BRÜHWILLER

Timo Dorsch, Jana Flörchinger, Börries Nehe (Hrsg.): Geographie der Gewalt. Macht und Gegenmacht in Lateinamerika.

Mandelbaum Verlag, Wien 2022. 284 S., 23,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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