In "Geographien" vereint Andreas Münzner Prosaskizzen von einer Welt, in der die Entfernungen zwischen Orten geringer werden und die Abstände zwischen den Menschen größer. Lakonisch, distanziert und mit schwarzem Humor beschreibt er Personen und deren geographische Affinität, er erzählt von Freundschaft und Einsamkeit, Fernweh und Heimat. So entstehen literarische Landkarten, die auf ebenso behutsame wie eindringliche Weise unsere Gegenwart abbilden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2006Eile mit Weile
Trampelpfadfinder: Andreas Münzner reist im globalen Dorf
Schon Goethe klagte über die Hektik seiner Zeit: "Alles veloziferisch", kritisierte er die Aufbruchsstimmung der frühen Moderne. Was als Wortneuschöpfung aus velocitas und Luzifer schlicht meinte: "alles teuflisch schnell". Viele Autoren folgten ihm im Plädoyer für eine Entschleunigung. Vor allem passionierte Spaziergänger wie Robert Walser oder Peter Handke betonten in ihren Büchern immer wieder, wie sehr das gemächliche Flanieren doch der nervösen Hast vorzuziehen sei. Denn, während ersteres "tausend brauchbare, nützliche Gedanken" (Walser) hervorbringt, bedroht letzteres nichts Geringeres als den Seelenfrieden.
Das gilt nun auch für das schmale Büchlein von Andreas Münzner, dessen Titel "Geographien" weniger auf äußere als auf innere Landschaften anspielt. Auch hier "zieht die Seele nur langsam mit", während die Welt um sie herum, dank Internet und Globalisierung, immer schnellebiger wird. Und ausgerechnet das, was allgemein als große Errungenschaft des elektronischen Zeitalters gefeiert wird, macht Münzners Protagonisten in den insgesamt vierundachtzig Klein- und Kleinstepisoden schwer zu schaffen: das Schrumpfen der Entfernungen.
Die Ferne nämlich blinkt seinem Personal nur allzuoft trügerisch nah entgegen, während das Nahe ihm wiederum häufig merkwürdig fern erscheint. So wie in Paolas Fall, die sich in eine Internet-Bekanntschaft verliebt. Als sie nach fünf E-Mails und zwei Telefonaten spontan nach Deutschland reist, um ihr Gegenüber endlich persönlich kennenzulernen, läßt sie der Bildschirm-Bekannte vor verschlossener Tür schmählich abblitzen, da er sich durch die vorschnell hergestellte Pseudointimität offenkundig überrumpelt fühlt.
Unüberlegtes Vorpreschen hat unangenehme Nachwirkungen. An anderer Stelle liest man da etwa auch von einem namenlosen Schweizer, der nach Caracas fliegt, um an einem Urwald-Trekking teilzunehmen. Vorbei an Goldgräber-Siedlungen und Indio-Dörfern schlägt er sich seinen Pfad mit der Machete frei. Doch zum besonderen Erlebnis-Kick wird für diesen Elendstouristen eine gruselige Mordgeschichte, die ihm die Einheimischen immer wieder genußvoll auftischen. Kurz vor seiner Ankunft, so erzählen sie, hätten Goldgräber angeblich an einer Stelle, an der der Urlauber vorbeigekommen ist, eine Frau bei lebendigem Leib in Stücke gehackt. Das Bild der Verstümmelten läßt den Schweizer daraufhin nicht mehr los. "Und dann", endet sein Bericht lapidar, "reist man auf genau demselben Weg wieder zurück, sitzt ein paar Tage später zu Hause am Küchentisch und wundert sich über seine Welt."
Münzners Buch ist aber weniger Kulturkritik als eine nüchterne Bestandsaufnahme, in der sich eine biographische Skizze an die nächste reiht. Manchmal lassen sich Parallelen erkennen, manchmal auch Gegenläufigkeiten. Doch was die Anekdoten miteinander zu tun haben, muß sich der Leser weitgehend selbst zusammenreimen. Münzner verzichtet nicht nur auf Erklärungen. Er spart auch ein dramaturgisches Gerüst samt fortlaufender Charaktere und eines übergreifenden Handlungsstrangs aus. Das mag als Ausdruck für die postmodern-entgrenzte Gesellschaft des dritten Jahrtausends vielleicht beabsichtigt sein: Seine Auflistung immer neuer Fälle wirkt indes auf Dauer doch etwas monoton.
GISA FUNCK.
Andreas Münzner: "Geographien". Liebeskind Verlag, München 2005. 128 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Trampelpfadfinder: Andreas Münzner reist im globalen Dorf
Schon Goethe klagte über die Hektik seiner Zeit: "Alles veloziferisch", kritisierte er die Aufbruchsstimmung der frühen Moderne. Was als Wortneuschöpfung aus velocitas und Luzifer schlicht meinte: "alles teuflisch schnell". Viele Autoren folgten ihm im Plädoyer für eine Entschleunigung. Vor allem passionierte Spaziergänger wie Robert Walser oder Peter Handke betonten in ihren Büchern immer wieder, wie sehr das gemächliche Flanieren doch der nervösen Hast vorzuziehen sei. Denn, während ersteres "tausend brauchbare, nützliche Gedanken" (Walser) hervorbringt, bedroht letzteres nichts Geringeres als den Seelenfrieden.
Das gilt nun auch für das schmale Büchlein von Andreas Münzner, dessen Titel "Geographien" weniger auf äußere als auf innere Landschaften anspielt. Auch hier "zieht die Seele nur langsam mit", während die Welt um sie herum, dank Internet und Globalisierung, immer schnellebiger wird. Und ausgerechnet das, was allgemein als große Errungenschaft des elektronischen Zeitalters gefeiert wird, macht Münzners Protagonisten in den insgesamt vierundachtzig Klein- und Kleinstepisoden schwer zu schaffen: das Schrumpfen der Entfernungen.
Die Ferne nämlich blinkt seinem Personal nur allzuoft trügerisch nah entgegen, während das Nahe ihm wiederum häufig merkwürdig fern erscheint. So wie in Paolas Fall, die sich in eine Internet-Bekanntschaft verliebt. Als sie nach fünf E-Mails und zwei Telefonaten spontan nach Deutschland reist, um ihr Gegenüber endlich persönlich kennenzulernen, läßt sie der Bildschirm-Bekannte vor verschlossener Tür schmählich abblitzen, da er sich durch die vorschnell hergestellte Pseudointimität offenkundig überrumpelt fühlt.
Unüberlegtes Vorpreschen hat unangenehme Nachwirkungen. An anderer Stelle liest man da etwa auch von einem namenlosen Schweizer, der nach Caracas fliegt, um an einem Urwald-Trekking teilzunehmen. Vorbei an Goldgräber-Siedlungen und Indio-Dörfern schlägt er sich seinen Pfad mit der Machete frei. Doch zum besonderen Erlebnis-Kick wird für diesen Elendstouristen eine gruselige Mordgeschichte, die ihm die Einheimischen immer wieder genußvoll auftischen. Kurz vor seiner Ankunft, so erzählen sie, hätten Goldgräber angeblich an einer Stelle, an der der Urlauber vorbeigekommen ist, eine Frau bei lebendigem Leib in Stücke gehackt. Das Bild der Verstümmelten läßt den Schweizer daraufhin nicht mehr los. "Und dann", endet sein Bericht lapidar, "reist man auf genau demselben Weg wieder zurück, sitzt ein paar Tage später zu Hause am Küchentisch und wundert sich über seine Welt."
Münzners Buch ist aber weniger Kulturkritik als eine nüchterne Bestandsaufnahme, in der sich eine biographische Skizze an die nächste reiht. Manchmal lassen sich Parallelen erkennen, manchmal auch Gegenläufigkeiten. Doch was die Anekdoten miteinander zu tun haben, muß sich der Leser weitgehend selbst zusammenreimen. Münzner verzichtet nicht nur auf Erklärungen. Er spart auch ein dramaturgisches Gerüst samt fortlaufender Charaktere und eines übergreifenden Handlungsstrangs aus. Das mag als Ausdruck für die postmodern-entgrenzte Gesellschaft des dritten Jahrtausends vielleicht beabsichtigt sein: Seine Auflistung immer neuer Fälle wirkt indes auf Dauer doch etwas monoton.
GISA FUNCK.
Andreas Münzner: "Geographien". Liebeskind Verlag, München 2005. 128 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zwiespältig beschreibt Rezensentin Gisa Funck ihr Leserlebnis mit den vierundachtzig Miniepisoden dieses Buches. Die darin beschriebenen Befindlichkeiten eines Mannes, dessen Seele "nur langsam mitzieht", während die Welt, die er per E-Mail und als real Reisender durchquert, dank Internet und Globalisierung immer schneller wird, hat sie zwar nicht ganz unbeeindruckt gelassen, aber wie sich hier eine biografische Skizze an die nächste reiht, findet sie auf die Dauer dann doch zu bemüht postmodern und letztlich monoton.
© Perlentaucher Medien GmbH
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