Wanderschaft und Denken. - Wie kein anderer hat Nietzsche diese Verbindung in seinem Leben und Schreiben hergestellt. Im gleichen Maße, in dem er sich als Philosoph stets an neuen Positionen versucht, experimentiert er mit den Orten seiner Existenz. Dieses Charakteristikum findet seinen Ausdruck zunächst in der räumlichen Form der Texte Nietzsches, den thematisch grenzziehenden und zugleich stilistisch Atmosphären bildenden Aphorismen. Darüber hinaus war Nietzsche aufgrund seines empirischen Interesses ein intensiver Leser erdkundlicher und erdgeschichtlicher Werke. Hierdurch entsteht in seinen Texten eine von der Rezeption bislang nur unzugänglich erschlossene Mischung aus geographischen Metaphern und Referenzen. In der Studie von Stephan Günzel wird erstmals Nietzsches Abwendung vom zeitgenössischen, historischen Denken entlang geologischer und kartographischer Leitmotive nachgewiesen. Diese sind der Schlüssel zum Verständnis der metaphorischen Landschaftsschilderungen und ihrer Erhebung zur philosophischen Konzeption dessen Werk. Wie Vergleiche mit Platon, Kant und Hegel zeigen, stellen besonders die geographischen und kosmologischen Motive des "Zarathustra" - das Meer, die Wüsten, die Berge, der Himmel und die Sonne - eine Kritik am traditionellen Bildgebrauch in der Philosophie vor Nietzsche dar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2002Der wohltemperierte Übermensch
Wie Geistesgrößen Klimanachteile kompensieren: Stephan Günzel lockt keinen Hund hinter Nietzsches Carbon-Natron-Ofen hervor
Die ersten hundertachtzig Seiten dieses Buchs sind für den Nietzsche-Liebhaber und Geographieinteressierten erfreulich. Er kann sie überschlagen. Denn die beiden Themen schneiden sich wie Kette und Schuß eines allzu lockeren Geflechts von Ideen, Einflüssen, An- und Entlehnungen, die vom neunzehnten Jahrhundert bis in die Philosophie der Gegenwart reichen. Dieses Geflecht ist an den oft willkürlichen Knotenpunkten interessant, ergibt aber kein kohärentes Muster, dem das Auge gerne folgte. Am Anfang will der Autor erklären, was "Geophilosophie" sei. Dann ist die Rede von Hegel, Schopenhauer, Bachofen, Burckhardt, von Fragen der Geschichtsphilosophie. Außerdem kommen noch zahlreiche Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts ins Spiel: vor allem Martin Heidegger und Gilles Deleuze. Ihnen komme das "Verdienst" zu, "auf Nietzsches philosophische Geographie reagiert und an sie angeknüpft zu haben".
Schließlich geht Günzel auf Nietzsches Denken im engeren Sinn ein, und zwar unter dem Aspekt des Klimas. Die Idee vom Einfluß des Klimas auf die Kultur hat eine Tradition, die bis Hippokrates zurückreicht. Im neunzehnten Jahrhundert streifte die Klimatheorie ihre deterministischen Züge ab, sie wurde etwas Neues. Nietzsche, so heißt es im Schlußwort, habe "die Ablösung des Geschichtsparadigmas in der Philosophie" vorangetrieben. Wir wissen nicht, was das bedeuten könnte, aber wir beginnen zu ahnen, warum Hegel in dieser Studie der nach Nietzsche am häufigsten genannte Philosoph ist. Dabei hätten wir das "Geschichtsparadigma" im Zusammenhang mit Nietzsche eher woanders gesucht. Die liebevoll erstellten Namens- und Sachregister des Bandes sind zu loben, die Einträge "Darwin" oder "Evolution" finden sich darin jedoch nicht. Wo bei Nietzsche noch vom Einfluß der Geographie und des Klimas die Rede ist, handelt es sich daher um Metaphern. Reduziert sich Nietzsches sogenannte "Geophilosophie" auf Literatur? Mehr als Metaphern und Motive aus dem weiten semantischen Feld der Geographie zählt Günzel jedenfalls nicht auf. Er durchschreitet Nietzsches geographische Gleichnislandschaften, ohne sie historisch zum Sprechen zu bringen.
Trost und Erleichterung hält das Kapitel über Nietzsches klimatischen Übermenschen bereit. Nietzsche hatte 1888 bereits 68 Mark für einen Carbon-Natron-Ofen der Firma Dieske aus Dresden angezahlt. Da las er die Warnung seitens der preußischen Regierung, daß von dem Ofen Vergiftungserscheinungen ausgehen könnten, und stornierte den Kauf. Von Preußen gerettet, konnte Nietzsche seine darwinistische Vision eines "allgemeinen Erdenmenschen" und seines klimatechnischen Selektionsvorteils formulieren: "Der überklimatische Kunstmensch, der die Nachteile jedes Klimas zu kompensieren weiß, schleppt die Ersatzmittel für das, was dem Klima fehlt (zum Beispiel Öfen), in jedes Klima." Wie Nietzsche die Menschheit hier "im Fortschritt der klimatischen Anpassung" unter "Ausscheidung der ungeeigneten Personen" zur "Erzeugung eines allen Klimaten gewachsenen Wesens" drängen läßt, das hätte spannend werden können. Aber leider, so Günzel, legt Nietzsche "an dieser Stelle ein deutlich kolonialistisches Gebaren an den Tag".
Nietzsches Ofen und sein überklimatischer Kunstmensch - das klingt skurril, ist es aber nicht. Sie gehören in den Zusammenhang des von Alfred Crosby 1986 auf den Begriff gebrachten "ökologischen Imperialismus" der europäischen Expansion. Friedrich Kittler erinnerte jüngst an einen Zeitgenossen Nietzsches, der schon in seiner 1870 erschienenen Studie über "Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland" diesen ökologischen Imperialismus des weißen Mannes am Werk sah. Der Kulturhistoriker Viktor Hehn beobachtete darin, wie die in Amerika "einheimische Flora und Fauna durch die europäische oder eine aus allen Weltteilen zusammengebrachte verdrängt worden ist", und zwar, so Hehn weiter, "in ganz historischer Zeit, nach Erfindung der Buchdruckerkunst und gleichsam unter den Augen der gebildeten Welt".
Der Kolonialismus konnte jetzt kulturgeographisch gedacht werden, und der kriegerische Philosoph Nietzsche mußte die Kulturgeschichte nur noch als Machtkampf und Politik lesbar machen. Die langfristigen politischen Folgen einer Kulturgeschichte domestizierter Pflanzen und Tiere, die kulturstiftende oder den Austausch hemmende Wirkung des Klimas und anderer zufälliger geographischer Faktoren hat zuletzt der Evolutionsbiologe und Anthropologe Jared Diamond in seinem Buch "Guns, Germs and Steel" nachgezeichnet, auf deutsch erschienen unter dem Titel "Arm und Reich".
CHRISTOPH ALBRECHT.
Stephan Günzel: "Geophilosophie". Nietzsches philosophische Geographie. Akademie Verlag, Berlin 2001. 337 S., geb., 49,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie Geistesgrößen Klimanachteile kompensieren: Stephan Günzel lockt keinen Hund hinter Nietzsches Carbon-Natron-Ofen hervor
Die ersten hundertachtzig Seiten dieses Buchs sind für den Nietzsche-Liebhaber und Geographieinteressierten erfreulich. Er kann sie überschlagen. Denn die beiden Themen schneiden sich wie Kette und Schuß eines allzu lockeren Geflechts von Ideen, Einflüssen, An- und Entlehnungen, die vom neunzehnten Jahrhundert bis in die Philosophie der Gegenwart reichen. Dieses Geflecht ist an den oft willkürlichen Knotenpunkten interessant, ergibt aber kein kohärentes Muster, dem das Auge gerne folgte. Am Anfang will der Autor erklären, was "Geophilosophie" sei. Dann ist die Rede von Hegel, Schopenhauer, Bachofen, Burckhardt, von Fragen der Geschichtsphilosophie. Außerdem kommen noch zahlreiche Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts ins Spiel: vor allem Martin Heidegger und Gilles Deleuze. Ihnen komme das "Verdienst" zu, "auf Nietzsches philosophische Geographie reagiert und an sie angeknüpft zu haben".
Schließlich geht Günzel auf Nietzsches Denken im engeren Sinn ein, und zwar unter dem Aspekt des Klimas. Die Idee vom Einfluß des Klimas auf die Kultur hat eine Tradition, die bis Hippokrates zurückreicht. Im neunzehnten Jahrhundert streifte die Klimatheorie ihre deterministischen Züge ab, sie wurde etwas Neues. Nietzsche, so heißt es im Schlußwort, habe "die Ablösung des Geschichtsparadigmas in der Philosophie" vorangetrieben. Wir wissen nicht, was das bedeuten könnte, aber wir beginnen zu ahnen, warum Hegel in dieser Studie der nach Nietzsche am häufigsten genannte Philosoph ist. Dabei hätten wir das "Geschichtsparadigma" im Zusammenhang mit Nietzsche eher woanders gesucht. Die liebevoll erstellten Namens- und Sachregister des Bandes sind zu loben, die Einträge "Darwin" oder "Evolution" finden sich darin jedoch nicht. Wo bei Nietzsche noch vom Einfluß der Geographie und des Klimas die Rede ist, handelt es sich daher um Metaphern. Reduziert sich Nietzsches sogenannte "Geophilosophie" auf Literatur? Mehr als Metaphern und Motive aus dem weiten semantischen Feld der Geographie zählt Günzel jedenfalls nicht auf. Er durchschreitet Nietzsches geographische Gleichnislandschaften, ohne sie historisch zum Sprechen zu bringen.
Trost und Erleichterung hält das Kapitel über Nietzsches klimatischen Übermenschen bereit. Nietzsche hatte 1888 bereits 68 Mark für einen Carbon-Natron-Ofen der Firma Dieske aus Dresden angezahlt. Da las er die Warnung seitens der preußischen Regierung, daß von dem Ofen Vergiftungserscheinungen ausgehen könnten, und stornierte den Kauf. Von Preußen gerettet, konnte Nietzsche seine darwinistische Vision eines "allgemeinen Erdenmenschen" und seines klimatechnischen Selektionsvorteils formulieren: "Der überklimatische Kunstmensch, der die Nachteile jedes Klimas zu kompensieren weiß, schleppt die Ersatzmittel für das, was dem Klima fehlt (zum Beispiel Öfen), in jedes Klima." Wie Nietzsche die Menschheit hier "im Fortschritt der klimatischen Anpassung" unter "Ausscheidung der ungeeigneten Personen" zur "Erzeugung eines allen Klimaten gewachsenen Wesens" drängen läßt, das hätte spannend werden können. Aber leider, so Günzel, legt Nietzsche "an dieser Stelle ein deutlich kolonialistisches Gebaren an den Tag".
Nietzsches Ofen und sein überklimatischer Kunstmensch - das klingt skurril, ist es aber nicht. Sie gehören in den Zusammenhang des von Alfred Crosby 1986 auf den Begriff gebrachten "ökologischen Imperialismus" der europäischen Expansion. Friedrich Kittler erinnerte jüngst an einen Zeitgenossen Nietzsches, der schon in seiner 1870 erschienenen Studie über "Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland" diesen ökologischen Imperialismus des weißen Mannes am Werk sah. Der Kulturhistoriker Viktor Hehn beobachtete darin, wie die in Amerika "einheimische Flora und Fauna durch die europäische oder eine aus allen Weltteilen zusammengebrachte verdrängt worden ist", und zwar, so Hehn weiter, "in ganz historischer Zeit, nach Erfindung der Buchdruckerkunst und gleichsam unter den Augen der gebildeten Welt".
Der Kolonialismus konnte jetzt kulturgeographisch gedacht werden, und der kriegerische Philosoph Nietzsche mußte die Kulturgeschichte nur noch als Machtkampf und Politik lesbar machen. Die langfristigen politischen Folgen einer Kulturgeschichte domestizierter Pflanzen und Tiere, die kulturstiftende oder den Austausch hemmende Wirkung des Klimas und anderer zufälliger geographischer Faktoren hat zuletzt der Evolutionsbiologe und Anthropologe Jared Diamond in seinem Buch "Guns, Germs and Steel" nachgezeichnet, auf deutsch erschienen unter dem Titel "Arm und Reich".
CHRISTOPH ALBRECHT.
Stephan Günzel: "Geophilosophie". Nietzsches philosophische Geographie. Akademie Verlag, Berlin 2001. 337 S., geb., 49,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Richtung stimmt, will uns Nils Röller sagen. Im Anschluss an Deleuze/Guattari und ihren Begriff der Geophilosophie lassen sich durchaus Bezüge herstellen, mit denen Nietzsche wieder zum Blühen gebracht werden kann. Indem der Autor den Bewegungen des Philosophen durch geografische Fachliteratur und europäische Landstriche folgt (ohne den Transfer zwischen historischem Gedankenwerk und aktuellen Fragen zu versuchen, wie Röller erleichtert anmerkt), erhellt er dem Rezensenten, "dass die Geografie die Idee der historischen Notwendigkeit in Frage stellt". Dabei leuchtet es Röller ein, wenn Nietzsches tatsächliche Reisen für diese Kartografie nicht so entscheidend sind wie die "fantasierten Tropen, Berge und Küsten". Was ihm weniger aufgeht, ist der Umstand, dass Günzel vor "Nietzsches Konversationswissen" zurückschreckt. Wie genau der sich "in den Netzen beliebten Wissens über fremde Kulturen" bewegt, hätte er doch gern aus diesem Buch erfahren. Eine Antwort auf die Frage indessen, welchen medialen Bedingungen Nietzsches Lektüren unterlagen, wäre für den Rezensenten sogar einem Beitrag gleichgekommen, "der die Geophilosophie zwischen sachkundiger Philologie und der Reflexion heutiger Strategien im Umgang mit fremden Kulturen gedeihen ließe".
© Perlentaucher Medien GmbH
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