'Den Finger auf Bruchstellen zu legen ist vor allem bei Denkern angesagt, die ein umfassendes System aufgebaut haben. Hegel ist hier der größte unter den Philosophen. An diesen Koloss hat sich mit einer Einführung Herbert Schnädelbach herangewagt. Und dieses Wagnis hat sich gelohnt. Schnädelbach unternimmt den paradox anmutenden Versuch, in das Denken eines Philosophen einzuführen, das wir heute, seiner Meinung nach, nicht mehr vertreten können. Doch tut er das in der Weise, dass er das letzte Urteil den Leserinnen und Lesern überlässt, indem er sie auch daran heranführt, selbst zu denken. Denn das Korrektiv zum historisierenden Geisteswissenschaftler ist der Kritiker aus eigener Vernunft.' DIE ZEIT
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.1999Philosophen, seid auf der Nachhut!
In einem Streit, dessen weniger spaßige Seite darin besteht, dass am Philosophischen Institut der Humboldt-Universität, abgesehen von Gerd Irrlitz, keiner mehr mit dem anderen redet und nicht zu sehen ist, wie dort noch Promotionskommissionen zusammengebracht werden sollen, hatte Herbert Schnädelbach eine großartig dialektische Behauptung vertreten. Die deutsche Philosophie habe den Anschluss an die Entwicklung des philosophischen Weltgeistes verpasst, weil sie immer noch der Hegel'schen Lehre des Weltgeistes und ihren hermeneutischen Derivaten nachhänge. Es spricht für die Weite des Schnädelbach'schen Geistes, dass er zur selben Zeit eine Einführung in die Hegel'sche Philosophie vorlegt ("Hegel zur Einführung". Junius Verlag, Hamburg 1999. 193 S., br., 24,80 DM). Sie ist didaktisch klar und weitgehend fehlerfrei (mit der schönen Seele wird in der Phänomenologie gewiss nicht an den Wilhelm Meister gedacht, die logische Struktur des Geistes kommt wohl kaum aus dem paulinischen Christentum, eher von Platon, sicher nicht von Augustinus). Die Interpretation ist eher konventionell. Hier nun bekommt der Autor es mit einem seltsamen Phänomen zu tun. Die angelsächsische Philosophie analytischer Tradition interessiert sich fortschreitend für Hegel und zumal für die ungenießbare Logik. Und da, etwa bei Robert Brandom, auf allerhöchstem Niveau. Sodass die Vorhut des Weltgeistes, denn die französischen "Denker" wird Schnädelbach kaum gemeint haben, zur Nachhut würde. Und die deutsche Nachhut die Vorhut zu überholen verspricht, einfach indem sie stehen bleibt. Verständnislos vor diesen seltsamen Truppenbewegungen des Weltgeistes explodiert Schnädelbach in wüstes Geschimpfe: Die Nachhut zu mir. "Verbieten" könne man solche "juvenilem Größenwahn und dem Profilierungsbedürfnis unseres akademischen Nachwuchses" entspringende "Ultra-Hermeneutik" zwar nicht, aber die "Entmystifikation", Hegel habe sich selber nur nicht richtig verstanden, sei in hohem Maße "ärgerlich", und "zum Hegel-Verständnis trägt sie nichts bei". Gar nichts. Man brauche nur die Vorreden und Einleitungen zu lesen, um zu wissen, "worum es bei Hegel geht". In der Tat ist Schnädelbachs Lage misslich. Seit zwanzig Jahren kämpft er gegen den morbus hermeneuticus. In Deutschland sei die Lektüre an die Stelle der sachlichen Kontroverse getreten, die Klassikerverehrung habe das eigene Philosophieren erstickt. Denken könne man nur, indem man "ich" sagt. Allerdings schütze das Ich-Sagen noch nicht vor dem Irrtum. Erst als Teilnehmer von Diskursen vergewisserte ich mich der Fundiertheit meiner Position. Im Dialog liege der rechte Weg zwischen historistischem Relativismus und absolutem Vernunftsystem. Und da kommen nun die Amerikaner und machen genau, was Schnädelbach verlangt, sagen "ich" ("Ich kann Hegel nur verstehen, wenn er das so meint") und vergewissern sich ihrer Position in sehr lebhaften Diskursen. Diese Position nähert sich mächtig derjenigen an, die er für die Wurzel allen Übels hält. Aber noch ist Polen nicht verloren und Schnädelbach im Amt. Schließlich ist "uns" bekannt, worum es bei Hegel geht. Und "dass Hegel eine Philosophie präsentiert, die wir nicht vertreten können", ja "die man nicht vertreten kann", "weil sie ihrer tiefsten Wurzel nach theologisch ist", während heute "unter Philosophen allgemeiner Konsens" darüber besteht, "was uns von Hegel trennt" und wo "wir" ihm nicht mehr zu "folgen" vermögen, aus den "Jugendträumen" der Philosophie erwacht und "erwachsen" geworden: "die Einsicht in das undurchdringlich irrationale Wesen der Welt". Und wenn die Amis so weitermachen, werden wir am Ende sogar das Vertrauen in die Vernunft der Diskursentwicklungen verlieren.
GUSTAV FALKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In einem Streit, dessen weniger spaßige Seite darin besteht, dass am Philosophischen Institut der Humboldt-Universität, abgesehen von Gerd Irrlitz, keiner mehr mit dem anderen redet und nicht zu sehen ist, wie dort noch Promotionskommissionen zusammengebracht werden sollen, hatte Herbert Schnädelbach eine großartig dialektische Behauptung vertreten. Die deutsche Philosophie habe den Anschluss an die Entwicklung des philosophischen Weltgeistes verpasst, weil sie immer noch der Hegel'schen Lehre des Weltgeistes und ihren hermeneutischen Derivaten nachhänge. Es spricht für die Weite des Schnädelbach'schen Geistes, dass er zur selben Zeit eine Einführung in die Hegel'sche Philosophie vorlegt ("Hegel zur Einführung". Junius Verlag, Hamburg 1999. 193 S., br., 24,80 DM). Sie ist didaktisch klar und weitgehend fehlerfrei (mit der schönen Seele wird in der Phänomenologie gewiss nicht an den Wilhelm Meister gedacht, die logische Struktur des Geistes kommt wohl kaum aus dem paulinischen Christentum, eher von Platon, sicher nicht von Augustinus). Die Interpretation ist eher konventionell. Hier nun bekommt der Autor es mit einem seltsamen Phänomen zu tun. Die angelsächsische Philosophie analytischer Tradition interessiert sich fortschreitend für Hegel und zumal für die ungenießbare Logik. Und da, etwa bei Robert Brandom, auf allerhöchstem Niveau. Sodass die Vorhut des Weltgeistes, denn die französischen "Denker" wird Schnädelbach kaum gemeint haben, zur Nachhut würde. Und die deutsche Nachhut die Vorhut zu überholen verspricht, einfach indem sie stehen bleibt. Verständnislos vor diesen seltsamen Truppenbewegungen des Weltgeistes explodiert Schnädelbach in wüstes Geschimpfe: Die Nachhut zu mir. "Verbieten" könne man solche "juvenilem Größenwahn und dem Profilierungsbedürfnis unseres akademischen Nachwuchses" entspringende "Ultra-Hermeneutik" zwar nicht, aber die "Entmystifikation", Hegel habe sich selber nur nicht richtig verstanden, sei in hohem Maße "ärgerlich", und "zum Hegel-Verständnis trägt sie nichts bei". Gar nichts. Man brauche nur die Vorreden und Einleitungen zu lesen, um zu wissen, "worum es bei Hegel geht". In der Tat ist Schnädelbachs Lage misslich. Seit zwanzig Jahren kämpft er gegen den morbus hermeneuticus. In Deutschland sei die Lektüre an die Stelle der sachlichen Kontroverse getreten, die Klassikerverehrung habe das eigene Philosophieren erstickt. Denken könne man nur, indem man "ich" sagt. Allerdings schütze das Ich-Sagen noch nicht vor dem Irrtum. Erst als Teilnehmer von Diskursen vergewisserte ich mich der Fundiertheit meiner Position. Im Dialog liege der rechte Weg zwischen historistischem Relativismus und absolutem Vernunftsystem. Und da kommen nun die Amerikaner und machen genau, was Schnädelbach verlangt, sagen "ich" ("Ich kann Hegel nur verstehen, wenn er das so meint") und vergewissern sich ihrer Position in sehr lebhaften Diskursen. Diese Position nähert sich mächtig derjenigen an, die er für die Wurzel allen Übels hält. Aber noch ist Polen nicht verloren und Schnädelbach im Amt. Schließlich ist "uns" bekannt, worum es bei Hegel geht. Und "dass Hegel eine Philosophie präsentiert, die wir nicht vertreten können", ja "die man nicht vertreten kann", "weil sie ihrer tiefsten Wurzel nach theologisch ist", während heute "unter Philosophen allgemeiner Konsens" darüber besteht, "was uns von Hegel trennt" und wo "wir" ihm nicht mehr zu "folgen" vermögen, aus den "Jugendträumen" der Philosophie erwacht und "erwachsen" geworden: "die Einsicht in das undurchdringlich irrationale Wesen der Welt". Und wenn die Amis so weitermachen, werden wir am Ende sogar das Vertrauen in die Vernunft der Diskursentwicklungen verlieren.
GUSTAV FALKE
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