56,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Versandfertig in 2-4 Wochen
  • Gebundenes Buch

Georg Michaelis war Nachfolger Bethmann Hollwegs als Reichskanzler. Seine kurze Amtszeit von Juli bis Oktober 1917 stand im Zeichen der Spannungen zwischen OHL und Reichstagsmehrheit, ohne deren Wissen ihn Ludendorff beim Kaiser durchgesetzt hatte. Den Auseinandersetzungen um die Friedensresolution des Reichstags, um die Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts und die Behandlung der USPD war der politisch unerfahrene Karrierebeamte mit bis dahin glänzender Laufbahn nicht gewachsen - er trat zurück. Bert Becker legt nun die erste umfassende Biographie Michaelis' vor. Sie würdigt auf Basis…mehr

Produktbeschreibung
Georg Michaelis war Nachfolger Bethmann Hollwegs als Reichskanzler. Seine kurze Amtszeit von Juli bis Oktober 1917 stand im Zeichen der Spannungen zwischen OHL und Reichstagsmehrheit, ohne deren Wissen ihn Ludendorff beim Kaiser durchgesetzt hatte. Den Auseinandersetzungen um die Friedensresolution des Reichstags, um die Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts und die Behandlung der USPD war der politisch unerfahrene Karrierebeamte mit bis dahin glänzender Laufbahn nicht gewachsen - er trat zurück. Bert Becker legt nun die erste umfassende Biographie Michaelis' vor. Sie würdigt auf Basis umfassender Recherchen sein protestantisch-pietistisch motiviertes Wirken für den Aufbau eines modernen Interventions- und Sozialstaats und korrigiert weitverbreitete Fehlurteile. So erweist sich Michaelis als Organisator von großer Tatkraft, dem ein fruchtbares Zusammenspiel zwischen staatlichem und privatem Engagement auf sozial- und wohlfahrtspolitischen Feldern gelang. 1914-1917 war er eine mitentscheidende Schlüsselfigur im System der Kriegsernährungsorganisation. Nach dem Krieg widmete er sich christlich inspirierten Wirtschafts- und Lebensreformplänen und wurde u. a. zum Mitbegründer der Demeter-Organisation für Naturprodukte.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2007

Fromm und schneidig in der Wilhelmstraße
Der längst vergessene 14-Wochen-Reichskanzler Georg Michaelis war ein tatkräftiger Organisator und erfolgreicher Reformer

Von der Gründung des Deutschen Reiches 1871 bis zum Beginn der Hitler-Diktatur 1933 amtierten 20 Reichskanzler in Berlin. Zehn von ihnen erreichten nicht einmal eine Amtsdauer von einem Jahr. Zu ihnen gehört Georg Michaelis. Seine Ernennung im Juli 1917, nach fast dreijähriger Dauer des Ersten Weltkriegs, überraschte die Öffentlichkeit ebenso wie den 59 Jahre alten preußischen Spitzenbeamten. Der politisch unerfahrene Unterstaatssekretär, der bisher neben dem "Reichswagen hergelaufen" war, übernahm die Bürde des Kanzleramts in der ihm eigenen pietistisch-protestantischen Frömmigkeitshaltung. Nur 14 Wochen später war er entlassen. Nach einem einjährigen Gastspiel als Oberpräsident von Pommern blieb ihm Zeit genug, sein Leben in Memoiren "Für Staat und Volk" (1922) zu reflektieren und der Kaiserzeit nachzutrauern.

Bisher zählte Michaelis zu den vergessenen und alles andere als "spannenden Persönlichkeiten". Als eine solche hat ihn Bert Becker, seit 2002 Gastprofessor am Department of History der University of Hong Kong, entdeckt und sich "fast fünfzehn Jahre" mit ihm beschäftigt. Für seine kulturwissenschaftlich orientierte Biographie konnte er neben dem umfangreichen Nachlass Michaelis' weitere Quellen aus mehr als 30 Archiven auswerten, aus deren Fülle er dem Leser allerdings auch kein Detail erspart. Da Becker jedoch Michaelis' Leben und Wirken überzeugend in die jeweiligen übergreifenden Zeitbezüge eingeordnet hat, bildet der voluminöse Band gleichzeitig ein Nachschlagewerk zum Verständnis von Bildung und Ausbildung, vom Verwaltungs-, Sozial- und Wirtschaftsleben sowie zur evangelisch-konservativen Staatsgesinnung und Auffächerung des Protestantismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik.

Michaelis wurde 1857 im schlesischen Haynau als Sohn eines Kreisrichters geboren und ist in Frankfurt/Oder aufgewachsen. Nach einem Studium der Rechtswissenschaft in Breslau und Leipzig absolvierte er 1879 in Berlin die erste Staatsprüfung und fünf Jahre später, nach unbesoldeter Referendarzeit und einjährig-freiwilligem Militärdienst, das Assessorexamen. Während seiner anschließenden Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft in Berlin wurde Michaelis in Göttingen zum Dr. iur. promoviert. Dieser Titel bildete die Voraussetzung für eine ihm angebotene Dozentur an der Schule des Vereins für deutsche Wissenschaften in Tokio. Dort lehrte er von 1885 bis 1889 deutsches Staats- und Verwaltungsrecht. Nach seiner Rückkehr und erneut unbesoldeter Hilfsarbeit bei der Staatsanwaltschaft in Berlin fand Michaelis eine Anstellung in Guben, wo der "fast mittellose Jurist" die Tochter eines dortigen Textilindustriellen heiratete.

In den folgenden zwei Jahrzehnten machte der frühere Corpsstudent und schneidig auftretende Reserveoffizier eine steile Karriere im preußischen Staatsdienst, nachdem 1892 dem "Justizjuristen" der Sprung in den Verwaltungsdienst gelungen war. Das bedeutete gesellschaftlichen Aufstieg, aber auch häufigen Ortswechsel. So gelangte Michaelis über Stationen bei den Bezirksregierungen in Trier und Arnsberg, wo er die Kolonialpolitik pries, 1900 als Vertreter des Regierungspräsidenten nach Liegnitz, in die schlesische "Heimatprovinz". Dort trat er mit seiner Frau der pietistisch geprägten evangelischen Gemeinschaftsbewegung bei, zog sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück und engagierte sich in sozialen Projekten der "Reich-Gottes-Arbeit". 1902 zum Stellvertreter des Oberpräsidenten in Breslau befördert, wo er auch als Flottenpropagandist auftrat, wechselte er 1909 als Unterstaatssekretär in das preußische Finanzministerium in Berlin. 1912 baute er für die inzwischen neunköpfige Familie in Saarow am Scharmützelsee in der Mark Brandenburg einen "Sommersitz", der später sein Lebensmittelpunkt wurde.

Im Ersten Weltkrieg, dessen Ausbruch er begrüßt hatte, meisterte Michaelis schwierige Aufgaben, zunächst im Nebenamt in der Kriegsernährungswirtschaft, dann ab 1915 an der Spitze der Reichsgetreidestelle ("Reichsgetreide-Vater Deutschlands") und seit Februar 1917 als preußischer Staatskommissar für Volksernährung. Dabei entdeckte er die Vorzüge der Gemeinwirtschaft. Am 7. März 1917 erregte er öffentliches Aufsehen mit einer Rede als Anwalt der Konsumenten gegen die Agrarlobby. Daraufhin lästerte der Journalist Erich Dombrowski: "Ein kleines, eingetrocknetes Männchen ... Die Venus ist aus Schaum geboren, Michaelis aus Aktenstaub. Dieses Kerlchen ... spielt den kleinen Napoleon." Vier Monate später, am 13. Juli 1917, stürzte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg durch eine Allianz der Obersten Heeresleitung mit der neuen Mitte-links-Mehrheit des Reichstags. Sie drängte auf einen Verständigungsfrieden und eine Parlamentarisierung des monarchischen Systems, und dies mit einem neuen Reichskanzler. In der Umgebung Wilhelms II. wurden etliche Namen diskutiert. Schließlich fiel dessen Generaladjutanten, Generaloberst von Plessen, Michaelis ein, den Hindenburg und Ludendorff akzeptierten. Mit dieser Rückendeckung wagten Kabinettschef von Valentini und Plessen einen Vorstoß beim Kaiser, der sich an den Kandidaten schwach erinnerte: "Ein kleiner Mann, ein Zwerg." Dieser "Kleine" stimmte seiner Ernennung zu, nachdem er aus den Losungen der Brüdergemeinde einen positiven Tagesspruch verinnerlicht hatte. Der Berliner Chefredakteur Theodor Wolff notierte: "Man weiß eigentlich nur, dass Michaelis sehr fromm ist." Das war er in der Tat, allerdings den Anforderungen des Kanzleramts, jetzt in der Uniform eines Oberstleutnants a. D., nicht gewachsen. Er lehnte die Ziele der neuen Reichstagsmehrheit ab und griff die von Papst Benedikt XV. eingeleitete Initiative zu einem Versöhnungsfrieden nicht deutlich genug auf, obwohl er zu einem Verzicht auf Belgien ("Faustpfand") bereit gewesen wäre - wie Becker jetzt herausarbeitet. Auch ließ Michaelis sich bei diesem Vorgehen nicht von konfessioneller Voreingenommenheit leiten - ein Vorwurf, gegen den er sich seit 1919 jahrelang zur Wehr setzen musste. Als preußischer Ministerpräsident war Michaelis schließlich nicht bereit, die Reform des Dreiklassenwahlrechts mitzutragen. Ein überzogener Angriff auf die äußerste Linke im Reichstag kostete ihn sein Amt. Sein Rücktritt am 1. November 1917 war der erste parlamentarische Kanzlersturz.

Nach seinem "Karriereabstieg", als Oberpräsident in Stettin (1918/19), musste Michaelis aus dem Staatsdienst ausscheiden. Seitdem engagierte er sich in vielfältigen ehrenamtlichen Funktionen für eine religiös fundierte Sozialarbeit, für eine Verbesserung der Notlage der Studenten. Er förderte christlich inspirierte Wirtschafts- und Lebensweisen, auch biologisch-dynamisch betriebene Formen von Landwirtschaft und Gartenbau. 1930 trat er der rasch absterbenden Konservativen Volkspartei bei. Bereits 1933 fand er, mit der großen Mehrheit der Gemeinschaftsbewegung, den Weg in die NSDAP, in die der mittlerweile 78 Jahre alte Vorsitzende des Kirchenrats seiner Kirchengemeinde in Bad Saarow noch ein Jahr vor seinem Tod aufgenommen wurde - ein unwürdiges Lebensende.

Beckers Fazit, dass die "widersprüchliche Figur" von Michaelis, bei aller kritischen Wertung, mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung verdiene, "als ihr bisher zugesprochen" worden sei, ist berechtigt. Dieser konservative Verwaltungsbeamte war ein tatkräftiger Organisator und erfolgreicher christlicher Reformer. Er sollte nicht an seiner kurzen Kanzlerschaft gemessen werden, die Episode blieb. Ein nur körperlich Kleiner hat einen großen Biographen gefunden.

RUDOLF MORSEY

Bert Becker: Georg Michaelis. Preußischer Beamter - Reichskanzler - Christlicher Reformer 1857-1936. Eine Biographie. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2007. 892 S., 98,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr