Produktdetails
- Verlag: Paris : Flammarion
- ISBN-13: 9782080210029
- ISBN-10: 2080210025
- Artikelnr.: 12203032
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003Die reine Wahrheit des Kerzenlichts
Mit gebotener Vorsicht: Jacques Thuilliers Monographie über den lothringischen Maler Georges de La Tour / Von Andreas Kilb
Unter den vielen Rätseln der Kunstgeschichte ist das Werk des Malers Georges de La Tour eines der faszinierendsten. Zu seinen Lebzeiten, in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, war De La Tour als Künstler und Bürger überaus erfolgreich. Er avancierte, mit einem Privileg des lothringischen Herzogs versehen, zum Patrizier der kleinen Festungsstadt Lunéville, durfte sich "Maler in Diensten des Königs" Ludwig XIII. nennen und hinterließ seinem Sohn Etienne ein Vermögen, das diesen befähigte, binnen weniger Jahre einen Adelsbrief zu erlangen. De La Tours Gemälde hingen in den Privatsammlungen Richelieus und Claude de Bullions, des Finanzministers Ludwigs XIII., bei den Marschällen von La Ferté und den Herzögen in Nancy, sie machten ihren Weg quer durch Europa nach Lemberg, London und ins südfranzösische Albi. Als er 1652 starb, war De La Tour ein Malerfürst seiner Zeit. Dann wurde er vergessen.
Hundert Jahre später kannte Dom Calmet in seiner "Geschichte der berühmten Männer Lothringens" immerhin noch ein paar der Geschichten, die sich um den Maler rankten, darunter jene vom Kunstsinn des französischen Königs, der alle Bilder in seinem Schlafzimmer abhängen ließ, um in Ruhe einen "Heiligen Sebastian" De La Tours betrachten zu können. Im neunzehnten Jahrhundert aber war "Du Ménil-La-Tour", wie man ihn mit dem Adelstitel seines Sohnes nannte, nur noch ein Gerücht, während seine Bilder, wenn sie Reisenden wie Stendhal und Taine in den Provinzmuseen Frankreichs auffielen, mal Velázquez, mal Caravaggio oder Murillo zugeschrieben wurden. Erst 1915 identifizierte Hermann Voss in einem bahnbrechenden Aufsatz drei Gemälde aus Nantes und Rennes als Arbeiten von "Georges du Mesnil de La Tour". Bis 1934, als es in der Ausstellung "Les peintres de la réalité" auftauchte, war De La Tours OEuvre auf dreizehn Bilder angewachsen. 1972, als die Pariser Orangerie die erste monographische Schau präsentierte, waren es dreiunddreißig, 1997, als das Gesamtwerk in Frankreich und Washington zu sehen war, dann dreiundvierzig Originale. Eins davon, ein "Heiliger Thomas" im Besitz des Malteserordens, wurde 1988 nach einem öffentlichen Spendenaufruf vom Louvre angekauft. Wenige Jahrzehnte nach ihrer Wiederentdeckung hatte sich De La Tours Malerei in ein Heiligtum der französischen Nationalkultur verwandelt. Dem Kunsthistoriker Jacques Thuillier, der die Rezeption De La Tours in Frankreich wesentlich mitgeprägt hat, ist es deshalb hoch anzurechnen, daß er in seiner Monographie die lothringische Identität des Malers nie aus dem Blick verliert. De La Tour dachte französisch höchstens in dem Sinn, daß er die Truppen Ludwigs XIII., die seit 1630 weite Teile des Herzogtums Lothringen besetzt hielten, gegenüber den habsburgisch-spanischen Verbündeten seines Herzogs Karl als das kleinere Übel empfand. Ansonsten sprechen all jene Dokumente, die beharrlicher Forscherfleiß in den vergangenen Jahrzehnten aus Archiven und Dachböden ans Licht gebracht hat, gegen die Vorstellung vom Nationalkünstler. De La Tour war ein Regionalist von echtem Schrot und Korn, einer jener Provinzköpfe, wie sie Balzac mit kräftigen Strichen gezeichnet hat. Sein Land war Lothringen, nicht das mächtige Königreich nebenan.
1593 als Sohn eines wohlhabenden Bäckers in dem zum Bistum Metz gehörenden Ort Vic-sur-Seille geboren, ließ sich De La Tour mit siebenundzwanzig Jahren in Lunéville nieder, wo er, anders als in der Residenzstadt Nancy, keine örtliche Konkurrenz zu fürchten hatte. Von dort aus bot er den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, in den der ehrgeizige Karl sein Herzogtum verwickelt hatte, ebenso die Stirn wie den Lockrufen aus Frankreich. Erst 1638, als Lunéville niedergebrannt und ausgeplündert war, entschloß er sich, zumindest zeitweise in Paris zu leben, während seine Familie in Nancy untergebracht war. De La Tour bekam ein Zimmer im Louvre und wurde zu einem der favorisierten Maler des Hofes. Aber schon 1643 hatte er seinen Wohnsitz wieder in Lunéville. Der dekorative Klassizismus eines Vouet oder Le Brun, der in diesen Jahren blühte, könnte De La Tour abgeschreckt haben, mutmaßt Thuillier, doch vielleicht ist die Wahrheit einfacher: Der Mann aus Lothringen hat sich in der Metropole nicht wohl gefühlt. Es zog ihn zurück in die Provinz, wo sein Besitztum lag. Bis zu seinem Tod ist De La Tour dann in Lunéville geblieben, kein Verächter, aber ein Außenseiter des Ruhms.
Die erhaltenen Dokumente werfen kein freundliches Licht auf die Persönlichkeit De La Tours. Er war, wie es scheint, ein arroganter Starrkopf, aufbrausend und dünkelhaft, ein Kriegsgewinnler und Hagestolz. Im Jahr 1646 beklagen sich die Bürger von Lunéville bei ihrem exilierten Herzog über den Maler, "der sich bei den Leuten durch die Menge der Hunde, die er bei sich hält, verhaßt gemacht hat, denn er treibt, als wäre er Herr des Ortes, die Hasen durch die Felder, so daß diese niedergetrampelt und verwüstet werden". Im selben Jahr prügelt er einen Armeesergeanten krankenhausreif, und im Sommer 1650 schlägt er einen Knecht, der sich auf seinen Feldern herumtreibt, derart heftig, daß dieser Anzeige erstattet und De La Tours Familie die Affäre mit einer größeren Geldsumme bereinigen muß.
Thuillier unternimmt nun den leicht donquichottesken Versuch, diese Charakterzüge mit De La Tours Malerei zu versöhnen. Bei einem Meister derber und zotiger Genreszenen, einem Kraftkerl des Kolorits und der breiten Pinselführung, könnte das vielleicht gelingen, aber De La Tour war nichts von alledem. Sein Biograph spricht, etwas betreten, vom "allgemeinen Interesse der Bevölkerung", dem die Steuerbefreiung der lothringischen Oberschicht gedient habe, und lobt die Rüstigkeit des brutalen Greises, aber es bleibt das Horrendum eines engherzigen Cholerikers, der einige der stillsten und leuchtendsten Bilder gemalt hat, welche die abendländische Kunstgeschichte kennt. Es ist zwecklos, Leben und Werk dieses Mannes zur Deckung bringen zu wollen, da er es schon selbst nicht vermocht hat; und vielleicht hat das erfolgreiche Bemühen seiner Erben, die Erinnerung an den Maler auszulöschen, auch etwas mit dieser biographischen Dissonanz zu tun. De La Tours Bilder paßten nicht in den Rahmen des französischen Klassizismus, aber sie passen auch nicht zu dem, der sie schuf. Sie legen keine biographische Spur, sondern drücken einen rückhaltlosen Kunstwillen aus; sie sind reine Intention. Darin liegt ihr Mysterium, ihr Zauber, den keine Deutung zu erschöpfen vermag.
Der Werkkatalog, der den Band beschließt, verzeichnet einschließlich der nur in Kopien bekannten oder als verlorener Bestandteil einer Bildreihe rekonstruierbaren Titel achtzig Gemälde. Die meisten der Motive, die sie zeigen, kommen zwei-, drei-, viermal oder noch öfter vor, denn De La Tour hat grundsätzlich in Serien gedacht. Er war der erste seriell arbeitende große Maler der Neuzeit, und darin besteht, mehr als in einzelnen Stilmerkmalen und inhaltlichen Feinheiten, seine bestürzende Modernität. De La Tour malt den blinden Drehorgelspieler im Stehen, frontal mit halbgeöffnetem Mund und seitlich geneigtem Kahlkopf, einen angeleinten Hund zu seinen Füßen; dann zeigt er ihn noch einmal im Profil, sitzend, mit gekreuzten Beinen, am vorderen Bildrand die abgewetzte Lederhülle seines Instruments; und schließlich ein drittes Mal, jetzt in Dreiviertelansicht, laut singend, das Gesicht zu einer unvergeßlichen Grimasse des Elends verzogen. Wenn man die drei Gemälde hintereinander betrachtet, dann ist es, als sähe man einen jener frühen Filme, in denen aus Einzelbildern die Illusion einer Bewegung entsteht, ein kinematographisches Bruchstück des frühen siebzehnten Jahrhunderts.
Oder die büßende Magdalena, von der, in mindestens fünf Varianten, ebenso viele Originale und etliche Kopien erhalten sind: Sie zeigen, mit einer Ausnahme, immer die gleiche Frau, vielleicht eine von De La Tours älteren Töchtern, in verschiedenen Stadien der Askese, mit entblößter oder bedeckter Brust, im Seiden- oder Leinenrock, mit oder ohne Spiegel, mit offen brennender oder verdeckter Kerze, mit wechselnden Requisiten, Reflexionen, Schattenspielen. Keines dieser Bilder ist eine Vorstudie, jedes hält eine vollendete Version der künstlerischen Idee fest. Und gemeinsam machen sie, einander kommentierend, dieser Idee den Prozeß. In der Gegenüberstellung verschwimmen die ohnehin spärlichen Versatzstücke, es bleibt der Frauenkörper, aber auch er ist durch die Beleuchtung entindividualisiert. Das Gesicht ist abgewandt, die Glieder schimmern wie Wachs, so daß das Motiv sich ganz zur Geste zusammenzieht, zur Ikone der Abkehr, als verzehrte es sich selbst wie die Kerze auf dem Tisch.
De La Tours Genrebilder transzendieren das Genre, indem sie es wörtlich nehmen. Sie betrügen, indem sie, wie die berühmte "Wahrsagerin", vom Betrug erzählen, mit Gesten und Blicken den Betrachter; oder sie machen sich, wie die beiden Versionen des "Falschspielers", selbst zur gezinkten Karte auf dem Spieltisch der Malerei. Auf dem ersten Gemälde hält der Spieler ein Kreuz-, auf dem zweiten ein Karo-As im Gürtel verborgen, aber vom einen zum anderen hat sich bei identischem Bildaufbau die Farbpalette seltsam verschoben, von giftigen Weiß- und Violettönen zu gedämpftem Rot, Braun und Blau, als wollte der Maler die koloristischen Möglichkeiten des Caravaggismus ausloten. Motivwiederholungen gibt es im Barock auch bei anderen, zumal bei kleineren Malern, aber keiner hat sie so programmatisch betrieben wie De La Tour. Bei ihm wird die Variation zur Wahrheit über das Thema, denn am Ende ist alles bloß Kostümierung und Pose, was zählt, ist allein das Licht des Augenblicks: das Kind mit den goldenen Haaren, das in "Der heilige Josef als Zimmermann" dem arbeitenden Greis die Kerze hält (möglicherweise De La Tours jüngste Tochter Marie, die mit zwölf Jahren an den Pocken starb); oder die ältere Frau, die in "Das Neugeborene" den Säugling im Arm der Mutter betrachtet, versunken in die Selbstversunkenheit des beginnenden Lebens.
Zuletzt hat De La Tour nur noch Nachtstücke gemalt, vielleicht, weil sich nur so, im Flackern der windbewegten Fackeln und Kerzen, der Moment ganz rein darstellen ließ, als Abdruck einer Wirklichkeit, die durch den Stoff des Bildes hindurch zu atmen scheint. Vom "unerbittlichen Realismus" De La Tours schreibt Thuillier einmal, aber das gilt eher für Caravaggio, der seinen nächtlichen Amor in den Straßendreck Roms legte. Bei De La Tour hat selbst der Schmutz unter den Nägeln der Bauern etwas Versöhnliches, weil er den Trost aller Fotografien ausspricht: "So ist es gewesen" - und so wird es, über den Tod hinaus, im Abbild erhalten bleiben.
"Wenigstens vierhundert bis fünfhundert Bilder", schätzt Thuillier, habe De La Tour in Vic und Lunéville gemalt. Das gehört zu den vielen Behauptungen dieses Buches, die weder zu beweisen noch zu widerlegen sind, ebenso wie die mit Inbrunst vorgetragene These, unser Maler habe ganz bestimmt seine Lehrjahre in Rom verbracht, da er sich nur dort am "caravaggesken Geist" entzünden konnte. Das Bild eines "Serrone-Meisters", das Thuillier als visuelles Bonbon seiner Spekulation beifügt, erinnert ein bißchen an De La Tour, aber auch an andere Maler, so wie die Schlußbemerkung über "diese intime Verbindung zwischen Realität und Idee, die von heutigen Künstlern allzu leichtfertig negiert wird", an Kunstdebatten erinnert, die man erledigt glaubte.
Vielleicht kann man von einem De-LaTour-Spezialisten nicht verlangen, daß er über den bewährten Horizont einer biographisch unterfütterten Bildbetrachtung hinausgeht, daß er etwa Hobbes, Descartes, Pascal, die Zeitgenossen des Malers, zitiert und damit etwas von der tieferen Stimmung der Epoche, in der diese Bilder entstanden, einzufangen versucht; aber schön wäre es doch gewesen. So bleibt ein großformatiger Band, der alles, was es von Georges de La Tour zu sehen und über ihn mitzuteilen gibt, mit der gebotenen Vorsicht ausbreitet, ein nützliches, kein hinreißendes Buch. Aber so, wie De La Tour gemalt hat, muß man auch nicht schreiben können. Das konnte nur der Autor der "Pensées".
Jacques Thuillier: "Georges de La Tour". Aus dem Französischen von Bettina Blumenberg. Editions Flammarion, Paris und München 2003. 280 S., 130 Farb- und 240 S/W-Abb., geb., 75,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit gebotener Vorsicht: Jacques Thuilliers Monographie über den lothringischen Maler Georges de La Tour / Von Andreas Kilb
Unter den vielen Rätseln der Kunstgeschichte ist das Werk des Malers Georges de La Tour eines der faszinierendsten. Zu seinen Lebzeiten, in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, war De La Tour als Künstler und Bürger überaus erfolgreich. Er avancierte, mit einem Privileg des lothringischen Herzogs versehen, zum Patrizier der kleinen Festungsstadt Lunéville, durfte sich "Maler in Diensten des Königs" Ludwig XIII. nennen und hinterließ seinem Sohn Etienne ein Vermögen, das diesen befähigte, binnen weniger Jahre einen Adelsbrief zu erlangen. De La Tours Gemälde hingen in den Privatsammlungen Richelieus und Claude de Bullions, des Finanzministers Ludwigs XIII., bei den Marschällen von La Ferté und den Herzögen in Nancy, sie machten ihren Weg quer durch Europa nach Lemberg, London und ins südfranzösische Albi. Als er 1652 starb, war De La Tour ein Malerfürst seiner Zeit. Dann wurde er vergessen.
Hundert Jahre später kannte Dom Calmet in seiner "Geschichte der berühmten Männer Lothringens" immerhin noch ein paar der Geschichten, die sich um den Maler rankten, darunter jene vom Kunstsinn des französischen Königs, der alle Bilder in seinem Schlafzimmer abhängen ließ, um in Ruhe einen "Heiligen Sebastian" De La Tours betrachten zu können. Im neunzehnten Jahrhundert aber war "Du Ménil-La-Tour", wie man ihn mit dem Adelstitel seines Sohnes nannte, nur noch ein Gerücht, während seine Bilder, wenn sie Reisenden wie Stendhal und Taine in den Provinzmuseen Frankreichs auffielen, mal Velázquez, mal Caravaggio oder Murillo zugeschrieben wurden. Erst 1915 identifizierte Hermann Voss in einem bahnbrechenden Aufsatz drei Gemälde aus Nantes und Rennes als Arbeiten von "Georges du Mesnil de La Tour". Bis 1934, als es in der Ausstellung "Les peintres de la réalité" auftauchte, war De La Tours OEuvre auf dreizehn Bilder angewachsen. 1972, als die Pariser Orangerie die erste monographische Schau präsentierte, waren es dreiunddreißig, 1997, als das Gesamtwerk in Frankreich und Washington zu sehen war, dann dreiundvierzig Originale. Eins davon, ein "Heiliger Thomas" im Besitz des Malteserordens, wurde 1988 nach einem öffentlichen Spendenaufruf vom Louvre angekauft. Wenige Jahrzehnte nach ihrer Wiederentdeckung hatte sich De La Tours Malerei in ein Heiligtum der französischen Nationalkultur verwandelt. Dem Kunsthistoriker Jacques Thuillier, der die Rezeption De La Tours in Frankreich wesentlich mitgeprägt hat, ist es deshalb hoch anzurechnen, daß er in seiner Monographie die lothringische Identität des Malers nie aus dem Blick verliert. De La Tour dachte französisch höchstens in dem Sinn, daß er die Truppen Ludwigs XIII., die seit 1630 weite Teile des Herzogtums Lothringen besetzt hielten, gegenüber den habsburgisch-spanischen Verbündeten seines Herzogs Karl als das kleinere Übel empfand. Ansonsten sprechen all jene Dokumente, die beharrlicher Forscherfleiß in den vergangenen Jahrzehnten aus Archiven und Dachböden ans Licht gebracht hat, gegen die Vorstellung vom Nationalkünstler. De La Tour war ein Regionalist von echtem Schrot und Korn, einer jener Provinzköpfe, wie sie Balzac mit kräftigen Strichen gezeichnet hat. Sein Land war Lothringen, nicht das mächtige Königreich nebenan.
1593 als Sohn eines wohlhabenden Bäckers in dem zum Bistum Metz gehörenden Ort Vic-sur-Seille geboren, ließ sich De La Tour mit siebenundzwanzig Jahren in Lunéville nieder, wo er, anders als in der Residenzstadt Nancy, keine örtliche Konkurrenz zu fürchten hatte. Von dort aus bot er den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, in den der ehrgeizige Karl sein Herzogtum verwickelt hatte, ebenso die Stirn wie den Lockrufen aus Frankreich. Erst 1638, als Lunéville niedergebrannt und ausgeplündert war, entschloß er sich, zumindest zeitweise in Paris zu leben, während seine Familie in Nancy untergebracht war. De La Tour bekam ein Zimmer im Louvre und wurde zu einem der favorisierten Maler des Hofes. Aber schon 1643 hatte er seinen Wohnsitz wieder in Lunéville. Der dekorative Klassizismus eines Vouet oder Le Brun, der in diesen Jahren blühte, könnte De La Tour abgeschreckt haben, mutmaßt Thuillier, doch vielleicht ist die Wahrheit einfacher: Der Mann aus Lothringen hat sich in der Metropole nicht wohl gefühlt. Es zog ihn zurück in die Provinz, wo sein Besitztum lag. Bis zu seinem Tod ist De La Tour dann in Lunéville geblieben, kein Verächter, aber ein Außenseiter des Ruhms.
Die erhaltenen Dokumente werfen kein freundliches Licht auf die Persönlichkeit De La Tours. Er war, wie es scheint, ein arroganter Starrkopf, aufbrausend und dünkelhaft, ein Kriegsgewinnler und Hagestolz. Im Jahr 1646 beklagen sich die Bürger von Lunéville bei ihrem exilierten Herzog über den Maler, "der sich bei den Leuten durch die Menge der Hunde, die er bei sich hält, verhaßt gemacht hat, denn er treibt, als wäre er Herr des Ortes, die Hasen durch die Felder, so daß diese niedergetrampelt und verwüstet werden". Im selben Jahr prügelt er einen Armeesergeanten krankenhausreif, und im Sommer 1650 schlägt er einen Knecht, der sich auf seinen Feldern herumtreibt, derart heftig, daß dieser Anzeige erstattet und De La Tours Familie die Affäre mit einer größeren Geldsumme bereinigen muß.
Thuillier unternimmt nun den leicht donquichottesken Versuch, diese Charakterzüge mit De La Tours Malerei zu versöhnen. Bei einem Meister derber und zotiger Genreszenen, einem Kraftkerl des Kolorits und der breiten Pinselführung, könnte das vielleicht gelingen, aber De La Tour war nichts von alledem. Sein Biograph spricht, etwas betreten, vom "allgemeinen Interesse der Bevölkerung", dem die Steuerbefreiung der lothringischen Oberschicht gedient habe, und lobt die Rüstigkeit des brutalen Greises, aber es bleibt das Horrendum eines engherzigen Cholerikers, der einige der stillsten und leuchtendsten Bilder gemalt hat, welche die abendländische Kunstgeschichte kennt. Es ist zwecklos, Leben und Werk dieses Mannes zur Deckung bringen zu wollen, da er es schon selbst nicht vermocht hat; und vielleicht hat das erfolgreiche Bemühen seiner Erben, die Erinnerung an den Maler auszulöschen, auch etwas mit dieser biographischen Dissonanz zu tun. De La Tours Bilder paßten nicht in den Rahmen des französischen Klassizismus, aber sie passen auch nicht zu dem, der sie schuf. Sie legen keine biographische Spur, sondern drücken einen rückhaltlosen Kunstwillen aus; sie sind reine Intention. Darin liegt ihr Mysterium, ihr Zauber, den keine Deutung zu erschöpfen vermag.
Der Werkkatalog, der den Band beschließt, verzeichnet einschließlich der nur in Kopien bekannten oder als verlorener Bestandteil einer Bildreihe rekonstruierbaren Titel achtzig Gemälde. Die meisten der Motive, die sie zeigen, kommen zwei-, drei-, viermal oder noch öfter vor, denn De La Tour hat grundsätzlich in Serien gedacht. Er war der erste seriell arbeitende große Maler der Neuzeit, und darin besteht, mehr als in einzelnen Stilmerkmalen und inhaltlichen Feinheiten, seine bestürzende Modernität. De La Tour malt den blinden Drehorgelspieler im Stehen, frontal mit halbgeöffnetem Mund und seitlich geneigtem Kahlkopf, einen angeleinten Hund zu seinen Füßen; dann zeigt er ihn noch einmal im Profil, sitzend, mit gekreuzten Beinen, am vorderen Bildrand die abgewetzte Lederhülle seines Instruments; und schließlich ein drittes Mal, jetzt in Dreiviertelansicht, laut singend, das Gesicht zu einer unvergeßlichen Grimasse des Elends verzogen. Wenn man die drei Gemälde hintereinander betrachtet, dann ist es, als sähe man einen jener frühen Filme, in denen aus Einzelbildern die Illusion einer Bewegung entsteht, ein kinematographisches Bruchstück des frühen siebzehnten Jahrhunderts.
Oder die büßende Magdalena, von der, in mindestens fünf Varianten, ebenso viele Originale und etliche Kopien erhalten sind: Sie zeigen, mit einer Ausnahme, immer die gleiche Frau, vielleicht eine von De La Tours älteren Töchtern, in verschiedenen Stadien der Askese, mit entblößter oder bedeckter Brust, im Seiden- oder Leinenrock, mit oder ohne Spiegel, mit offen brennender oder verdeckter Kerze, mit wechselnden Requisiten, Reflexionen, Schattenspielen. Keines dieser Bilder ist eine Vorstudie, jedes hält eine vollendete Version der künstlerischen Idee fest. Und gemeinsam machen sie, einander kommentierend, dieser Idee den Prozeß. In der Gegenüberstellung verschwimmen die ohnehin spärlichen Versatzstücke, es bleibt der Frauenkörper, aber auch er ist durch die Beleuchtung entindividualisiert. Das Gesicht ist abgewandt, die Glieder schimmern wie Wachs, so daß das Motiv sich ganz zur Geste zusammenzieht, zur Ikone der Abkehr, als verzehrte es sich selbst wie die Kerze auf dem Tisch.
De La Tours Genrebilder transzendieren das Genre, indem sie es wörtlich nehmen. Sie betrügen, indem sie, wie die berühmte "Wahrsagerin", vom Betrug erzählen, mit Gesten und Blicken den Betrachter; oder sie machen sich, wie die beiden Versionen des "Falschspielers", selbst zur gezinkten Karte auf dem Spieltisch der Malerei. Auf dem ersten Gemälde hält der Spieler ein Kreuz-, auf dem zweiten ein Karo-As im Gürtel verborgen, aber vom einen zum anderen hat sich bei identischem Bildaufbau die Farbpalette seltsam verschoben, von giftigen Weiß- und Violettönen zu gedämpftem Rot, Braun und Blau, als wollte der Maler die koloristischen Möglichkeiten des Caravaggismus ausloten. Motivwiederholungen gibt es im Barock auch bei anderen, zumal bei kleineren Malern, aber keiner hat sie so programmatisch betrieben wie De La Tour. Bei ihm wird die Variation zur Wahrheit über das Thema, denn am Ende ist alles bloß Kostümierung und Pose, was zählt, ist allein das Licht des Augenblicks: das Kind mit den goldenen Haaren, das in "Der heilige Josef als Zimmermann" dem arbeitenden Greis die Kerze hält (möglicherweise De La Tours jüngste Tochter Marie, die mit zwölf Jahren an den Pocken starb); oder die ältere Frau, die in "Das Neugeborene" den Säugling im Arm der Mutter betrachtet, versunken in die Selbstversunkenheit des beginnenden Lebens.
Zuletzt hat De La Tour nur noch Nachtstücke gemalt, vielleicht, weil sich nur so, im Flackern der windbewegten Fackeln und Kerzen, der Moment ganz rein darstellen ließ, als Abdruck einer Wirklichkeit, die durch den Stoff des Bildes hindurch zu atmen scheint. Vom "unerbittlichen Realismus" De La Tours schreibt Thuillier einmal, aber das gilt eher für Caravaggio, der seinen nächtlichen Amor in den Straßendreck Roms legte. Bei De La Tour hat selbst der Schmutz unter den Nägeln der Bauern etwas Versöhnliches, weil er den Trost aller Fotografien ausspricht: "So ist es gewesen" - und so wird es, über den Tod hinaus, im Abbild erhalten bleiben.
"Wenigstens vierhundert bis fünfhundert Bilder", schätzt Thuillier, habe De La Tour in Vic und Lunéville gemalt. Das gehört zu den vielen Behauptungen dieses Buches, die weder zu beweisen noch zu widerlegen sind, ebenso wie die mit Inbrunst vorgetragene These, unser Maler habe ganz bestimmt seine Lehrjahre in Rom verbracht, da er sich nur dort am "caravaggesken Geist" entzünden konnte. Das Bild eines "Serrone-Meisters", das Thuillier als visuelles Bonbon seiner Spekulation beifügt, erinnert ein bißchen an De La Tour, aber auch an andere Maler, so wie die Schlußbemerkung über "diese intime Verbindung zwischen Realität und Idee, die von heutigen Künstlern allzu leichtfertig negiert wird", an Kunstdebatten erinnert, die man erledigt glaubte.
Vielleicht kann man von einem De-LaTour-Spezialisten nicht verlangen, daß er über den bewährten Horizont einer biographisch unterfütterten Bildbetrachtung hinausgeht, daß er etwa Hobbes, Descartes, Pascal, die Zeitgenossen des Malers, zitiert und damit etwas von der tieferen Stimmung der Epoche, in der diese Bilder entstanden, einzufangen versucht; aber schön wäre es doch gewesen. So bleibt ein großformatiger Band, der alles, was es von Georges de La Tour zu sehen und über ihn mitzuteilen gibt, mit der gebotenen Vorsicht ausbreitet, ein nützliches, kein hinreißendes Buch. Aber so, wie De La Tour gemalt hat, muß man auch nicht schreiben können. Das konnte nur der Autor der "Pensées".
Jacques Thuillier: "Georges de La Tour". Aus dem Französischen von Bettina Blumenberg. Editions Flammarion, Paris und München 2003. 280 S., 130 Farb- und 240 S/W-Abb., geb., 75,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Er war kein angenehmer Mensch, nach allem, was man weiß. Im Gegenteil: Arrogant und aufbrausend, ein rechter Kotzbrocken. Die Bilder aber, die er malte, sind von beinahe unerhörter Subtilität, wenngleich sie erst im 20. Jahrhundert wieder entdeckt wurden, nach 250 Jahren immer tieferen Vergessens. Vielleicht sollte man das nicht zusammenbringen wollen, das Leben und das Werk, meint Andreas Kilb und kritisiert damit den Autor, der genau das versucht. Diese Bilder seien geprägt von "rückhaltlosem Kunstwillen", zeigten vor allem die "reine Intention" - und die "bestürzende Modernität" La Tours zeige sich in der aufs Kino vorausweisenden Serialität. Davon erfahre man freilich in dem Buch so wenig wie von der "tieferen Stimmung" der Zeit, in der die Bilder entstanden sind. Alles in allem daher zwar ein "nützlicher", aber "kein hinreißender" Band.
© Perlentaucher Medien GmbH
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