Ein ödipales Vergnügen - Faktors erotischer Entwicklungsroman über Widerstände, Schmutz und Schönheit
Georg wächst in der schönsten Wohngegend Prags in einem summenden Frauenhaushalt auf. Leider zur Zeit des politischen Terrors, der überirdischen Atomversuche und später des Reformversuchs von '68. Zwischen Tanten mit Kriegstraumata, dem tyrannischen Onkel ONKEL und der überstrahlend-schönen Mutter bleibt ihm nur die Flucht nach vorn.Das sozialistische Prag hat in den Jahren von Georgs Jugend seinen Glanz verloren. In einer Stadt voller gewalttätiger Müllmänner, 50-ccm-Motorradcowboys, sexbesessener Fremdgänger und vieler anderer unsozialistischer Elemente nutzt Georg alle sich bietenden Freiräume, um auszubrechen: Er experimentiert mit hochexplosiven Substanzen, verbringt die Nachmittage mit wilden Jugendcliquen und findet im Kreis der Familie schließlich auch eine Geliebte. In einer Gesellschaft, die von den Rändern her vergammelt und sich von innen auflöst, bekommt das Körperliche eine befreiend-subversive Bedeutung. Georg mobilisiert alle Kräfte, um neben der Mutter auch dem stickig-klebrigen Vaterhaushalt zu entkommen, in dem er seine verhassten Wochenenden verbringen muss. Als er nach der Okkupation des Landes den kulturellen Niedergang miterlebt und sich der Prager Dissidentenszene nähert, wird ein geschasster Intellektueller, der sich trotz seiner Blindheit wie ein Sehender in der Stadt bewegt, zu seinem Wunschvater.Georg macht sich seit seiner frühen Kindheit Sorgen um seine Vergangenheit, seiner hellen glücklichen Zukunft ist er sich aber völlig sicher. Die Frage, ob er wirklich glücklich werden wird, beantwortet sich bei einer zufälligen, aber nicht wirklich vermeidbaren Begegnung auf der Straße.Indem Jan Faktor Georg selbst erzählen lässt, macht er das Erzählen zu einem zweiten subversiven Akt - und führt damit den Entwicklungs- und den Gesellschaftsroman zusammen. So entstehen ein vor Witz strotzendes Psychogramm einer Familie und ein hellsichtiges Porträt einer Stadt.
Georg wächst in der schönsten Wohngegend Prags in einem summenden Frauenhaushalt auf. Leider zur Zeit des politischen Terrors, der überirdischen Atomversuche und später des Reformversuchs von '68. Zwischen Tanten mit Kriegstraumata, dem tyrannischen Onkel ONKEL und der überstrahlend-schönen Mutter bleibt ihm nur die Flucht nach vorn.Das sozialistische Prag hat in den Jahren von Georgs Jugend seinen Glanz verloren. In einer Stadt voller gewalttätiger Müllmänner, 50-ccm-Motorradcowboys, sexbesessener Fremdgänger und vieler anderer unsozialistischer Elemente nutzt Georg alle sich bietenden Freiräume, um auszubrechen: Er experimentiert mit hochexplosiven Substanzen, verbringt die Nachmittage mit wilden Jugendcliquen und findet im Kreis der Familie schließlich auch eine Geliebte. In einer Gesellschaft, die von den Rändern her vergammelt und sich von innen auflöst, bekommt das Körperliche eine befreiend-subversive Bedeutung. Georg mobilisiert alle Kräfte, um neben der Mutter auch dem stickig-klebrigen Vaterhaushalt zu entkommen, in dem er seine verhassten Wochenenden verbringen muss. Als er nach der Okkupation des Landes den kulturellen Niedergang miterlebt und sich der Prager Dissidentenszene nähert, wird ein geschasster Intellektueller, der sich trotz seiner Blindheit wie ein Sehender in der Stadt bewegt, zu seinem Wunschvater.Georg macht sich seit seiner frühen Kindheit Sorgen um seine Vergangenheit, seiner hellen glücklichen Zukunft ist er sich aber völlig sicher. Die Frage, ob er wirklich glücklich werden wird, beantwortet sich bei einer zufälligen, aber nicht wirklich vermeidbaren Begegnung auf der Straße.Indem Jan Faktor Georg selbst erzählen lässt, macht er das Erzählen zu einem zweiten subversiven Akt - und führt damit den Entwicklungs- und den Gesellschaftsroman zusammen. So entstehen ein vor Witz strotzendes Psychogramm einer Familie und ein hellsichtiges Porträt einer Stadt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2010Als ich lernte, die Bomben zu lieben
Totalitärer Alltag als gelebte Literatur: Mit "Georgs Sorgen um die Vergangenheit" hat Jan Faktor einen weisen und witzigen Roman über seine Prager Jugend und das erotische Erwachen in einem jüdischen Frauenhaushalt geschrieben.
Von Felicitas von Lovenberg
Wahrscheinlich sollte jeder Mann, bevor er unwiderruflich reif für Jüngere wird, sich einmal in eine ältere Frau verlieben - wobei dieses Wesen tunlichst nicht seine Mutter sein sollte. Von einer Mannwerdung inmitten geballter Weiblichkeit und gegen alle mütterliche Wahrscheinlichkeit erzählt Jan Faktor in dem übermütigsten Roman dieses Frühjahrs: "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag". Der barock und zugleich etwas infantil klingende Titel ist die einzige Hürde, die Autor und Verlag vor das üppige Lesevergnügen gesetzt haben.
"Wenn ich in Gedanken durch die vielen Räume unserer Prager Wohnung streife, überkommt mich das Gefühl, dass es dort vor Lustemissionen pausenlos geflimmert haben muss. Egal, wohin ich ging, traf ich eine Frau, die mich anlächelte und von mir begeistert war." Eine Jugend, die derart eingebettet in weibliche Reize ihren Lauf nimmt, darf natürlich möglichst nie zu Ende gehen. Hauptschauplatz des Romans und damit von Georgs in den Sechzigern begonnener und ein halbes Jahrhundert später mit diesem Roman womöglich abgeschlossener Éducation sentimentale ist eine Etagenwohnung im Zentrum von Prag. Diese Wohnung, die einem weitverzweigten, durch Schränke und andere klobige Möbelstücke zugestellten Tunnelsystem ähnelt, ist zugleich eine der heimlichen Heldinnen des Romans. In dieser Schrankburg mit ihren vielfältigen, je nach Koalitionslage der Bewohnerinnen eingerichteten Kochnischen, Schlaf- und Waschgelegenheiten wächst Georg auf. So zusammengewürfelt wie das Mobiliar, das aus ererbten oder gestrandeten, nicht zusammenpassenden, letztlich aber geliebten Stücken besteht ("Manche davon waren mir zeitweise näher als meine Mutter"), ist auch die Wohngemeinschaft.
Zum "herrschenden Teil des Clans" gehören Georgs Mutter Anna, Urtante Bombe und "Hauptgroßmutter" Lizzy, mit der Georg noch in der Pubertät das Zimmer teilt; drum herum gruppieren sich drei bis sechs weitere Tanten beziehungsweise Großmütter. Georg gibt den trocken-lakonischen Chronisten der schicksalsgebeutelten Wahlverwandtschafts-WG: "Dummerweise fehlte in der Wohnung auch so etwas wie mein Vater." Dieser lebt einige Straßen weiter mit einer anderen Frau. Ein erwachsenes männliches Wesen gibt es aber in diesem Frauenkosmos doch: Onkel "Onkel", erst zum Kommunismus, dann zum Staatssicherheitsbeamten konvertierter Pfarrer, Bastler und Ingenieur von höheren Graden, wenn schon nicht Weihen, und Mann von Tante Eva.
Eine Ausnahme ist Onkel "Onkel" nicht nur wegen seines Geschlechts, sondern auch, weil er Tscheche und "Nichtjude par excellence" ist. Denn der Frauenüberschuss erklärt sich aus der Geschichte, wie Georg uns gleich zu Beginn gänzlich unsentimental wissen lässt: "Aus den KZs kamen nach dem Krieg nicht die Herren, sondern eher die Damen zurück." Doch gleich, ob sie in Lagern wie Theresienstadt, Auschwitz und Groß-Rosen gewesen waren oder den Krieg untergetaucht in Budapest, in der Puszta oder in England überlebt haben - gesprochen wird über diese Erfahrungen nicht. Gekrönt von Georgs strahlend schöner Mutter, bildet die WG mit ihrem großbürgerlichen geistigen Milieu bei gleichzeitig hoher Neurosendichte einen "Schutzklumpen", der sich mit der Dauer des Provisoriums gegen die Zeitläufte behauptet. Drum herum liegt wie ein weiterer Puffer der tschechoslowakische Sozialismus von sowjetischen Gnaden; da kann man nicht einfach ausziehen, studieren und ein neues Leben beginnen. Georgs Problem liegt in der Frage, wie und ob er bei dieser historischen wie persönlichen Ausgangslage je erwachsen werden soll.
Mit seinem Ich-Erzähler Georg ist Jan Faktor, 1951 in Prag geboren, mindestens dem Namen nach zu einem früheren Alter Ego zurückgekehrt, mit dem er sich schon in den achtziger Jahren in der Kunst der Selbstbesudelung übte. "Georgs Sorgen um die Zukunft" hieß 1982 ein erster, sprachspielerisch-kritischer Text; "Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens" ergaben dann 1989 einen Band mit experimentellen Texten und Gedichten Faktors. Von der Untergrund-Literaturszene Prenzlauer Berg, in der er sich zu DDR-Zeiten als "Schalksnarr" einen Namen gemacht hatte, sagte er sich ebenso los wie von der Leserfeindlichkeit der dort gepflegten Literatur. 2006 veröffentlichte Faktor dann mit "Schornstein" seinen ersten Roman, eine zum "Kassenkampf" aufrufende Satire aus dem kranken Gesundheitswesen. Manche Ursache und gewisse Symptome des seltenen Leidens seines vornamenlosen Helden Schornstein, der mit dem Georg seines neuen Romans nicht nur den Familiennamen gemein hat, lassen sich nun bis in die Prager Kindheit zurückverfolgen.
Die Gabe, autobiographisch angereicherte Realität mit komödiantischer Übertreibungslust und unter wirkungsvoller Herabsetzung seiner selbst in eine Groteske zu verwandeln, zeigte sich schon in "Schornstein", und auch jetzt ist Jan Faktors Literatur Psychoanalyse mit anderen Mitteln. Seine abenteuerlichen Erfahrungen als Lastenträger in den slowakischen Bergen hat er hier noch einfließen lassen, doch vor seiner 1978 erfolgten Übersiedlung nach Ost-Berlin enden "Georgs Sorgen um die Vergangenheit".
Dieses Buch einen Entwicklungs- oder Bildungsroman zu nennen wäre so wahr wie langweilig. Der Roman, der von seinem ersten, portnoyhaft entschiedenen Satz an ("Die ersten Sorgen um meinen Penis machte ich mir schon vor etwa fünfzig Jahren im Kindergarten - damals nur aus rein hygienischen Gründen") einen Ton höherer Fabulierkunst und grundloser Heiterkeit anschlägt, liest sich vielmehr wie ein Cocktail aus Philip Roth, Milan Kundera und Torbergs "Tante Jolesch", garniert mit nicht nur einer Kirsche Bohumil Hrabal. Es geht um die Möglichkeit, Alltag in Literatur zu verwandeln, eine, wie wir lernen, von Hrabal eingeführte tschechische Spezialität, die Faktor hier gekonnt und betont lässig mit dem jüdischen Thema der Identitätssuche verknüpft.
Heraus kommt ein Epos von alteuropäischen Ausmaßen, dessen sprudelnde Anekdotenfülle eine fröhliche Enthemmtheit begleitet. Der "vorbildhaft verdorbene" Henry Miller wird zwar des Öfteren beschworen, schrieb aber niemals auch nur annähernd so witzig über "Nippel-, Hügel- und Spaltenphilie", wie es Jan Faktor hier tut. Denn wie schon in "Schornstein" verfolgt der Autor erneut eine lustvolle Poetik der Indezenz, die sich aus dem geradezu wissenschaftlichen Interesse am Ekligen ebenso speist wie aus dem Bedürfnis, stimmige Ausdrucksformen für die "inneren Qualspiele" der Seele zu finden. Georg, dieser schambetonte und gewiefte Chronist seiner "privaten Gefühlsachterbahn", die zumal angesichts der familiären "Affinität zum Unglück" das hehre Ziel verfolgt, "an der Seite einer reizenden Frau nur noch glücklich zu werden", kokettiert mit seiner Unzuverlässigkeit, lässt hier ein schwungvolles "Man wird mir das glauben müssen", dort ein "Das ist einigermaßen ernst gemeint" fallen.
Ganz wie das Leben folgen auch "Georgs Sorgen um die Vergangenheit" keiner als solche erkennbaren Handlung; es ist vielmehr die anhaltende Energie eines durchtrainierten Beobachters, der den Leser, der um Seite vierhundert herum möglicherweise findet, er habe nun genug geleistet, noch über weitere 236 Seiten auf Trab hält. Am Ende, etwas außer Atem, vermisst man höchstens eines: nämlich die Schilderung, wie und wann genau der verzweifelte Glückssucher Georg, der sein Leben als "permanente Geschichte des Verliebtseins" begreift, sich in die deutsche Sprache verguckt hat. Zwar sprechen Großmutter und Mutter - neben sechs weiteren Sprachen - auch Deutsch, doch bleibt diese spezielle Bindung Georgs, der Schriftsteller werden will, rätselhaft. Dafür gibt es immer wieder kleine Exkurse ins niedlichkeitsvernarrte Tschechische, und einmal, an signifikanter Stelle, auch ins Jiddische.
Was zunächst als Familienaufstellung und dann als sexuelle Reifeprüfung mit Hilfe der gut zwanzig Jahre älteren mütterlichen Freundin und landschaftlichen Extremkünstlerin Dana daherkommt, weitet sich im Laufe des Romans zum politischen Panorama der Tschechoslowakei und insbesondere Prags, wo es bei aller beiläufigen Brutalität, ohne die der Totalitarismus nicht auskommt, bis 1968 fast heimelig zugeht: "Die Jahre bis zum Einmarsch waren voller unschuldiger Naivität und Optimismus, man leckte sich an den neuen Freiheiten satt. Von den kommenden Abstürzen ahnte man noch nichts."
Die potentiell eiserne Wirkung eines Vorhangs ahnt Georg in der heimischen Schrankburg, wo allenthalben bunte, geblümte Stofflappen die Türen ersetzen, nur dank der "Spiegel"-Lektüre der Mutter etwas. Aber Intellektualität allein, so begreift Georg, macht den Zerfall nicht erträglicher. Die einzige echte Heldenfigur, die keine an Schweijk erinnernde Züge trägt, ist der blinde Philosoph Klaudius, der sich so hellsichtig durchs Leben wie durch die Stadt bewegt.
Doch natürlich leistet Georg, der immer wieder verkündet, an einer glücklichen Zukunft keine Zweifel zu haben, obwohl fast alles dagegen spricht, auch Trauerarbeit - und das nicht erst, als er in dem Versuch, mit seiner Mutter ins Reine zu kommen, mit dieser in den siebziger Jahren eine Reise auf den Spuren ihrer traumatischen Vergangenheit nach Polen, ins ehemalige Konzentrationslager Groß-Rosen, unternimmt. Es ist die allgegenwärtige Wehmut, von der die weise Komik dieses Coming-of-Age-Romans kündet, eine Empfindsamkeit, die nicht ausgestellt wird, aber durchschimmert und die Groteske vor dem Leerlauf rettet.
Jan Faktor: "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 636 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Totalitärer Alltag als gelebte Literatur: Mit "Georgs Sorgen um die Vergangenheit" hat Jan Faktor einen weisen und witzigen Roman über seine Prager Jugend und das erotische Erwachen in einem jüdischen Frauenhaushalt geschrieben.
Von Felicitas von Lovenberg
Wahrscheinlich sollte jeder Mann, bevor er unwiderruflich reif für Jüngere wird, sich einmal in eine ältere Frau verlieben - wobei dieses Wesen tunlichst nicht seine Mutter sein sollte. Von einer Mannwerdung inmitten geballter Weiblichkeit und gegen alle mütterliche Wahrscheinlichkeit erzählt Jan Faktor in dem übermütigsten Roman dieses Frühjahrs: "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag". Der barock und zugleich etwas infantil klingende Titel ist die einzige Hürde, die Autor und Verlag vor das üppige Lesevergnügen gesetzt haben.
"Wenn ich in Gedanken durch die vielen Räume unserer Prager Wohnung streife, überkommt mich das Gefühl, dass es dort vor Lustemissionen pausenlos geflimmert haben muss. Egal, wohin ich ging, traf ich eine Frau, die mich anlächelte und von mir begeistert war." Eine Jugend, die derart eingebettet in weibliche Reize ihren Lauf nimmt, darf natürlich möglichst nie zu Ende gehen. Hauptschauplatz des Romans und damit von Georgs in den Sechzigern begonnener und ein halbes Jahrhundert später mit diesem Roman womöglich abgeschlossener Éducation sentimentale ist eine Etagenwohnung im Zentrum von Prag. Diese Wohnung, die einem weitverzweigten, durch Schränke und andere klobige Möbelstücke zugestellten Tunnelsystem ähnelt, ist zugleich eine der heimlichen Heldinnen des Romans. In dieser Schrankburg mit ihren vielfältigen, je nach Koalitionslage der Bewohnerinnen eingerichteten Kochnischen, Schlaf- und Waschgelegenheiten wächst Georg auf. So zusammengewürfelt wie das Mobiliar, das aus ererbten oder gestrandeten, nicht zusammenpassenden, letztlich aber geliebten Stücken besteht ("Manche davon waren mir zeitweise näher als meine Mutter"), ist auch die Wohngemeinschaft.
Zum "herrschenden Teil des Clans" gehören Georgs Mutter Anna, Urtante Bombe und "Hauptgroßmutter" Lizzy, mit der Georg noch in der Pubertät das Zimmer teilt; drum herum gruppieren sich drei bis sechs weitere Tanten beziehungsweise Großmütter. Georg gibt den trocken-lakonischen Chronisten der schicksalsgebeutelten Wahlverwandtschafts-WG: "Dummerweise fehlte in der Wohnung auch so etwas wie mein Vater." Dieser lebt einige Straßen weiter mit einer anderen Frau. Ein erwachsenes männliches Wesen gibt es aber in diesem Frauenkosmos doch: Onkel "Onkel", erst zum Kommunismus, dann zum Staatssicherheitsbeamten konvertierter Pfarrer, Bastler und Ingenieur von höheren Graden, wenn schon nicht Weihen, und Mann von Tante Eva.
Eine Ausnahme ist Onkel "Onkel" nicht nur wegen seines Geschlechts, sondern auch, weil er Tscheche und "Nichtjude par excellence" ist. Denn der Frauenüberschuss erklärt sich aus der Geschichte, wie Georg uns gleich zu Beginn gänzlich unsentimental wissen lässt: "Aus den KZs kamen nach dem Krieg nicht die Herren, sondern eher die Damen zurück." Doch gleich, ob sie in Lagern wie Theresienstadt, Auschwitz und Groß-Rosen gewesen waren oder den Krieg untergetaucht in Budapest, in der Puszta oder in England überlebt haben - gesprochen wird über diese Erfahrungen nicht. Gekrönt von Georgs strahlend schöner Mutter, bildet die WG mit ihrem großbürgerlichen geistigen Milieu bei gleichzeitig hoher Neurosendichte einen "Schutzklumpen", der sich mit der Dauer des Provisoriums gegen die Zeitläufte behauptet. Drum herum liegt wie ein weiterer Puffer der tschechoslowakische Sozialismus von sowjetischen Gnaden; da kann man nicht einfach ausziehen, studieren und ein neues Leben beginnen. Georgs Problem liegt in der Frage, wie und ob er bei dieser historischen wie persönlichen Ausgangslage je erwachsen werden soll.
Mit seinem Ich-Erzähler Georg ist Jan Faktor, 1951 in Prag geboren, mindestens dem Namen nach zu einem früheren Alter Ego zurückgekehrt, mit dem er sich schon in den achtziger Jahren in der Kunst der Selbstbesudelung übte. "Georgs Sorgen um die Zukunft" hieß 1982 ein erster, sprachspielerisch-kritischer Text; "Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens" ergaben dann 1989 einen Band mit experimentellen Texten und Gedichten Faktors. Von der Untergrund-Literaturszene Prenzlauer Berg, in der er sich zu DDR-Zeiten als "Schalksnarr" einen Namen gemacht hatte, sagte er sich ebenso los wie von der Leserfeindlichkeit der dort gepflegten Literatur. 2006 veröffentlichte Faktor dann mit "Schornstein" seinen ersten Roman, eine zum "Kassenkampf" aufrufende Satire aus dem kranken Gesundheitswesen. Manche Ursache und gewisse Symptome des seltenen Leidens seines vornamenlosen Helden Schornstein, der mit dem Georg seines neuen Romans nicht nur den Familiennamen gemein hat, lassen sich nun bis in die Prager Kindheit zurückverfolgen.
Die Gabe, autobiographisch angereicherte Realität mit komödiantischer Übertreibungslust und unter wirkungsvoller Herabsetzung seiner selbst in eine Groteske zu verwandeln, zeigte sich schon in "Schornstein", und auch jetzt ist Jan Faktors Literatur Psychoanalyse mit anderen Mitteln. Seine abenteuerlichen Erfahrungen als Lastenträger in den slowakischen Bergen hat er hier noch einfließen lassen, doch vor seiner 1978 erfolgten Übersiedlung nach Ost-Berlin enden "Georgs Sorgen um die Vergangenheit".
Dieses Buch einen Entwicklungs- oder Bildungsroman zu nennen wäre so wahr wie langweilig. Der Roman, der von seinem ersten, portnoyhaft entschiedenen Satz an ("Die ersten Sorgen um meinen Penis machte ich mir schon vor etwa fünfzig Jahren im Kindergarten - damals nur aus rein hygienischen Gründen") einen Ton höherer Fabulierkunst und grundloser Heiterkeit anschlägt, liest sich vielmehr wie ein Cocktail aus Philip Roth, Milan Kundera und Torbergs "Tante Jolesch", garniert mit nicht nur einer Kirsche Bohumil Hrabal. Es geht um die Möglichkeit, Alltag in Literatur zu verwandeln, eine, wie wir lernen, von Hrabal eingeführte tschechische Spezialität, die Faktor hier gekonnt und betont lässig mit dem jüdischen Thema der Identitätssuche verknüpft.
Heraus kommt ein Epos von alteuropäischen Ausmaßen, dessen sprudelnde Anekdotenfülle eine fröhliche Enthemmtheit begleitet. Der "vorbildhaft verdorbene" Henry Miller wird zwar des Öfteren beschworen, schrieb aber niemals auch nur annähernd so witzig über "Nippel-, Hügel- und Spaltenphilie", wie es Jan Faktor hier tut. Denn wie schon in "Schornstein" verfolgt der Autor erneut eine lustvolle Poetik der Indezenz, die sich aus dem geradezu wissenschaftlichen Interesse am Ekligen ebenso speist wie aus dem Bedürfnis, stimmige Ausdrucksformen für die "inneren Qualspiele" der Seele zu finden. Georg, dieser schambetonte und gewiefte Chronist seiner "privaten Gefühlsachterbahn", die zumal angesichts der familiären "Affinität zum Unglück" das hehre Ziel verfolgt, "an der Seite einer reizenden Frau nur noch glücklich zu werden", kokettiert mit seiner Unzuverlässigkeit, lässt hier ein schwungvolles "Man wird mir das glauben müssen", dort ein "Das ist einigermaßen ernst gemeint" fallen.
Ganz wie das Leben folgen auch "Georgs Sorgen um die Vergangenheit" keiner als solche erkennbaren Handlung; es ist vielmehr die anhaltende Energie eines durchtrainierten Beobachters, der den Leser, der um Seite vierhundert herum möglicherweise findet, er habe nun genug geleistet, noch über weitere 236 Seiten auf Trab hält. Am Ende, etwas außer Atem, vermisst man höchstens eines: nämlich die Schilderung, wie und wann genau der verzweifelte Glückssucher Georg, der sein Leben als "permanente Geschichte des Verliebtseins" begreift, sich in die deutsche Sprache verguckt hat. Zwar sprechen Großmutter und Mutter - neben sechs weiteren Sprachen - auch Deutsch, doch bleibt diese spezielle Bindung Georgs, der Schriftsteller werden will, rätselhaft. Dafür gibt es immer wieder kleine Exkurse ins niedlichkeitsvernarrte Tschechische, und einmal, an signifikanter Stelle, auch ins Jiddische.
Was zunächst als Familienaufstellung und dann als sexuelle Reifeprüfung mit Hilfe der gut zwanzig Jahre älteren mütterlichen Freundin und landschaftlichen Extremkünstlerin Dana daherkommt, weitet sich im Laufe des Romans zum politischen Panorama der Tschechoslowakei und insbesondere Prags, wo es bei aller beiläufigen Brutalität, ohne die der Totalitarismus nicht auskommt, bis 1968 fast heimelig zugeht: "Die Jahre bis zum Einmarsch waren voller unschuldiger Naivität und Optimismus, man leckte sich an den neuen Freiheiten satt. Von den kommenden Abstürzen ahnte man noch nichts."
Die potentiell eiserne Wirkung eines Vorhangs ahnt Georg in der heimischen Schrankburg, wo allenthalben bunte, geblümte Stofflappen die Türen ersetzen, nur dank der "Spiegel"-Lektüre der Mutter etwas. Aber Intellektualität allein, so begreift Georg, macht den Zerfall nicht erträglicher. Die einzige echte Heldenfigur, die keine an Schweijk erinnernde Züge trägt, ist der blinde Philosoph Klaudius, der sich so hellsichtig durchs Leben wie durch die Stadt bewegt.
Doch natürlich leistet Georg, der immer wieder verkündet, an einer glücklichen Zukunft keine Zweifel zu haben, obwohl fast alles dagegen spricht, auch Trauerarbeit - und das nicht erst, als er in dem Versuch, mit seiner Mutter ins Reine zu kommen, mit dieser in den siebziger Jahren eine Reise auf den Spuren ihrer traumatischen Vergangenheit nach Polen, ins ehemalige Konzentrationslager Groß-Rosen, unternimmt. Es ist die allgegenwärtige Wehmut, von der die weise Komik dieses Coming-of-Age-Romans kündet, eine Empfindsamkeit, die nicht ausgestellt wird, aber durchschimmert und die Groteske vor dem Leerlauf rettet.
Jan Faktor: "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 636 S., geb., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Insa Wilke stellt eine gesteigerte Fabulierlust männlicher Autoren vom "postsozialistischen Standpunkt" aus fest, wundert sich kurz über die "pikierte" Kritikerablehnung von Charlotte Roches "Feuchtgebiete" bei gleichzeitiger Bejubelung des vorliegenden Romans als "subversiven Coup gegen die eigene Geschmackspolitik" und wendet sich schließlich Jan Faktors Buch selbst zu. Trotz seiner keineswegs politisch korrekt denkenden Hauptfigur, einer "Lustigkeit", die nach kürzester Zeit Aggressionen schürt und dem hemmungslosen Herumwühlen in unappetitlichen Details gelingt es dem autobiografisch grundierten Roman, die Rezensentin zu begeistern, wie sie eingesteht. Denn mit seinem an Henry Miller und Grimmelshausen erinnerndem satirischen Roman fasst Faktor das beredte Schweigen über die Vergangenheit vor 1945, den "gesellschaftlichen Sumpf" und den tristen sozialistischen Alltag in Sprache und spiegelt damit auch ein Stück Gegenwart, wie Wilke lobt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Kein Zweifel: [...] diese hochnotkomische Phänomenologie des sozialen Wohnens im Sozialismus, das eindringliche Porträt des Prags seiner Jugendjahre [...] ist Jan Faktors Opus magnum.« Felicitas von Lovenberg FAZ 20111031