Politische Gerechtigkeit muß fair sein. Dies war die Kernaussage von John Rawls Versuch einer Erneuerung der Theorie vom Gesellschaftsvertrag aus dem Jahre 1971. Binnen weniger Monate avancierte sein Werk zu den meistdiskutierten moral- und staatsphilosophischen Programmen der neueren Zeit. Rawls? Gerechtigkeitspostulate und der Aspekt ihrer Durchführbarkeit in bezug auf Institutionen wie auch die Ansprüche an den einzelnen sind als Entwurf einer Gesellschaft, in der das Rechte zugleich als das Gute anerkannt wird, noch immer in der Diskussion.
32 Jahre nach der Veröffentlichung seines fulminanten vertragsrechtlichen Gedankenexperiments, Eine Theorie der Gerechtigkeit, erscheint nun der Neuentwurf, in dem Rawls auf Einwände und Fragen seiner Kritiker reagiert. Er wendet sich darin vor allem dem Begriff der »Justice as Fairness« zu und präsentiert ihn anstelle einer weit ausgreifenden moralischen Doktrin »als eine politische Konzeption der Gerechtigkeit«. Diese Umorientierung macht die Vorführung der Ausgangsideen in veränderter Bedeutung und Signifikanz ebenso nötig wie die Integration vollkommen neuer Aspekte. Rawls Ziel: die realistischere Vorgabe eines gut geordneten Gemeinwesens.
32 Jahre nach der Veröffentlichung seines fulminanten vertragsrechtlichen Gedankenexperiments, Eine Theorie der Gerechtigkeit, erscheint nun der Neuentwurf, in dem Rawls auf Einwände und Fragen seiner Kritiker reagiert. Er wendet sich darin vor allem dem Begriff der »Justice as Fairness« zu und präsentiert ihn anstelle einer weit ausgreifenden moralischen Doktrin »als eine politische Konzeption der Gerechtigkeit«. Diese Umorientierung macht die Vorführung der Ausgangsideen in veränderter Bedeutung und Signifikanz ebenso nötig wie die Integration vollkommen neuer Aspekte. Rawls Ziel: die realistischere Vorgabe eines gut geordneten Gemeinwesens.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ob man nun für "Umbau, Abbau oder Ausbau" sei, ausnahmslos alle Beteiligten am Diskurs um Sozialreformen argumentieren für die unterschiedlichsten Positionen mit dem "Verweis auf Gebote der Gerechtigkeit". So scheint es für Rainer Forst an der Zeit zu sein, den Philosophen John Rawls zu lesen, um endlich zu erfahren, was "politische und soziale Gerechtigkeit" denn eigentlich heißt. Bei dem vorliegenden Band handele es sich um eine Neufassung Rawls' "Theorie der Gerechtigkeit" von 1971, die er zeit seines Lebens weiterentwickelte. Rawls' zentrale Idee sei, "dass die Gesellschaft ein faires System der Kooperation sein solle, das von allgemein geteilten Prinzipien geregelt wird." Diese Prinzipien bedeuten aber nicht bloße "Umverteilung", sondern sollen Strukturen "reiner Hintergrund-Verfahrensgerechtigkeit" herstellen können. Wesentliche Unterschiede zwischen der philosophischen Theorie und politischer Realität sieht Forst darin, dass Rawls verlangt, "wenn Güter ungleich verteilt werden, dann darf dies nur so geschehen, dass es den am schlechtesten Gestellten den größtmöglichsten Vorteil bringt." Gleichzeitig fühle sich Rawls aber auch nicht dazu berufen ein "praktisches Rezept für die Reform des Sozialstaats" zu liefern, aber nach der Lektüre sei einem auf jeden Fall "klarer", wann eine "Art der Politik das Prädikat 'gerecht'" verdiene, resümiert Forst.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2003Was ich noch zu sagen hätte
John Rawls' Gerechtigkeitstheorie in letzter Fassung
Der Ruhm der Gerechtigkeitstheorie des kürzlich verstorbenen John Rawls ist erstaunlich, besteht diese doch aus einem einzigen Grundgedanken. Nichts anderem dient die immer noch einflußreichste politische Ethik als der Ausarbeitung einer "Gerechtigkeit als Fairneß", später um die methodische Klarstellung ergänzt: "politisch, nicht metaphysisch".
Dreißig Jahre nach der bahnbrechenden "Theorie der Gerechtigkeit" (1971, deutsch 1975) und knapp zehn Jahre nach der korrigierenden Ergänzung "Politischer Liberalismus" (1993, deutsch 1998) liegt nun eine aus Vorlesungen hervorgegangene Neufassung ("Restatement") vor. Im Deutschen als "Neuentwurf" übersetzt, läßt sie freilich größere Veränderungen erwarten, als Rawls sie tatsächlich vornimmt. Der von Erin Kelly herausgegebene Text soll lediglich gravierende Mängel der Theorie beheben und die Theorie zugleich mit den seither veröffentlichten Abhandlungen zu einer einheitlichen Darstellung verbinden, also so wichtige Neuerungen des Politischen Liberalismus wie die Gedanken der öffentlichen Rechtfertigung und des übergreifenden Konsenses aufnehmen.
Rawls' Grundgedanke und zugleich Titel seiner letzten Buchveröffentlichung "Gerechtigkeit als Fairneß" (zuerst Harvard, 2001) klingt schön, ist aber wenig aussagekräftig. Der erklärende Ausdruck "Fairneß" ist nämlich noch unklarer als die zu erklärende "Gerechtigkeit". Denn für sie fallen einem sogleich zwei unstrittige Momente ein: die Gleichheit, als negativer Kern das Willkürverbot und zusätzlich die Wechselseitigkeit. Bei der Fairneß dagegen sieht man sich zwar an den Sport verwiesen, ohne auf Anhieb sagen zu können, was der Ausdruck dort genau bedeutet. Daß man sich bei einem Spiel an die Regeln zu halten hat, ist ebenso wenig gemeint wie die Strategien, mit denen man zu siegen hofft.
Bei Rawls' Fairneß wird nicht innerhalb von Regeln, sondern um Regeln gespielt, genauer um höherstufige Regeln, die Prinzipien, die die Grundverfaßtheit der Gesellschaft ausmachen. Mit der Maßgabe, dieses Spiel unter "fairen" Bedingungen zu spielen, dreht sich jedoch die Argumentation im Kreis: Um sich auf Gerechtigkeitsprinzipien einigen zu können, muß das Spiel schon selber gerecht strukturiert sein. Das Gerechtigkeitsergebnis des Spiels spiegelt also die Gerechtigkeit der Spielbedingungen, gewissermaßen eine Vorab- oder Proto-Gerechtigkeit, wider. Rawls gibt sich zudem erstaunlich bescheiden. Die gesuchten Prinzipien sollen nicht für jedwede Gesellschaft gelten, sondern lediglich für eine liberale Demokratie, unter der ein faires System der Kooperation von Bürgern verstanden wird, die sich gegenseitig als freie und gleiche Personen anerkennen. In dieser Wechselseitigkeit, die an Aristoteles' Bestimmung der Polis als "Gemeinschaft von Freien und Gleichen" erinnert, liegt die gemeinte Fairneß.
Der Philosoph gibt sich deshalb konzeptuell bescheiden, weil er von einer Wirklichkeit ausgeht, die in der Tat nicht alle Gesellschaften auszeichnet. Nur in liberalen Demokratien, namentlich dem "Modell" Vereinigte Staaten, herrscht ein Pluralismus von durchaus vernünftigen, aber einander widerstreitenden "Weltanschauungen", deren Streit sich vor dem "Richterstuhl der Vernunft" nicht schlichten lasse. Nur in Klammern: Hier wäre ein Blick auf die antike Polis spannend. Denn wenn man an die Gerechtigkeitsansichten denkt, die Platon in der Politeia gegeneinander auftreten läßt, darf man sich die damalige Gesellschaft nicht als "weltanschaulich" schlicht homogen vorstellen.
Rawls spricht von "umfassenden Lehren" (comprehensive doctrines), was nicht ganz glücklich als "Globallehren" übersetzt wird. Merkwürdigerweise versteht Rawls darunter nicht nur Religionen oder Ideologien, sondern auch die Philosophie, obwohl es deren argumentativem Anspruch widerspricht, insbesondere der Bereitschaft, sich dem Richterstuhl der Vernunft zu unterwerfen. In der Klarstellung "nicht metaphysisch" klingt nun der Verzicht auf umfassende Lehren an. Und die positive Ergänzung "politisch" verweist auf eine demokratiefunktionale Theorie. Denn nach Rawls hat die Politische Philosophie vier Aufgaben zu erfüllen, die allesamt im Dienst einer liberalen Demokratie stehen: Sie soll konkurrierende Ansprüche wie Freiheit und Gleichheit gegeneinander abwägen, über Ziele und Zwecke einer historisch gewachsenen Gesellschaft orientieren, mit der prima facie enttäuschenden Wirklichkeit versöhnen, nicht zuletzt eine realistische Utopie entwerfen. Überraschenderweise fehlt eine fünfte Aufgabe, obwohl sie dem Selbstverständnis liberaler Demokratien und darüber hinaus ihrer Herkunft aus der Aufklärungsepoche entspricht: Für ihre Kernelemente beanspruchen liberale Demokratien eine kulturübergreifende Gültigkeit; namentlich in den Menschenrechten und der Volkssouveränität meinen sie, dem Anspruch auch gerecht zu werden.
Überzeugender dürfte daher ein Gegenentwurf sein, der universalistische Kernelemente mit einem Recht auf Besonderheit verbindet. Ohnehin bleibt Rawls' konzeptuelle Bescheidenheit insofern verbal, als sie weder zu den Menschenrechten und der Volkssouveränität noch zu der sie begründenden Fairneß-Konzeption eine Alternative für erwägenswert hält. Statt dessen wiederholt sich die trockene Versicherung: Wir brauchen keine moralische Globaltheorie, sondern die politische Konzeption der Personen als freier und gleicher Wesen, mit der Fähigkeit zur vollen Kooperation in der Gesellschaft.
Die kriteriologische Kraft dieser Konzeption darf man allerdings nicht unterschätzen. Auf die viel erörterte Frage beispielsweise, was denn unter jene Grundgüter fällt, für die ein Gemeinwesen Verantwortung trage, antwortet Rawls mit all dem, was freie und gleiche Personen als Bürger brauchen und sie überdies befähigt, sich für zulässige Vorstellungen eines lebenswerten Lebens einzusetzen. Dieses Kriterium wendet sich gegen eine primär materiell-ökonomische Bestimmung, läßt die Grundgüter statt dessen mit den institutionellen Rechten und Freiheiten der Bürger beginnen und faire Chancen folgen. Erst am Ende kommen Einkommen und Vermögen, aber auch dann nicht sie selbst, sondern die vernünftigen Aussichten auf sie. Zugleich wird der Einwand des Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften, Amartya Sen, entkräftet, Rawls' Gerechtigkeitsprinzipien samt Grundgüterkatalog seien notgedrungen zu unflexibel.
Eine andere klärende Veränderung, die Neuformulierung des ersten Gerechtigkeitsprinzips, wurde durch Einwände des vor zehn Jahren gestorbenen britischen Rechtsphilosophen Herbert Lionel Adolphus Hart erforderlich. Gegen das Mißverständnis, der Freiheit als solcher werde ein Vorrang eingeräumt, "deduziert" Rawls die gleichen Grundfreiheiten nicht, sondern bestimmt sie ausdrücklich nur mit Hilfe einer Liste. Sie soll die aus der Geschichte der Demokratie bekannten verfassungsmäßigen Garantien enthalten, also etwa Gedanken- und Gewissensfreiheit, politische Freiheiten, das Versammlungsrecht und die Unverletzlichkeit der Person. Die Liste wird aber nicht ideen- und verfassungsgeschichtlich, sondern "analytisch" gewonnen, abermals nach Maßgabe der Frage einer Vorab- oder Proto-Gerechtigkeit: Was sind die politischen und sozialen Bedingungen für die Entwicklung und den Einsatz jener zwei moralischen Vermögen, die für freie und gleiche Personen als wesentlich gelten, für die Anlage zum Gerechtigkeitssinn und für die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen?
Eine dritte Klarstellung liegt in der Zuständigkeit der Gerechtigkeitsprinzipien für das Innenleben von Organisationen und Verbänden jedweder Art. Während andere politische Philosophen zu dem Thema lieber schweigen, scheut sich Rawls nicht, jenen "fundamentalistischen" Strömungen in Synagogen, Kirchen oder Moscheen entgegenzutreten, die eine tätige Intoleranz praktizieren, Ketzerei als Verbrechen behandeln und ihren Mitgliedern den Austritt verbieten. Ebenfalls gelten die Gerechtigkeitsprinzipien für die Basisinstitution der politischen Gesellschaft, die Familie. Die Gleichheit etwa, die den Frauen zu gewähren sei, verlange bei einer Scheidung, der Ehefrau als Ausgleich für das "Gebären, Erziehen und Versorgen der Kinder" (man muß ergänzen: wenn es sie denn gibt!) die Hälfte des während der Ehe angefallenen Vermögenszuwachses zuzusprechen.
Zieht man Bilanz, so muß man dem englischen Untertitel ohne weiteres recht geben: Die eher kleineren Veränderungen, die man findet, belaufen sich auf nichts mehr als eine "Neuformulierung", geschrieben in Rawls' Stil: Ohne literarische Ambitionen, außer dem Ehrgeiz zu einer klaren, differenzierten, oft scharfsinnigen Argumentation nimmt der Autor in Kauf, gelegentlich pedantisch-skrupulös zu werden.
OTFRIED HÖFFE
John Rawls: "Gerechtigkeit als Fairneß". Ein Neuentwurf. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 316 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
John Rawls' Gerechtigkeitstheorie in letzter Fassung
Der Ruhm der Gerechtigkeitstheorie des kürzlich verstorbenen John Rawls ist erstaunlich, besteht diese doch aus einem einzigen Grundgedanken. Nichts anderem dient die immer noch einflußreichste politische Ethik als der Ausarbeitung einer "Gerechtigkeit als Fairneß", später um die methodische Klarstellung ergänzt: "politisch, nicht metaphysisch".
Dreißig Jahre nach der bahnbrechenden "Theorie der Gerechtigkeit" (1971, deutsch 1975) und knapp zehn Jahre nach der korrigierenden Ergänzung "Politischer Liberalismus" (1993, deutsch 1998) liegt nun eine aus Vorlesungen hervorgegangene Neufassung ("Restatement") vor. Im Deutschen als "Neuentwurf" übersetzt, läßt sie freilich größere Veränderungen erwarten, als Rawls sie tatsächlich vornimmt. Der von Erin Kelly herausgegebene Text soll lediglich gravierende Mängel der Theorie beheben und die Theorie zugleich mit den seither veröffentlichten Abhandlungen zu einer einheitlichen Darstellung verbinden, also so wichtige Neuerungen des Politischen Liberalismus wie die Gedanken der öffentlichen Rechtfertigung und des übergreifenden Konsenses aufnehmen.
Rawls' Grundgedanke und zugleich Titel seiner letzten Buchveröffentlichung "Gerechtigkeit als Fairneß" (zuerst Harvard, 2001) klingt schön, ist aber wenig aussagekräftig. Der erklärende Ausdruck "Fairneß" ist nämlich noch unklarer als die zu erklärende "Gerechtigkeit". Denn für sie fallen einem sogleich zwei unstrittige Momente ein: die Gleichheit, als negativer Kern das Willkürverbot und zusätzlich die Wechselseitigkeit. Bei der Fairneß dagegen sieht man sich zwar an den Sport verwiesen, ohne auf Anhieb sagen zu können, was der Ausdruck dort genau bedeutet. Daß man sich bei einem Spiel an die Regeln zu halten hat, ist ebenso wenig gemeint wie die Strategien, mit denen man zu siegen hofft.
Bei Rawls' Fairneß wird nicht innerhalb von Regeln, sondern um Regeln gespielt, genauer um höherstufige Regeln, die Prinzipien, die die Grundverfaßtheit der Gesellschaft ausmachen. Mit der Maßgabe, dieses Spiel unter "fairen" Bedingungen zu spielen, dreht sich jedoch die Argumentation im Kreis: Um sich auf Gerechtigkeitsprinzipien einigen zu können, muß das Spiel schon selber gerecht strukturiert sein. Das Gerechtigkeitsergebnis des Spiels spiegelt also die Gerechtigkeit der Spielbedingungen, gewissermaßen eine Vorab- oder Proto-Gerechtigkeit, wider. Rawls gibt sich zudem erstaunlich bescheiden. Die gesuchten Prinzipien sollen nicht für jedwede Gesellschaft gelten, sondern lediglich für eine liberale Demokratie, unter der ein faires System der Kooperation von Bürgern verstanden wird, die sich gegenseitig als freie und gleiche Personen anerkennen. In dieser Wechselseitigkeit, die an Aristoteles' Bestimmung der Polis als "Gemeinschaft von Freien und Gleichen" erinnert, liegt die gemeinte Fairneß.
Der Philosoph gibt sich deshalb konzeptuell bescheiden, weil er von einer Wirklichkeit ausgeht, die in der Tat nicht alle Gesellschaften auszeichnet. Nur in liberalen Demokratien, namentlich dem "Modell" Vereinigte Staaten, herrscht ein Pluralismus von durchaus vernünftigen, aber einander widerstreitenden "Weltanschauungen", deren Streit sich vor dem "Richterstuhl der Vernunft" nicht schlichten lasse. Nur in Klammern: Hier wäre ein Blick auf die antike Polis spannend. Denn wenn man an die Gerechtigkeitsansichten denkt, die Platon in der Politeia gegeneinander auftreten läßt, darf man sich die damalige Gesellschaft nicht als "weltanschaulich" schlicht homogen vorstellen.
Rawls spricht von "umfassenden Lehren" (comprehensive doctrines), was nicht ganz glücklich als "Globallehren" übersetzt wird. Merkwürdigerweise versteht Rawls darunter nicht nur Religionen oder Ideologien, sondern auch die Philosophie, obwohl es deren argumentativem Anspruch widerspricht, insbesondere der Bereitschaft, sich dem Richterstuhl der Vernunft zu unterwerfen. In der Klarstellung "nicht metaphysisch" klingt nun der Verzicht auf umfassende Lehren an. Und die positive Ergänzung "politisch" verweist auf eine demokratiefunktionale Theorie. Denn nach Rawls hat die Politische Philosophie vier Aufgaben zu erfüllen, die allesamt im Dienst einer liberalen Demokratie stehen: Sie soll konkurrierende Ansprüche wie Freiheit und Gleichheit gegeneinander abwägen, über Ziele und Zwecke einer historisch gewachsenen Gesellschaft orientieren, mit der prima facie enttäuschenden Wirklichkeit versöhnen, nicht zuletzt eine realistische Utopie entwerfen. Überraschenderweise fehlt eine fünfte Aufgabe, obwohl sie dem Selbstverständnis liberaler Demokratien und darüber hinaus ihrer Herkunft aus der Aufklärungsepoche entspricht: Für ihre Kernelemente beanspruchen liberale Demokratien eine kulturübergreifende Gültigkeit; namentlich in den Menschenrechten und der Volkssouveränität meinen sie, dem Anspruch auch gerecht zu werden.
Überzeugender dürfte daher ein Gegenentwurf sein, der universalistische Kernelemente mit einem Recht auf Besonderheit verbindet. Ohnehin bleibt Rawls' konzeptuelle Bescheidenheit insofern verbal, als sie weder zu den Menschenrechten und der Volkssouveränität noch zu der sie begründenden Fairneß-Konzeption eine Alternative für erwägenswert hält. Statt dessen wiederholt sich die trockene Versicherung: Wir brauchen keine moralische Globaltheorie, sondern die politische Konzeption der Personen als freier und gleicher Wesen, mit der Fähigkeit zur vollen Kooperation in der Gesellschaft.
Die kriteriologische Kraft dieser Konzeption darf man allerdings nicht unterschätzen. Auf die viel erörterte Frage beispielsweise, was denn unter jene Grundgüter fällt, für die ein Gemeinwesen Verantwortung trage, antwortet Rawls mit all dem, was freie und gleiche Personen als Bürger brauchen und sie überdies befähigt, sich für zulässige Vorstellungen eines lebenswerten Lebens einzusetzen. Dieses Kriterium wendet sich gegen eine primär materiell-ökonomische Bestimmung, läßt die Grundgüter statt dessen mit den institutionellen Rechten und Freiheiten der Bürger beginnen und faire Chancen folgen. Erst am Ende kommen Einkommen und Vermögen, aber auch dann nicht sie selbst, sondern die vernünftigen Aussichten auf sie. Zugleich wird der Einwand des Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften, Amartya Sen, entkräftet, Rawls' Gerechtigkeitsprinzipien samt Grundgüterkatalog seien notgedrungen zu unflexibel.
Eine andere klärende Veränderung, die Neuformulierung des ersten Gerechtigkeitsprinzips, wurde durch Einwände des vor zehn Jahren gestorbenen britischen Rechtsphilosophen Herbert Lionel Adolphus Hart erforderlich. Gegen das Mißverständnis, der Freiheit als solcher werde ein Vorrang eingeräumt, "deduziert" Rawls die gleichen Grundfreiheiten nicht, sondern bestimmt sie ausdrücklich nur mit Hilfe einer Liste. Sie soll die aus der Geschichte der Demokratie bekannten verfassungsmäßigen Garantien enthalten, also etwa Gedanken- und Gewissensfreiheit, politische Freiheiten, das Versammlungsrecht und die Unverletzlichkeit der Person. Die Liste wird aber nicht ideen- und verfassungsgeschichtlich, sondern "analytisch" gewonnen, abermals nach Maßgabe der Frage einer Vorab- oder Proto-Gerechtigkeit: Was sind die politischen und sozialen Bedingungen für die Entwicklung und den Einsatz jener zwei moralischen Vermögen, die für freie und gleiche Personen als wesentlich gelten, für die Anlage zum Gerechtigkeitssinn und für die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen?
Eine dritte Klarstellung liegt in der Zuständigkeit der Gerechtigkeitsprinzipien für das Innenleben von Organisationen und Verbänden jedweder Art. Während andere politische Philosophen zu dem Thema lieber schweigen, scheut sich Rawls nicht, jenen "fundamentalistischen" Strömungen in Synagogen, Kirchen oder Moscheen entgegenzutreten, die eine tätige Intoleranz praktizieren, Ketzerei als Verbrechen behandeln und ihren Mitgliedern den Austritt verbieten. Ebenfalls gelten die Gerechtigkeitsprinzipien für die Basisinstitution der politischen Gesellschaft, die Familie. Die Gleichheit etwa, die den Frauen zu gewähren sei, verlange bei einer Scheidung, der Ehefrau als Ausgleich für das "Gebären, Erziehen und Versorgen der Kinder" (man muß ergänzen: wenn es sie denn gibt!) die Hälfte des während der Ehe angefallenen Vermögenszuwachses zuzusprechen.
Zieht man Bilanz, so muß man dem englischen Untertitel ohne weiteres recht geben: Die eher kleineren Veränderungen, die man findet, belaufen sich auf nichts mehr als eine "Neuformulierung", geschrieben in Rawls' Stil: Ohne literarische Ambitionen, außer dem Ehrgeiz zu einer klaren, differenzierten, oft scharfsinnigen Argumentation nimmt der Autor in Kauf, gelegentlich pedantisch-skrupulös zu werden.
OTFRIED HÖFFE
John Rawls: "Gerechtigkeit als Fairneß". Ein Neuentwurf. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 316 S., geb., 24,90 [Euro].
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"Ihm war vergönnt, was in der Welt des Geistes eine äußerste Seltenheit ist: zu Lebzeiten ein Klassiker zu werden, ja auf seinem Gebiet, der politischen Philosophie, eine Epoche zu prägen." (Frankfurter Rundschau)