Produktdetails
- Verlag: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt
- ISBN-13: 9783534276325
- Artikelnr.: 67456945
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Menschenskinder, schaut doch hin!
Sobald ein Lebewesen Ziele verfolgt, verdient es unsere Achtung: Martha Nussbaum entwirft eine virtuelle Verfassung für den Schutz von Tieren.
Von Christian Geyer
Martha Nussbaum hat eine Philosophie des Tierwohls entworfen, wie sie tiefgründiger und einfacher kaum zu denken ist. Tiefgründiger nicht, weil sie beim aristotelischen Teleologiekonzept ansetzt: Alles, was geschieht, geschieht um eines Ziels willen. Und einfacher nicht, weil Verhaltensforschung hier ein moralisches Programm vorgibt. Alles Wirkende wirkt um eines Zieles willen, lautet das hier einschlägige Axiom des Aristoteles, und für Nussbaum steht fest: "Jedes Tier ist ein teleologisches System, das auf eine Reihe von Gütern als seine Ziele ausgerichtet ist, bei denen es zentral um das Überleben, die Fortpflanzung und in den meisten Fällen um soziale Interaktion geht." Warum solche typischen Befähigungen den Tieren nicht gewährleisten, "ähnlich" wie man sie den Menschen zu sichern sucht? Mit welchen Begriffen dies geschieht, ist zweitrangig. Eigensinnig in diesem Zusammenhang: Die Behauptung von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Mensch und Tier sind für Nussbaum nicht schon unzulässig, wenn sie als anthropomorph abgestempelt werden. Wie anders, fragt die mit etlichen Preisen geehrte Chicagoer Philosophin, als in menschlicher Perspektive sollten sich die Befunde der Verhaltensforschung zurechtlegen lassen? Wenn wir wissen wollen, was den Tieren zukommt, um ihnen ein ihren jeweiligen Fähigkeiten gemäßes Leben zu ermöglichen (jenseits allfälliger utilitaristischer Maßstäbe von Lustgewinn und Schmerzvermeidung), müssen wir nur genau hinschauen, worin diese Fähigkeiten jeweils bestehen, so Nussbaum, um zu wissen, was idealerweise zu tun ist. Menschenskinder, so das Credo, schaut doch hin und hört auf, die Utopie von der Rettung der Tierwelt durch Begriffsstreitigkeiten zu blockieren! Nussbaum möchte mit dem noch von ihrer verstorbenen Tochter Rachel, einer zumal mit Walen forschenden Tierrechtlerin, inspirierten Buch "eine virtuelle Verfassung bereitstellen, an der sich Nationen, Staaten und Regionen orientieren können, wenn sie versuchen, ihre Tierschutzgesetze zu verbessern (oder neu zu gestalten)". Die ethologische wie die davon abgeleitete ethische Frage lautet demnach: Wie stellen sich die Tiere dar, während sie sich als ein Bestimmtes zu erhalten trachten? Denn sich erhalten wollen heißt immer, sich als ein Bestimmtes zu erhalten. Dieses Bestimmte aber ist, was es ist, nur, wenn es seine Möglichkeiten verwirklichen, aus seinen Fähigkeiten etwas machen kann. Nussbaum argumentiert um eines übergreifenden Konsenses willen nicht metaphysisch, sondern politisch. In ihrer virtuellen Verfassung würden "keine strittigen metaphysischen Behauptungen" aufgestellt "und nicht zu allen Fragen Stellung" bezogen. "Das wesentliche Ziel besteht darin, dass sämtliche Tiere die Möglichkeit haben, ein Leben zu führen, das mit ihrer Würde und ihren Bestrebungen im Einklang steht, und dass sie bis zu einem angemessenen Schwellenwert geschützt sind." Nicht unbedingt, nicht grenzenlos, aber als regulative, der gesellschaftspolitischen Abwägung unterworfene Idee geht es bei Nussbaum auch im Reich der nicht menschlichen Tiere um ein Listenprojekt - um Listen von zu schützenden und zu entwickelnden Fähigkeiten, die zur Integrität der jeweiligen empfindungsfähigen Lebewesen gehören, "Wünsche und Emotionen" inbegriffen. Dass jede Vorstellung von Artgerechtigkeit notwendigerweise teleologisch verfasst ist, also einem der jeweiligen Art "von Hause aus" Zukommenden entspricht, hat Martha Nussbaum unter der Befähigungsperspektive ("capability approach") schon 2006 in ihrem Buch "Die Grenzen der Gerechtigkeit" auch auf die Tierwelt bezogen. In ihrem neuen Buch "Gerechtigkeit für Tiere" formuliert sie diesen Ansatz programmatisch aus. "Warum um alles in der Welt", so fragt sie, sollte ein solcher, ursprünglich in der Entwicklungspolitik verfolgter "capability approach" "nicht auch für das Leben anderer Tiere angemessen sein, und zwar aus ähnlichen Gründen? Auch sie leben inmitten einer überwältigenden und aktuell zunehmenden Zahl von Gefahren und Hindernissen, von denen viele von uns zu verantworten sind. Auch sie haben eine angeborene Würde, die Achtung und Staunen erweckt. "Die Tatsache, dass die Würde eines Delfins oder eines Elefanten nicht genau dieselbe ist wie diejenige eines Menschen - und dass die Würde eines Elefanten sich von derjenigen eines Delfins unterscheidet -, bedeutet nicht, dass hier keine Würde vorhanden ist." Delphine und Elefanten, um bei diesen Tieren zu bleiben, haben das Vermögen, sich ausweislich ihrer Ethologie laut Nussbaum würdevoll "wie" Menschen zu benehmen. Wobei es sich bei dem "wie" nicht um einen Wertungsbegriff handele, jedes Lebewesen verwirkliche seine Würde vielmehr unabhängig von "so ähnlich wie"-Vorstellungen der Menschennähe. Man nenne es Würde oder anders: Allein schon das Streben eines Tieres nach Zielen, die für es wertvoll sind, ihr teleologisches Auf-etwas-aus-Sein begründe das Recht des Tieres, als Zweck und nicht bloß als Mittel behandelt zu werden. Weiter gehende Spekulationen über Mensch-Tier-Differenzen seien hier schlicht obsolet und einzuklammern. Der Einwand, ihr Vokabular sei anthropomorph, ficht Nussbaum wie gesagt nicht an. Rechtlich-philosophische Begriffe wie eben "Würde" überträgt sie auf die nicht menschliche Tierwelt nach Art von Arbeitsbegriffen, die Beschreibungen des Verhaltens dienen und unter dieser methodischen Maßgabe dann durchaus auch ihren normativen Gehalt entfalten können, wie man ihn im rechtlich-philosophischen Zusammenhang kennt. Tatsächlich hat der Fähigkeitenansatz, wie er in dem Buch "Gerechtigkeit für Tiere" zentral gestellt wird, eine begriffsgeschichtliche Vorgeschichte, die bis in die Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts reicht, als der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen den Ansatz entwarf, der seitdem in etlichen Varianten weiterentwickelt wurde, so auch seit den Neunzigerjahren eigenständig von Nussbaum. Zuvor hatte sie mit dem indischen Nobelpreisträger in dieser Sache noch gemeinsam den Band "The Quality of Life" (1993) herausgegeben. Sen schreibt 2009 in seinem Buch "Die Idee der Gerechtigkeit": "Martha Nussbaum hat mich auf die Verbindung dieses Ansatzes mit aristotelischen Ideen hingewiesen; mit ihren bahnbrechenden Arbeiten zu diesem wachsenden neuen Untersuchungsgebiet hat sie die Richtung mitbestimmt, in der sich der Capability-Ansatz weiterentwickelt." Mit dem vorliegenden Buch ist er philosophisch bei den Walen angekommen, denen Nussbaum es gewidmet hat. Martha Nussbaum: "Gerechtigkeit für Tiere". Unsere kollektive Verantwortung. Aus dem Englischen von Manfred Weltecke. wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2023. 416 S., geb., 35,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sobald ein Lebewesen Ziele verfolgt, verdient es unsere Achtung: Martha Nussbaum entwirft eine virtuelle Verfassung für den Schutz von Tieren.
Von Christian Geyer
Martha Nussbaum hat eine Philosophie des Tierwohls entworfen, wie sie tiefgründiger und einfacher kaum zu denken ist. Tiefgründiger nicht, weil sie beim aristotelischen Teleologiekonzept ansetzt: Alles, was geschieht, geschieht um eines Ziels willen. Und einfacher nicht, weil Verhaltensforschung hier ein moralisches Programm vorgibt. Alles Wirkende wirkt um eines Zieles willen, lautet das hier einschlägige Axiom des Aristoteles, und für Nussbaum steht fest: "Jedes Tier ist ein teleologisches System, das auf eine Reihe von Gütern als seine Ziele ausgerichtet ist, bei denen es zentral um das Überleben, die Fortpflanzung und in den meisten Fällen um soziale Interaktion geht." Warum solche typischen Befähigungen den Tieren nicht gewährleisten, "ähnlich" wie man sie den Menschen zu sichern sucht? Mit welchen Begriffen dies geschieht, ist zweitrangig. Eigensinnig in diesem Zusammenhang: Die Behauptung von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Mensch und Tier sind für Nussbaum nicht schon unzulässig, wenn sie als anthropomorph abgestempelt werden. Wie anders, fragt die mit etlichen Preisen geehrte Chicagoer Philosophin, als in menschlicher Perspektive sollten sich die Befunde der Verhaltensforschung zurechtlegen lassen? Wenn wir wissen wollen, was den Tieren zukommt, um ihnen ein ihren jeweiligen Fähigkeiten gemäßes Leben zu ermöglichen (jenseits allfälliger utilitaristischer Maßstäbe von Lustgewinn und Schmerzvermeidung), müssen wir nur genau hinschauen, worin diese Fähigkeiten jeweils bestehen, so Nussbaum, um zu wissen, was idealerweise zu tun ist. Menschenskinder, so das Credo, schaut doch hin und hört auf, die Utopie von der Rettung der Tierwelt durch Begriffsstreitigkeiten zu blockieren! Nussbaum möchte mit dem noch von ihrer verstorbenen Tochter Rachel, einer zumal mit Walen forschenden Tierrechtlerin, inspirierten Buch "eine virtuelle Verfassung bereitstellen, an der sich Nationen, Staaten und Regionen orientieren können, wenn sie versuchen, ihre Tierschutzgesetze zu verbessern (oder neu zu gestalten)". Die ethologische wie die davon abgeleitete ethische Frage lautet demnach: Wie stellen sich die Tiere dar, während sie sich als ein Bestimmtes zu erhalten trachten? Denn sich erhalten wollen heißt immer, sich als ein Bestimmtes zu erhalten. Dieses Bestimmte aber ist, was es ist, nur, wenn es seine Möglichkeiten verwirklichen, aus seinen Fähigkeiten etwas machen kann. Nussbaum argumentiert um eines übergreifenden Konsenses willen nicht metaphysisch, sondern politisch. In ihrer virtuellen Verfassung würden "keine strittigen metaphysischen Behauptungen" aufgestellt "und nicht zu allen Fragen Stellung" bezogen. "Das wesentliche Ziel besteht darin, dass sämtliche Tiere die Möglichkeit haben, ein Leben zu führen, das mit ihrer Würde und ihren Bestrebungen im Einklang steht, und dass sie bis zu einem angemessenen Schwellenwert geschützt sind." Nicht unbedingt, nicht grenzenlos, aber als regulative, der gesellschaftspolitischen Abwägung unterworfene Idee geht es bei Nussbaum auch im Reich der nicht menschlichen Tiere um ein Listenprojekt - um Listen von zu schützenden und zu entwickelnden Fähigkeiten, die zur Integrität der jeweiligen empfindungsfähigen Lebewesen gehören, "Wünsche und Emotionen" inbegriffen. Dass jede Vorstellung von Artgerechtigkeit notwendigerweise teleologisch verfasst ist, also einem der jeweiligen Art "von Hause aus" Zukommenden entspricht, hat Martha Nussbaum unter der Befähigungsperspektive ("capability approach") schon 2006 in ihrem Buch "Die Grenzen der Gerechtigkeit" auch auf die Tierwelt bezogen. In ihrem neuen Buch "Gerechtigkeit für Tiere" formuliert sie diesen Ansatz programmatisch aus. "Warum um alles in der Welt", so fragt sie, sollte ein solcher, ursprünglich in der Entwicklungspolitik verfolgter "capability approach" "nicht auch für das Leben anderer Tiere angemessen sein, und zwar aus ähnlichen Gründen? Auch sie leben inmitten einer überwältigenden und aktuell zunehmenden Zahl von Gefahren und Hindernissen, von denen viele von uns zu verantworten sind. Auch sie haben eine angeborene Würde, die Achtung und Staunen erweckt. "Die Tatsache, dass die Würde eines Delfins oder eines Elefanten nicht genau dieselbe ist wie diejenige eines Menschen - und dass die Würde eines Elefanten sich von derjenigen eines Delfins unterscheidet -, bedeutet nicht, dass hier keine Würde vorhanden ist." Delphine und Elefanten, um bei diesen Tieren zu bleiben, haben das Vermögen, sich ausweislich ihrer Ethologie laut Nussbaum würdevoll "wie" Menschen zu benehmen. Wobei es sich bei dem "wie" nicht um einen Wertungsbegriff handele, jedes Lebewesen verwirkliche seine Würde vielmehr unabhängig von "so ähnlich wie"-Vorstellungen der Menschennähe. Man nenne es Würde oder anders: Allein schon das Streben eines Tieres nach Zielen, die für es wertvoll sind, ihr teleologisches Auf-etwas-aus-Sein begründe das Recht des Tieres, als Zweck und nicht bloß als Mittel behandelt zu werden. Weiter gehende Spekulationen über Mensch-Tier-Differenzen seien hier schlicht obsolet und einzuklammern. Der Einwand, ihr Vokabular sei anthropomorph, ficht Nussbaum wie gesagt nicht an. Rechtlich-philosophische Begriffe wie eben "Würde" überträgt sie auf die nicht menschliche Tierwelt nach Art von Arbeitsbegriffen, die Beschreibungen des Verhaltens dienen und unter dieser methodischen Maßgabe dann durchaus auch ihren normativen Gehalt entfalten können, wie man ihn im rechtlich-philosophischen Zusammenhang kennt. Tatsächlich hat der Fähigkeitenansatz, wie er in dem Buch "Gerechtigkeit für Tiere" zentral gestellt wird, eine begriffsgeschichtliche Vorgeschichte, die bis in die Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts reicht, als der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen den Ansatz entwarf, der seitdem in etlichen Varianten weiterentwickelt wurde, so auch seit den Neunzigerjahren eigenständig von Nussbaum. Zuvor hatte sie mit dem indischen Nobelpreisträger in dieser Sache noch gemeinsam den Band "The Quality of Life" (1993) herausgegeben. Sen schreibt 2009 in seinem Buch "Die Idee der Gerechtigkeit": "Martha Nussbaum hat mich auf die Verbindung dieses Ansatzes mit aristotelischen Ideen hingewiesen; mit ihren bahnbrechenden Arbeiten zu diesem wachsenden neuen Untersuchungsgebiet hat sie die Richtung mitbestimmt, in der sich der Capability-Ansatz weiterentwickelt." Mit dem vorliegenden Buch ist er philosophisch bei den Walen angekommen, denen Nussbaum es gewidmet hat. Martha Nussbaum: "Gerechtigkeit für Tiere". Unsere kollektive Verantwortung. Aus dem Englischen von Manfred Weltecke. wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2023. 416 S., geb., 35,- Euro.
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