Aus den Reflexionen über eine Theorie des Guten gewinnt die Autorin die theoretischen Ressourcen für eine Reformulierung des politischen Liberalismus, die bislang vernachlässigten Problemen wie internationaler Gerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit Rechnung trägt. In ihrer Ethik des Guten unternimmt Martha C. Nussbaum eine Neudefinition des Begriffs des Wohlergehens und formuliert mit ihrer Theorie des guten Lebens eine Alternative zu den anthropologisch ausgedünnten deontologischen Moralansätzen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2000Gutes gesucht
Mit Martha C. Nussbaum
Ans Ende mag niemand mehr so recht glauben. Der emphatische Ton der Utopisten mag schon lange abgeklungen sein, jetzt scheint auch das postmoderne Wissen zum Ladenhüter zu werden.
Die kunstvollen Rituale des Abschieds – vom Ich, vom Subjekt, vom Schönen, von der Geschichte, von der Zukunft – wecken umgekehrt die Erinnerung an die unvermeidlichen Fragen und Bedürfnisse des Menschen. Die Philosophie hat Luft geholt und setzt auf neue Sachlichkeit jenseits von falschen Versprechungen und Resignation – von gestern ist also auch die Gefahr einer feindlichen Übernahme durch Soziologie, Literaturtheorie oder Kulturwissenschaften. Für Spannung sorgt gerade ihr ältestes Thema: das Gelingen eines guten Lebens.
Seattle 1999: Massendemonstrationen bei der Konferenz der Welthandelsorganisation, Globalisierungsverlierer in Rage, Einspruch gegen den ironischen Diskurs der nachindustriellen Wohlstandsgesellschaft. Der schwelende Verteilungskonflikt, die Fragen nach globaler Gerechtigkeit und nach den Maximen einer universalen Entwicklungspolitik bilden auch das Herzstück der Arbeiten Martha Nussbaums. Damit ist sie zur Zeit gewiss nicht allein. Ungewöhnlich sind aber ihre Anleihen bei der antiken Ethik – ein Rückbezug, der freilich nicht hinter die aufklärerische Prämisse der Anerkennung aller als Gleiche zurückfallen wird. Ihr Aristoteles ist faszinierend modern. Ein scharfer Kritiker aller elitären Ideen-Seher, ein Denker der Polis, dessen Untersuchungen sich aus einem wachen Sinn für elementare menschliche Erfahrungen, besonders der körperlichen und seelischen Versehrbarkeit, aufbauen. Gerechtigkeit wird als weltinterne Angelegenheit verhandelt. Die Frühschriften von Marx lassen grüßen.
Martha Nussbaums Ansatz gibt sich bewusst minimalistisch. Wem es um eine verbindliche Basis zwischen verschiedenen Kulturen und Lebensordnungen geht, der formuliert am besten Mindeststandards, die jeder Einzelne von seiner Regierung einfordern können muss, um seine Fähigkeiten und Möglichkeiten individuell und frei entfalten zu können. Erst eine Theorie des Guten vermag die Verteilungspolitik von Staaten, Institutionen oder Hilfsprogrammen auf die Befähigung zur autonomen Wahl einer Lebensform hin zu strukturieren.
Nussbaum erarbeitet eine Art Checkliste der Bausteine eines menschenwürdigen Lebens – sie soll im Konsens ständig modifiziert und fortgeschrieben werden. Kognitive Fähigkeiten zählen ebenso zu diesen Grundgütern wie die praktische Vernunft, die Verbundenheit mit Anderen oder Humor und Spiel. Wenn sie in Abgrenzung zum Liberalismus eines John Rawls, der das Gute allzu einseitig in Richtung materielle Prosperität auslegt, für eine „starke vage Konzeption des Guten” plädiert, dann bekundet dies hohe Sensibilität für die gesellschaftlich-historischen Kontexte von Biografien. Lieber will sie mit vagen anthropologischen Aussagen zur Lebensqualität richtig liegen als mit genauen falsch.
Um aber eine Grundlage dafür zu schaffen, dass sich Menschen über religiöse und metaphysische Differenzen hinweg tatsächlich erkennen und anerkennen können, muss sie sich gegen jede Form von kulturellem Relativismus stark machen. Der Verweis auf traditionelle Wurzeln macht Diskriminierung und Unterdrückung nicht erträglicher. Aus ihren Forschungen am World Institute for Development Economics Research der United Nations University und durch die Zusammenarbeit mit dem Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen hält Martha Nussbaum Skepsis gegenüber den Selbstauskünften benachteiligter Gruppen in Entwicklungsländern für angebracht. Nur zu oft sind die verordneten Entbehrungen als eigene kulturelle Wertvorstellungen internalisiert. Die kritische Funktion ethischer Normen zu verspielen, heißt schließlich, auch andere vom guten Leben auszuschließen.
„Dies möge als Umriß des gesuchten Guten gelten”, schreibt Aristoteles, „denn man muß wohl zuerst die Grundlinien ziehen und dann nachher das Bild ausführen. Sind die Grundlinien richtig gezeichnet, sollte wohl jeder selbst weiterkommen und die Sache ausarbeiten. Denn das Fehlende ergänzen kann jeder. ”
MARTIN SCHERER
MARTHA C. NUSSBAUM: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Hrsg. Herlinde Pauer-Studer. Deutsch von Ilse Utz. Edition Suhrkamp, Frankfurt 1999. 316 Seiten, 24,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Mit Martha C. Nussbaum
Ans Ende mag niemand mehr so recht glauben. Der emphatische Ton der Utopisten mag schon lange abgeklungen sein, jetzt scheint auch das postmoderne Wissen zum Ladenhüter zu werden.
Die kunstvollen Rituale des Abschieds – vom Ich, vom Subjekt, vom Schönen, von der Geschichte, von der Zukunft – wecken umgekehrt die Erinnerung an die unvermeidlichen Fragen und Bedürfnisse des Menschen. Die Philosophie hat Luft geholt und setzt auf neue Sachlichkeit jenseits von falschen Versprechungen und Resignation – von gestern ist also auch die Gefahr einer feindlichen Übernahme durch Soziologie, Literaturtheorie oder Kulturwissenschaften. Für Spannung sorgt gerade ihr ältestes Thema: das Gelingen eines guten Lebens.
Seattle 1999: Massendemonstrationen bei der Konferenz der Welthandelsorganisation, Globalisierungsverlierer in Rage, Einspruch gegen den ironischen Diskurs der nachindustriellen Wohlstandsgesellschaft. Der schwelende Verteilungskonflikt, die Fragen nach globaler Gerechtigkeit und nach den Maximen einer universalen Entwicklungspolitik bilden auch das Herzstück der Arbeiten Martha Nussbaums. Damit ist sie zur Zeit gewiss nicht allein. Ungewöhnlich sind aber ihre Anleihen bei der antiken Ethik – ein Rückbezug, der freilich nicht hinter die aufklärerische Prämisse der Anerkennung aller als Gleiche zurückfallen wird. Ihr Aristoteles ist faszinierend modern. Ein scharfer Kritiker aller elitären Ideen-Seher, ein Denker der Polis, dessen Untersuchungen sich aus einem wachen Sinn für elementare menschliche Erfahrungen, besonders der körperlichen und seelischen Versehrbarkeit, aufbauen. Gerechtigkeit wird als weltinterne Angelegenheit verhandelt. Die Frühschriften von Marx lassen grüßen.
Martha Nussbaums Ansatz gibt sich bewusst minimalistisch. Wem es um eine verbindliche Basis zwischen verschiedenen Kulturen und Lebensordnungen geht, der formuliert am besten Mindeststandards, die jeder Einzelne von seiner Regierung einfordern können muss, um seine Fähigkeiten und Möglichkeiten individuell und frei entfalten zu können. Erst eine Theorie des Guten vermag die Verteilungspolitik von Staaten, Institutionen oder Hilfsprogrammen auf die Befähigung zur autonomen Wahl einer Lebensform hin zu strukturieren.
Nussbaum erarbeitet eine Art Checkliste der Bausteine eines menschenwürdigen Lebens – sie soll im Konsens ständig modifiziert und fortgeschrieben werden. Kognitive Fähigkeiten zählen ebenso zu diesen Grundgütern wie die praktische Vernunft, die Verbundenheit mit Anderen oder Humor und Spiel. Wenn sie in Abgrenzung zum Liberalismus eines John Rawls, der das Gute allzu einseitig in Richtung materielle Prosperität auslegt, für eine „starke vage Konzeption des Guten” plädiert, dann bekundet dies hohe Sensibilität für die gesellschaftlich-historischen Kontexte von Biografien. Lieber will sie mit vagen anthropologischen Aussagen zur Lebensqualität richtig liegen als mit genauen falsch.
Um aber eine Grundlage dafür zu schaffen, dass sich Menschen über religiöse und metaphysische Differenzen hinweg tatsächlich erkennen und anerkennen können, muss sie sich gegen jede Form von kulturellem Relativismus stark machen. Der Verweis auf traditionelle Wurzeln macht Diskriminierung und Unterdrückung nicht erträglicher. Aus ihren Forschungen am World Institute for Development Economics Research der United Nations University und durch die Zusammenarbeit mit dem Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen hält Martha Nussbaum Skepsis gegenüber den Selbstauskünften benachteiligter Gruppen in Entwicklungsländern für angebracht. Nur zu oft sind die verordneten Entbehrungen als eigene kulturelle Wertvorstellungen internalisiert. Die kritische Funktion ethischer Normen zu verspielen, heißt schließlich, auch andere vom guten Leben auszuschließen.
„Dies möge als Umriß des gesuchten Guten gelten”, schreibt Aristoteles, „denn man muß wohl zuerst die Grundlinien ziehen und dann nachher das Bild ausführen. Sind die Grundlinien richtig gezeichnet, sollte wohl jeder selbst weiterkommen und die Sache ausarbeiten. Denn das Fehlende ergänzen kann jeder. ”
MARTIN SCHERER
MARTHA C. NUSSBAUM: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Hrsg. Herlinde Pauer-Studer. Deutsch von Ilse Utz. Edition Suhrkamp, Frankfurt 1999. 316 Seiten, 24,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.1999Für eine Welt voller Seligkeit
Wer liebt, gibt: Martha Nussbaums leidenschaftliche Anthropologie
Rezensionen sind immer auch die Auswertung eines Selbstversuchs. Wo habe ich nachgehakt? Wo bin ich ins Blättern gekommen? Und warum? Und woran liegt es überhaupt, daß einen bestimmte Texte in sich hineinziehen, während sich bei anderen der mentale Bildschirmschoner einschaltet? Kaum am Stil. Nichts abstoßender als die glatte Münze des geistreichen Wortes, dem die Golddeckung des Gehaltes fehlt. Auch nicht daran, daß es das eigene Sachgebiet ist. Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Und wo wir das Gefühl haben, etwas lernen zu können, machen wir die Sache zu unserer eigenen. Nur, woher kommt dieses Gefühl? Es muß eine unterschwellige, letztlich wohl ästhetische Wahrnehmung des inneren Zusammenhalts, nicht einmal des Textes als vielmehr des ihm zugrunde liegenden Gedankens geben. Bestimmte Knappheiten der Darstellung, Stringenzen der Übergänge müssen den Eindruck erwecken, hier hat jemand nachgedacht, oder auch nur, zumal in der Philosophie, hier hat jemand ein Problem gesehen.
Eigentlich ist es gar nicht zu verstehen, warum einen Martha Nussbaums Aufsätze regelmäßig ermattet zurücklassen. Das will man doch gerade, daß jemand seine intime Kenntnis der antiken Autoren ohne philologischen Ballast produktiv in die aktuellen Debatten einbringt. Und nun gar Aristoteles, il maestro di color che sanno. Auch leuchtet die hohe Relevanz ihrer Themen unmittelbar ein. Gegen die liberale Einschränkung des Politischen auf das, was sich formal an Gerechtigkeit gerade noch gegen die Freiheit des Individuums begründen läßt, setzt sie die koinonia politike als Ort und Grund des guten Lebens. Gegen Relativismus, Anti-Essentialismus, Kommunitarismus entwickelt sie eine nichtmetaphysische Bestimmung der Natur des Menschen als zugleich soziales und bedürftiges Wesen, weder Gott noch Tier. Verständlich geschrieben sind die Aufsätze allemal, mit Ausblicken auf praktische Probleme und Verweisungen auf Debattenzusammenhänge.
Nehmen wir eine auch in der jüngsten Aufsatzsammlung mehrfach wiederholte argumentative Sequenz. (Der Reihentitel "Gender Studies" ist übrigens irreführend und weiblich an dem Bändchen primär die Autorin; nur zwei der fünf Aufsätze nehmen Frauenfragen lose zum Schreibanlaß für das Gewohnte.) Der aristotelische Ansatz zeichne sich durch eine Priorität des Guten vor dem Gerechten aus. Auch die Liberalen haben wohl ein Verständnis des Guten. Aber sie denken es letztlich als Reichtum, der dem einzelnen zu seiner persönlichen und nicht diskutierbaren Verfügung steht. Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz von John Rawls läßt Ungleichheiten nur dann zu, wenn sie die Lage der am schlechtesten Gestellten verbessern. Darin dominiert die kapitalistische Ansicht, "daß ein Mehr unbedingt auch besser sein muß". Dem hält die aristotelische Konzeption entgegen, daß Wohlstand, Einkommen und Besitz "schlicht und einfach nichts Gutes an sich sind", Frauen oder Männer etwa, die eine Ganztagstätigkeit mit der Wahrnehmung familiärer Aufgaben verbinden, benötigen zusätzliche Ressourcen und unterstützende Systeme, wenn sie genausogut leben wollen wie Menschen ohne derartige Konflikte.
Um das Gute auf eine nichtpaternalistische Weise bestimmen zu können, erstellt die Autorin eine Liste der konstitutiven Bedingungen des Menschen, eine Liste, die wie die meisten Listen des Aristoteles, etwa die der vier Ursachen in der Physik, "nicht als eine systematische philosophische Theorie zu verstehen ist, sondern als eine Zusammenfassung unserer bisherigen Vorstellungen". Auf der Liste dieser Bedingungen, Sterblichkeit oder Humor und Spiel lauten da die Titel, fußt eine zweite Liste miteinander zusammenhängender Fähigkeiten ("capabilities"). In der Ermöglichung der Ausbildung dieser Fähigkeiten, die zugleich die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens ist, besteht die Aufgabe der Politik.
Das mogelt bei der Aristotelesdeutung: In der Physik mag der Zusammenhang der Liste der Ursachen fehlen, in der Metaphysik wird er in raffiniert empirisch-historisch-systematisch verschränkter Argumentation nachgeholt. Es mogelt in der Anthropologie: Nussbaums Listen sehen aus, als habe da mal jemand nachgedacht, was ihm so beim Menschen einfällt, Lachen und Sterben, und die Gefühle natürlich, denn eine "Welt, aus der die Gefühle verbannt werden, ist eine verarmte Welt", und auch die Sexualität darf nicht fehlen, sind doch erotisch empfängliche Menschen "aufgrund ihres leidenschaftlichen Lebensgefühls auch in bezug auf Wohltätigkeit tatkräftiger und großzügiger". Letztgenanntes ist nun klarer Unfug, wie sich überhaupt zu Liebe und Leben manche Sentimentalität findet. Aber davon unabhängig kann ein Philosoph, zu einem Thema, über das die Philosophie nachdenkt, seitdem es sie gibt, nicht einfach unschuldig seine Einfälle hererzählen und sich mit der Größe der Aufgabe herausreden.
Es mogelt in den Beispielen: Wer wollte bestreiten, daß berufstätige Eltern nicht nur Geld, sondern auch Kindergärten brauchen? Und es mogelt in der Rawlskritik: Auch Rawls hat längst zugegeben, daß Geld allein nicht glücklich macht. Umgekehrt müßte Nussbaum deutlicher machen, daß es zwar irgendwo auf dieser Welt immer fehlt, dem einen dies, dem andern das, es manchmal aber eben doch einfach das Geld ist - Arme haben wir allezeit bei uns. Und allzu beiläufig konzediert sie, daß es neben dem Guten um Rechte gehen müsse. Denn damit eröffnet sich die philosophisch nun wirklich relevante Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Sphären - eine Frage, die sich vermutlich nicht mit der aristotelischen Politik, sondern erst mit der Hegelschen Unterscheidung zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft behandeln läßt.
Die Wurzel des vierfachen Unbehagens an solchen Texten, deren, wie es im Jargon heißt: Intuition man teilen mag, liegt darin, daß sie strategisch operieren. Aristoteles, zumal lateinisch zitiert, gibt der eigenen Position Autorität, die extrem gewählten Beispiele erzeugen eine zustimmende Grundhaltung, und die eigene Theorie wie die Kritik am Gegner werden so zugeschnitten, daß man Punkte machen kann. Das Unbehagen wächst um so mehr, als sich dagegen nicht einfach die Tugend halten läßt, lieber nicht soviel zu veröffentlichen und statt dessen seine Theorie an schwierigeren Beispielen und stärkeren oder starkgemachten Gegnern zu prüfen. Die Welt geht weiter. Und natürlich hat es eine immense politische Bedeutung, wenn eine bekannte amerikanische Professorin in den entwicklungspolitischen Institutionen der Vereinten Nationen mit Berufung auf Aristoteles und gegen den Kulturrelativismus die Aufklärung der Frauen in Bangladesh fordert. Wie es auch seine Bedeutung hat, daß der eher unbelesene philosophische Liberalismus auf Aristoteles gestoßen wird. Dennoch möchte man durch philosophische Bücher zum Denken gebracht werden, nicht einfach akklamierendes Publikum eines akademischen Kampfes um Terrain sein. Worum genau es in diesem Kampf geht und welche Rolle Nussbaum darin spielt, läßt sich dem exzellenten Vorwort von Herlinde Pauer-Studer entnehmen, dem allenfalls ein etwas enger Begriff des Politischen vorgeworfen werden könnte. GUSTAV FALKE
Martha C. Nussbaum: "Gerechtigkeit oder Das gute Leben". Herausgegeben von Herlinde Pauer-Studer. Aus dem Amerikanischen von Ilse Utz. Gender Studies. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 316 S., br., 24,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer liebt, gibt: Martha Nussbaums leidenschaftliche Anthropologie
Rezensionen sind immer auch die Auswertung eines Selbstversuchs. Wo habe ich nachgehakt? Wo bin ich ins Blättern gekommen? Und warum? Und woran liegt es überhaupt, daß einen bestimmte Texte in sich hineinziehen, während sich bei anderen der mentale Bildschirmschoner einschaltet? Kaum am Stil. Nichts abstoßender als die glatte Münze des geistreichen Wortes, dem die Golddeckung des Gehaltes fehlt. Auch nicht daran, daß es das eigene Sachgebiet ist. Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Und wo wir das Gefühl haben, etwas lernen zu können, machen wir die Sache zu unserer eigenen. Nur, woher kommt dieses Gefühl? Es muß eine unterschwellige, letztlich wohl ästhetische Wahrnehmung des inneren Zusammenhalts, nicht einmal des Textes als vielmehr des ihm zugrunde liegenden Gedankens geben. Bestimmte Knappheiten der Darstellung, Stringenzen der Übergänge müssen den Eindruck erwecken, hier hat jemand nachgedacht, oder auch nur, zumal in der Philosophie, hier hat jemand ein Problem gesehen.
Eigentlich ist es gar nicht zu verstehen, warum einen Martha Nussbaums Aufsätze regelmäßig ermattet zurücklassen. Das will man doch gerade, daß jemand seine intime Kenntnis der antiken Autoren ohne philologischen Ballast produktiv in die aktuellen Debatten einbringt. Und nun gar Aristoteles, il maestro di color che sanno. Auch leuchtet die hohe Relevanz ihrer Themen unmittelbar ein. Gegen die liberale Einschränkung des Politischen auf das, was sich formal an Gerechtigkeit gerade noch gegen die Freiheit des Individuums begründen läßt, setzt sie die koinonia politike als Ort und Grund des guten Lebens. Gegen Relativismus, Anti-Essentialismus, Kommunitarismus entwickelt sie eine nichtmetaphysische Bestimmung der Natur des Menschen als zugleich soziales und bedürftiges Wesen, weder Gott noch Tier. Verständlich geschrieben sind die Aufsätze allemal, mit Ausblicken auf praktische Probleme und Verweisungen auf Debattenzusammenhänge.
Nehmen wir eine auch in der jüngsten Aufsatzsammlung mehrfach wiederholte argumentative Sequenz. (Der Reihentitel "Gender Studies" ist übrigens irreführend und weiblich an dem Bändchen primär die Autorin; nur zwei der fünf Aufsätze nehmen Frauenfragen lose zum Schreibanlaß für das Gewohnte.) Der aristotelische Ansatz zeichne sich durch eine Priorität des Guten vor dem Gerechten aus. Auch die Liberalen haben wohl ein Verständnis des Guten. Aber sie denken es letztlich als Reichtum, der dem einzelnen zu seiner persönlichen und nicht diskutierbaren Verfügung steht. Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz von John Rawls läßt Ungleichheiten nur dann zu, wenn sie die Lage der am schlechtesten Gestellten verbessern. Darin dominiert die kapitalistische Ansicht, "daß ein Mehr unbedingt auch besser sein muß". Dem hält die aristotelische Konzeption entgegen, daß Wohlstand, Einkommen und Besitz "schlicht und einfach nichts Gutes an sich sind", Frauen oder Männer etwa, die eine Ganztagstätigkeit mit der Wahrnehmung familiärer Aufgaben verbinden, benötigen zusätzliche Ressourcen und unterstützende Systeme, wenn sie genausogut leben wollen wie Menschen ohne derartige Konflikte.
Um das Gute auf eine nichtpaternalistische Weise bestimmen zu können, erstellt die Autorin eine Liste der konstitutiven Bedingungen des Menschen, eine Liste, die wie die meisten Listen des Aristoteles, etwa die der vier Ursachen in der Physik, "nicht als eine systematische philosophische Theorie zu verstehen ist, sondern als eine Zusammenfassung unserer bisherigen Vorstellungen". Auf der Liste dieser Bedingungen, Sterblichkeit oder Humor und Spiel lauten da die Titel, fußt eine zweite Liste miteinander zusammenhängender Fähigkeiten ("capabilities"). In der Ermöglichung der Ausbildung dieser Fähigkeiten, die zugleich die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens ist, besteht die Aufgabe der Politik.
Das mogelt bei der Aristotelesdeutung: In der Physik mag der Zusammenhang der Liste der Ursachen fehlen, in der Metaphysik wird er in raffiniert empirisch-historisch-systematisch verschränkter Argumentation nachgeholt. Es mogelt in der Anthropologie: Nussbaums Listen sehen aus, als habe da mal jemand nachgedacht, was ihm so beim Menschen einfällt, Lachen und Sterben, und die Gefühle natürlich, denn eine "Welt, aus der die Gefühle verbannt werden, ist eine verarmte Welt", und auch die Sexualität darf nicht fehlen, sind doch erotisch empfängliche Menschen "aufgrund ihres leidenschaftlichen Lebensgefühls auch in bezug auf Wohltätigkeit tatkräftiger und großzügiger". Letztgenanntes ist nun klarer Unfug, wie sich überhaupt zu Liebe und Leben manche Sentimentalität findet. Aber davon unabhängig kann ein Philosoph, zu einem Thema, über das die Philosophie nachdenkt, seitdem es sie gibt, nicht einfach unschuldig seine Einfälle hererzählen und sich mit der Größe der Aufgabe herausreden.
Es mogelt in den Beispielen: Wer wollte bestreiten, daß berufstätige Eltern nicht nur Geld, sondern auch Kindergärten brauchen? Und es mogelt in der Rawlskritik: Auch Rawls hat längst zugegeben, daß Geld allein nicht glücklich macht. Umgekehrt müßte Nussbaum deutlicher machen, daß es zwar irgendwo auf dieser Welt immer fehlt, dem einen dies, dem andern das, es manchmal aber eben doch einfach das Geld ist - Arme haben wir allezeit bei uns. Und allzu beiläufig konzediert sie, daß es neben dem Guten um Rechte gehen müsse. Denn damit eröffnet sich die philosophisch nun wirklich relevante Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Sphären - eine Frage, die sich vermutlich nicht mit der aristotelischen Politik, sondern erst mit der Hegelschen Unterscheidung zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft behandeln läßt.
Die Wurzel des vierfachen Unbehagens an solchen Texten, deren, wie es im Jargon heißt: Intuition man teilen mag, liegt darin, daß sie strategisch operieren. Aristoteles, zumal lateinisch zitiert, gibt der eigenen Position Autorität, die extrem gewählten Beispiele erzeugen eine zustimmende Grundhaltung, und die eigene Theorie wie die Kritik am Gegner werden so zugeschnitten, daß man Punkte machen kann. Das Unbehagen wächst um so mehr, als sich dagegen nicht einfach die Tugend halten läßt, lieber nicht soviel zu veröffentlichen und statt dessen seine Theorie an schwierigeren Beispielen und stärkeren oder starkgemachten Gegnern zu prüfen. Die Welt geht weiter. Und natürlich hat es eine immense politische Bedeutung, wenn eine bekannte amerikanische Professorin in den entwicklungspolitischen Institutionen der Vereinten Nationen mit Berufung auf Aristoteles und gegen den Kulturrelativismus die Aufklärung der Frauen in Bangladesh fordert. Wie es auch seine Bedeutung hat, daß der eher unbelesene philosophische Liberalismus auf Aristoteles gestoßen wird. Dennoch möchte man durch philosophische Bücher zum Denken gebracht werden, nicht einfach akklamierendes Publikum eines akademischen Kampfes um Terrain sein. Worum genau es in diesem Kampf geht und welche Rolle Nussbaum darin spielt, läßt sich dem exzellenten Vorwort von Herlinde Pauer-Studer entnehmen, dem allenfalls ein etwas enger Begriff des Politischen vorgeworfen werden könnte. GUSTAV FALKE
Martha C. Nussbaum: "Gerechtigkeit oder Das gute Leben". Herausgegeben von Herlinde Pauer-Studer. Aus dem Amerikanischen von Ilse Utz. Gender Studies. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 316 S., br., 24,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main