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Der Freiburger Historiker Gerhard Ritter gehört zu den bekanntesten Repräsentanten der politischen Geschichtsschreibung im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Kaum ein Historiker hat ein derart weitgefächertes uvre vorgelegt, das Themen vom späten Mittelalter bis in die Zeitgeschichte behandelt. Darüber hinaus ist er zu den Persönlichkeiten des politischen und wissenschaftlichen Lebens zu rechnen, vor allem dank seiner Mitwirkung am Widerstand des Freiburger Kreises im Nationalsozialismus und seiner politischen Beraterfunktion für die Evangelische Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Jahren…mehr

Produktbeschreibung
Der Freiburger Historiker Gerhard Ritter gehört zu den bekanntesten Repräsentanten der politischen Geschichtsschreibung im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Kaum ein Historiker hat ein derart weitgefächertes uvre vorgelegt, das Themen vom späten Mittelalter bis in die Zeitgeschichte behandelt. Darüber hinaus ist er zu den Persönlichkeiten des politischen und wissenschaftlichen Lebens zu rechnen, vor allem dank seiner Mitwirkung am Widerstand des Freiburger Kreises im Nationalsozialismus und seiner politischen Beraterfunktion für die Evangelische Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Jahren nach 1945 wuchs Ritter in die Rolle eines führenden nationalen und internationalen Wissenschaftsorganisators hinein. Die Studie beleuchtet am Beispiel Ritters die wechselseitige Abhängigkeit der inhaltlichen und methodischen Positionen eines deutschen Historikers mit dessen politischen und gesellschaftlichen Erfahrungen. Sie beruht auf der Rekonstruktion von "Historikergesprächen", die sich wiederum in der Biographie des Protagonisten eingebettet finden. Unter Rückgriff auf ein breites archivalisches und gedrucktes Material wird das Phänomen einer "kommunizierenden Gesinnungsgemeinschaft" der deutschen Historiker im 20. Jahrhundert näher ergründet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001

Ist denn niemand da, der hören will, was ich zu sagen habe?
Größe ist das, was wir nicht sind: Der Freiburger Historiker Gerhard Ritter diente in Einsamkeit und Freiheit einer Nation, die ihn nicht vergessen sollte / Von Patrick Bahners

Auf p. 22 sprechen Sie freilich davon, nur das, was eine Nachwirkung hat, sei historisch denkwürdig. Dagegen habe ich stärkste Bedenken. Wie viele große Erscheinungen des höheren geistigen Lebens sind historisch bedeutsam und gehen doch durch irgendeinen sinnlosen und grausamen Zufall gänzlich zugrunde! Wie viele Erscheinungen zum Beispiel der hohen Kunst (ich denke im Moment an El Greco) haben überhaupt nicht oder sehr wenig nachgewirkt und sind doch geschichtlich höchst bedeutend!" So schrieb der siebzigjährige Gerhard Ritter, emeritierter Ordinarius der Geschichte an der Universität Freiburg, 1958 an seinen vierzehn Jahre jüngeren Kollegen Fernand Braudel, Professor am Collège de France. Der Briefschreiber, der sich als Tadler der Schule der "Annales" profiliert hatte, bedankte sich für einen Sonderdruck der Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1950, den Braudel ihm mit einer freundlichen Widmung übersandt hatte. Ist Gerhard Ritter historisch denkwürdig?

Christoph Cornelißen legt eine umfangreiche Biographie vor, bei der es sich um die gekürzte Fassung seiner Düsseldorfer Habilitationsschrift handelt. Der letzte Satz des Buches weist Ritter einen Platz im Gesprächszusammenhang einer Historiographie an, "die in Deutschland auch am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch nicht untergegangen ist und deren Wirkungen insbesondere in der Politikgeschichte weithin sichtbar sind". Nach Braudels Kriterium, das Ritter verwarf, wäre ihm also geschichtliche Bedeutsamkeit zuzusprechen - einstweilen jedenfalls, denn der noch nicht eingetretene Untergang könnte sich ja noch ereignen. Oder ist er schon Tatsache, haben die Historiker, die Ritter weiter auf sich wirken lassen, dieses Faktum nur noch nicht bemerkt? Der letzte Satz des vorletzten Absatzes stellt für Ritters letzte Jahre fest: "Die Politikgeschichte des Typus, wie er ihn repräsentierte, hatte sich bereits zu dieser Zeit überlebt." Wie können weithin sichtbare Nachwirkungen einer überlebten geistigen Form Anlaß für eine mehrhundertseitige gelehrte Untersuchung sein?

"Vom Vergessen eines Historikers" nennt Cornelißen das letzte Kapitel. Er geht aus von dem Verdacht, von einer nennenswerten Nachwirkung Ritters könne nicht die Rede sein; in dem Maße, in dem das Buch den Ausgangsverdacht bestätigt, müßte es eigentlich, um sein Dasein zu rechtfertigen, ein anderes Kriterium des Denkwürdigen entwickeln als das Braudelsche der Nachhaltigkeit, das für das Verrechnungswesen einer Totalhistorie praktisch sein mag. Eine halbe Seite füllte der Nachruf dieser Zeitung, als Ritter am 1.Juli 1967 starb. Deutschland habe seinen bedeutendsten Historiker verloren, schrieb Percy Ernst Schramm, "und einen aufrechten Mann". Vierunddreißig Jahre später weist das Verzeichnis lieferbarer Bücher noch drei Titel Ritters aus, zwei frühe Monographien zur mittelalterlichen Geistesgeschichte, aber nur einen der vier Bände von "Staatskunst und Kriegshandwerk", den Forschungen zum Problem des deutschen "Militarismus" - keinen Essayband, keine der Biographien über Luther, Friedrich den Großen, Stein und Goerdeler.

Cornelißen arbeitet überzeugend heraus, daß Ritter immer zugleich Fachwissenschaftler und politischer Lehrer sein wollte - im gleichen Maße, ja im gleichen Atemzug, weil er sich die Professorenschaft gemäß dem Ideal des preußischen Beamten als allgemeinen, zur Objektivität berufenen und befähigten Stand vorstellte. Man wird Cornelißen folgen, wenn er in diesem Berufsbild Ritters die Grenzen seiner Wirkung und erst recht seiner Nachwirkung in einer weder von Fachleuten noch von Politikern zu lenkenden Öffentlichkeit vorgezeichnet sieht. Ein aufschlußreiches Exempel schildert der Autor nach den Akten des Auswärtigen Amtes: Ein Selbstschuß war Ritters Versuch, das "nationale Unglück" einer vom Goethe-Institut finanzierten Amerikareise Fritz Fischers zu verhindern - den Kriegsschuldthesen des Hamburger Historikers verschaffte die Intrige ebendie Publizität, die sie hatte verhindern sollen.

Gerade weil das Ideal des Professors, dem seine Unabhängigkeit das Recht zur jederzeitigen Intervention auch hinter den Kulissen gibt, der Realität nicht standhalten konnte, sind freilich politischer und wissenschaftlicher Einfluß getrennt zu betrachten. Die Nachwirkungen von Ritters gelehrten Auffassungen überprüft Cornelißen jedoch nicht dort, wo ihr Niederschlag zu suchen ist, in späteren Arbeiten zu denselben Problemen. Dabei wird im einschlägigen Band der "Enzyklopädie deutscher Geschichte" als maßgebliche Darstellung der wilhelminischen Außenpolitik der zweite Band von "Staatskunst und Kriegshandwerk" genannt. Man mag vom Vergessen eines Historikers sprechen, wenn seine Gesichtspunkte so selbstverständlich geworden sind, daß sich Zitate und vielleicht sogar Neuauflagen erübrigen. Aber dann fällt das Vergessen der Historiker zusammen mit dem Gedächtnis der Historie.

Ausdrücklich stellt sich Cornelißen in der Einleitung dem Anspruch, mit dessen Formulierung Ritter 1967 eine amerikanische Doktorandin einzuschüchtern versuchte: "Nur wenn man den Stand der Forschung vor dem Erscheinen der Bücher, deren Bedeutung für den Weitergang der Forschung und ihre Wirkung innerhalb und außerhalb der Wissenschaft zu würdigen wisse, solle man sich an ihn ,heranwagen'." War das Wagnis zu groß? 479 Nummern umfaßt Ritters Schriftenverzeichnis; er war ein unermüdlicher Briefschreiber; die Marginalien in seiner glücklicherweise von der Universität Düsseldorf erworbenen Bibliothek ergeben eine glossa continua der Historiographie des zwanzigsten Jahrhunderts, das Testament eines Genies der Polemik.

Aus dem Vollen dieses Materials schöpfend, publizierte Michael Matthiesen 1993 eine zweibändige Biographie, die auf 1310 Seiten nur bis zum Jahr 1933 führte. Cornelißen hält Matthiesen bloße Quellenparaphrasen vor und zitiert die Deutungen des Vorgängers so gut wie nie. Durch Leitfragen will Cornelißen Ordnung schaffen; man kann ihm gewiß bescheinigen, daß er Übersicht hergestellt hat. Das Buch ist gut lesbar, bietet eine Fülle unbekannter Informationen und prägnanter Zitate: insoweit ein Standardwerk. Eine gute Idee sind die "Historikergespräche": Werke Ritters werden mit Konkurrenzprodukten verglichen, die Luther-Biographie mit Lucien Febvre, die Bismarck-Studien mit Erich Eyck. Daß späte deutsche Ideengeschichte und frühe französische Mentalitätsgeschichte mit ähnlichen Kollektivsubjektmetaphern operieren, daß der Bismarck-Bewunderer und der Bismarck-Kritiker dieselben moralischen Erwartungen an den Handelnden richten - das sind anregende Beobachtungen. Aber sie verlieren sich, weil der Ordnung des Stoffes die Durchdringung nicht entspricht.

Die Leitfragen sind so allgemein wie die Antworten unpräzise. Der von Bourdieu geborgte Begriff des "sozialen Kapitals" trägt keine Zinsen, wenn man so wenig mit ihm arbeitet wie Cornelißen in den knappen Notizen über die Karrierebedingungen. Was unter "materiellem Kapital" aufgezählt wird, kann sich nicht messen mit der Professorenhaushaltsprüfung in Friedrich Lengers "Sombart". Es gibt kein strukturierendes Konzept, wie es Thomas Hertfelder für seine Monographie über Franz Schnabel in der Kulturkritik fand. Nun mag Ritters Werk sich nicht so gut aus einem Punkt erklären lassen wie das Denken seines an der modernen Entzweiung leidenden liberal-katholischen Antipoden. Doch eine differenzierende Betrachtung der protestantischen Herkunftswelt des Pfarrerssohns fehlt bei Cornelißen völlig. Als "fundamentalistisch" werden die Anschauungen des Vaters in einer Fußnote charakterisiert. Keinen Gedanken verschwendet der Autor an das Verhältnis von Kulturprotestantismus und Historismus bei Ritters Lehrern, den Neo-Rankeanern.

Ritters markantester Charakterzug war die Schärfe, mit der er seine Überzeugungen vertrat. Daß diese Selbstsicherheit Kompensation einer Erschütterung des Glaubens gewesen sein könnte, mag eine zu simple Erwägung sein. Mehr spricht womöglich für die entgegengesetzte Annahme, in einer zunehmend indifferenten Umwelt habe Ritter durch zuspitzendes Argumentieren eine Scheidung der Geister bewirken wollen. Aber solche religionspsychologischen Fragen stellt Cornelißen gar nicht erst. Es ist ernüchternd, daß er Ritter vorhält, nicht von der Ideengeschichte zur Mentalitätsgeschichte fortgeschritten zu sein, selbst aber seinen Begriff des "Lutheranischen" ("Schicksalstrotz") Ritters Luther-Buch entnommen zu haben scheint.

In Stefan Meinekes Biographie Friedrich Meineckes, eines Angehörigen von Ritters Lehrergeneration, hat sich die Prägungshypothese bewährt, wonach ein Mensch mit dreißig "fertig" ist. Cornelißen möchte die Gegenprobe machen und "den Zäsuren und Kehrtwenden einer intellektuellen Biographie eine höhere Aufmerksamkeit" schenken. Doch dann formuliert er seine eigene Prägungsthese: Das Fronterlebnis soll Ritter sein Historikerleben lang gezeichnet haben und seine Altersgenossen unter den Kollegen gleich mit, die "Frontgeneration". Der tragische Grundzug von Ritters Geschichtsdenken war in dieser Perspektive der Reflex eines "totalen" Einsatzes, der am Ende "umsonst" war. Suggestiv ist Cornelißens Erklärung des Primats der Politikgeschichte aus der Erfahrung der Niederlage: Die Endlichkeit des Staates war das Urtrauma, das bewältigt wurde, indem man ihn für ewig ausgab. Aber wäre dann nicht noch zu erklären, weshalb Fustel de Coulanges nach der Niederlage von 1870 und Braudel nach der Niederlage von 1940 die tiefen Ordnungen entdeckten, in die die Politik nicht hinabreicht? Cornelißen faßt diesen Gegensatz nicht ins Auge, obwohl er sich von Ulrich Raulffs Bloch-Monographie zu der Frage anregen läßt, was der Historiker Ritter vom Soldaten Ritter lernte. Die Antwort fällt blaß aus, weil Cornelißen die Sprache der Kriegsbriefe und damit die Verformung des Denkens durch den Krieg nicht genau betrachtet.

Der wichtigste Ertrag des Buches ist der Nachweis, daß Ritters eigentliches Ziel eine Strukturgeschichte der Politik war. Daß Ritter selbst in diesem Sinne von Struktur sprach, ist ein Beleg dafür, daß es sich beim "Paradigmenwechsel" der sechziger und siebziger Jahre weniger um einen Methoden- als um einen Richtungswandel handelte, wie Konrad Repgen seinerzeit schon feststellte. Einer der Wortführer des Wandels war Cornelißens Lehrer Wolfgang Mommsen, der sogar zum Personal des Buches gehört: "der junge Mommsen", dessen vermittelnde Position in der Fischer-Kontroverse Ritter auf einen Generationenfrieden hoffen ließ. Im Lichte von Mommsens damaligem Programm einer "Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus" ist es ein Treppenwitz der Fachgeschichte, daß sein Schüler in die Falle des historistischen Fehlschlusses gegangen ist. Cornelißen führt Ritters Geschichtsanschauung auf die Umstände ihrer Entstehung zurück - und hält sie deshalb schon für widerlegt oder ihre Bedeutsamkeit jedenfalls für lokal begrenzt. Kann denn nicht ein Historiker einem Erlebnis eine Einsicht verdanken, die auch demjenigen etwas sagt, der das Erlebnis nicht würde wiederholen wollen?

Die Relativierung trifft nicht nur den bedeutenden Historiker, sondern auch den aufrechten Mann. Nach dem 20. Juli 1944 war Ritter verhaftet worden. Er hatte in Verbindung mit Goerdeler gestanden als einer der Köpfe des Freiburger Kreises, einer Gelehrtengruppe, die Denkschriften für die Neuordnung Deutschlands ausarbeiteten. Bei aller Hochachtung für Mut und Anstand Ritters, der 1938 als einziger Ordinarius am Grab Edmund Husserls stand, möchte Cornelißen gleichwohl Ritters Aussage korrigieren, er sei von Anfang an aus Überzeugung ein Gegner Hitlers gewesen. Die Unterscheidungen, die der Autor vornimmt, mögen im einzelnen Grund zum Nachdenken geben; insgesamt verkennen sie in naiver Weise die Natur des Lebens unter der Diktatur. Wenn Cornelißen darlegt, Ritters Haltung habe sich allmählich radikalisiert, so ist das trivial: Das System selbst machte eine Radikalisierung durch.

Umständlich entwickelt Cornelißen, daß Ritters berühmter Auftritt auf dem Züricher Historikertag, als er der völkischen Luther-Deutung eines Redners der deutschen Delegation öffentlich widersprach, nicht als Ausdruck politischer Opposition zu verstehen sei, sei es ihm doch um fachliche Kritik gegangen. Aber daß ein deutscher Gelehrter im Ausland namens der wissenschaftlichen Wahrheit gegen das offizielle Geschichtsbild das Wort ergriff, das war ebender politische Akt, der als solcher verstanden wurde. Ähnliches ist zu Cornelißens Bemühen zu sagen, der Verteidigung der kirchlichen Freiheit den politischen Sinn abzusprechen.

Insofern die Verschworenen vom 20. Juli keine Demokratie westlichen Typs planten, läßt Cornelißen sie nicht als Wegbereiter der Bundesrepublik gelten - als hätten sie nicht dadurch unserer Freiheit den Weg eröffnet, daß sie für ihr Gewissen ihr Leben einsetzten. Im Krieg veröffentlichte Ritter Traktate, in denen er die Bindung der Macht an das Gewissen demonstrierte. Cornelißens kluge Frage: "Wie aber sollte ein Appell an einen ,Staatsmann' wie Hitler wirken, der doch ganz offensichtlich nicht von den christlich-sittlichen Ideen erfüllt war, die Ritter bei Friedrich II. und Bismarck als handlungsleitend erkannte?" Cornelißen sieht einen "Widerspruch", ein Festhalten an einem anachronistischen Maßstab "wider besseres historisches Wissen". Welches Urteil hätte er wohl gesprochen, hätte Ritter sich der Ideen bedient, die Hitler hätten überzeugen können? "Widersprüche" findet Cornelißen in allen Äußerungen Ritters, aber in der Regel widerspricht nicht Ritter sich selbst, sondern sein Biograph ihm, und zwar namens der "westlichen" Kultur. Ironischerweise übernimmt Cornelißen von Ritter dieses Konstrukt eines Westens, in dem kein vernünftiger Mensch am "Gedankengut der aufgeklärten Menschenrechtslehre" zweifelt, als wäre Bentham ein Deutscher gewesen.

Es ist paradox, daß in der historischen Stunde, die von Gerhard Ritter und seiner deutschen Freiheit nichts mehr wissen will, wahr geworden ist, was er nicht herbeilehren konnte: der nationalliberale Traum von der Nation als versöhnender Erinnerungsgemeinschaft. Daß Ritters Denken "in hohem Maße vom politischen Erleben seiner Zeit geprägt blieb", ist das Resultat des Buches. Wer hätte das gedacht! Aber war er denn so typisch, wie die Erlebnisweltanschauung unterstellt? Ragt seine Gestalt nicht heraus aus der Generationsgemeinschaft? Er hat sein Leben lang für die Nation gesprochen und stand doch immer einsam da - denkwürdig nicht um seiner Nachwirkung willen, sondern wegen seiner individuellen Sehkraft, die verzerrte, was sie gestaltete, wie das Auge El Grecos.

Ein starker Eindruck, der von Cornelißens Buch bleibt, ist das hohe Niveau des Streits unter deutschen Historikern, von denen wir doch zu wissen glauben, daß sie alle im Irrglauben an die Nation befangen waren. Himmelsdistanz trennt Meineckes harmonisierende Idee der Staatsräson und Ritters Antinomie der Politik, die Doppelnatur der Staatsbildung, die Macht ballt und Frieden schafft. Aber "Geschichte", schrieb Ludwig Dehio 1959 an Ritter, "ist ja kein Rechenexempel, für das es nur eine Lösung gibt". Damit erübrigt sich die Fahndung nach Widersprüchen.

Die Beflissenheit, mit der Cornelißen bei Ritter als "mißverständlich" rügt, was er nicht verstehen will, wirft die Frage auf, welches Generationserlebnis eigentlich seinen Horizont beschränkt. Ritters Vokabular im Streit mit Fischer "spiegelte letztlich die Perspektive eines Frontkämpfers aus dem Ersten Weltkrieg, der sich auch noch am Ende seines Lebens nicht davon überzeugen lassen wollte, daß das Element der ,Macht' in all seinen Schattierungen aus der Politik und der Geschichte der Politik ferngehalten werden konnte". Irgendwann werden Historiker erklären müssen, daß es in Deutschland einmal Historiker gab, die an eine Politik ohne Macht glaubten.

Christoph Cornelißen: "Gerhard Ritter". Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert. Droste Verlag, Düsseldorf 2001. 768 S., 12 Abb., geb., 98,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Erst einmal diskutiert Patrick Bahners in seiner ausführlichen Rezension die Frage, ob Gerhard Ritters Verständnis von Politikgeschichte noch zeitgemäß ist - der Biograf verneint das, ohne doch, wie Bahners kritisiert, sein Urteil an "späteren Arbeiten zu denselben Problemen", wie sie Ritter behandelt hat, zu überprüfen. Dies ist nicht der einzige Einwand des Rezensenten. Obwohl es Cornelißen gelinge, Übersicht herzustellen, obwohl er eine Fülle neuer Informationen biete und obgleich der Band also in stofflicher Hinsicht so etwas wie ein "Standardwerk" zu nennen wäre - ein entscheidendes Problem ist es, so Bahners, dass "der Ordnung des Stoffes die Durchdringung nicht entspricht". Gerade die "Leitfragen" der Untersuchung sind dem Rezensenten zu unscharf, manche These widersprüchlich, etwa, wenn Cornelißen erst alle simplen Prägungs-Modellen zur Erklärung wissenschaftlicher Positionen verwirft, dann selbst eines für Ritter entwickelt. Es bleibt also ein zwiespältiger Eindruck. Auf die Habenseite verbucht Bahners die genaue Darstellung des "hohen Niveaus des Streits unter deutschen Historikern", enervierend jedoch scheint der Rezensent zu finden, dass Cornelißen "als 'missverständlich' rügt, was er nicht verstehen will".

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