Im Neuen Testament reicht die Spannweite der Rede vom Gericht Gottes von der Androhung des „Heulens und Zähneklapperns“ bis zur Vorstellung eines unerschütterlich parteiischen Richters, der bedingungslos zum Heil aller Kreatur handelt. Die Studie rekonstruiert Funktion und Bedeutung der paulinischen Gerichtsterminologie, indem sie sie mit Gerichtsmotiven ins Gespräch bringt, die im Dialog „De sera numinis vindicta“ des zeitgenössischen Philosophen Plutarch von Chaironeia vertreten werden. Beide Argumentationsmodelle zeigen sich vor dem Hintergrund der Zweiten Sophistik – einer Strömung internationaler Intellektuellenkommunikation der klassischen Kaiserzeit – als Strategien, wie Menschen angesichts mehrerer Optionen der Identitätsdefinition ihr eigenes Verhältnis zur Welt bestimmen können: Was bedeutet es, als Grieche unter römischer Herrschaft zu leben? Was bedeutet es, als Christenmensch in und mit jüdischen und hellenistischen Traditionen zu leben? Es wird deutlich, dass die Aktivierung von Gerichtsmotivik vorrangig der Bewältigung je aktueller Krisen dient und weniger der Vergegenwärtigung eschatologischer Szenarien.