Ist ein "deutsches Europa" die bittere Frucht der europäischen Krise? In vielen europäischen Ländern wird es so wahrgenommen. Angela Merkel wird mit Hitler verglichen, die Rede ist von deutscher "Hegemonie" und einem neuen deutschen "Reich". Doch Deutschland ist heute ein anderes Land als im 19. Oder 20. Jahrhundert. Nur - welches? Einmal mehr könnte es zu einer Quelle der Instabilität im Herzen Europas werden. In German Power geht Hans Kundnani der Transformation Deutschlands seit der Vereinigung 1990 nach und stellt sie in den Kontext der deutschen Geschichte vor 1945. Dabei zeigt er Ähnlichkeiten auf und benennt einige Grundkonflikte - zwischen Kontinuität und Wandel, Ökonomie und Politik, Europa und der Welt. Kundnani kommt in seinem provozierenden Essay zu dem unbequemen Schluss, dass die "deutsche Frage" wieder zurückgekehrt ist - in geoökonomischer Gestalt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2016Geoökonomischer Halbhegemon?
Hans Kundnani über die Rückkehr der deutschen Frage im heutigen Europa
Die deutsche Frage ist wieder da. Mit der Wiedervereinigung ist Deutschland machtpolitisch wieder in jene "halbhegemoniale Stellung" (Ludwig Dehio) in Europa eingerückt, die es zwischen 1871 und 1945 innehatte. Zwar geht von dem heutigen Deutschland, das sicherheitspolitisch aus Sicht seiner westlichen Bündnispartner eher zu zurückhaltend operiert, definitiv keine militärische Gefahr aus. "In geopolitischer Hinsicht ist Deutschland ungefährlich und ,gutartig'." Aber es verfolge nun eben doch wieder - so die Quintessenz der Analyse von Hans Kundnani, Senior Transatlantic Fellow am German Marshall Fund in Berlin - als (allzu?) selbstbewusst gewordene Exportnation unter Einsatz seiner überlegenen wirtschaftlichen Macht zunehmend eigene nationale Interessen auf Kosten anderer.
Es gehe wieder seinen eigenen, "deutschen Weg" (Gerhard Schröder). Mit der Ablehnung des Irak-Kriegs habe es zunächst mit einer jahrzehntelangen, konsequent auf den engen Schulterschluss mit seinen westlichen Verbündeten, allen voran Washington ausgerichteten Außenpolitik gebrochen: Aus einem "reflexhaften" Multilateralismus sei ein bloß "kontingenter" Multilateralismus geworden. In der Euro-Krise und ihrer Behandlung durch Deutschland sei sodann ein triumphalistischer ökonomischer "Export-Nationalismus" zum Durchbruch gekommen.
Deutschland habe in der (irrigen?) Annahme, für diese Krise sei eine unverantwortliche Schuldenpolitik einiger europäischer Länder verantwortlich, im kurzfristigen Eigeninteresse seine eigenen finanz- und haushaltspolitischen Präferenzen allen anderen EU-Mitgliedstaaten aufgezwungen. "Tatsächlich aber hat Deutschland mit dem Versuch, seine ,Stabilitätskultur' zu exportieren, in einem umfassenderen Sinne für Instabilität gesorgt."Diese neue wirtschaftliche Form deutscher Dominanz in Europa nennt Kundnani im Anschluss an Edward Luttwak "geoökonomisch", weil dabei "Methoden des Handels militärische Methoden ersetzen". Diese Behauptung einer (Deutschlands Europapolitik zugrundeliegenden) "Logik des Krieges in der Grammatik der Ökonomie" ist starker Tobak.
Nun ließe sich manches zur Verteidigung Deutschlands anführen. Einiges davon benennt Kundnani selbst. Jede Nation verfolgt legitimerweise ihre eigenen Interessen und setzt dabei ihre Macht ein. Das ist nichts anderes als internationale Normalität. Man sollte dann allerdings diese nationalen Interessen auch als solche kenntlich machen und nicht "europäisch" camouflieren. Gute deutsche Europapolitik bestünde dann nicht in verlogenem Pseudoaltruismus, der spezifische nationale Eigeninteressen verneint - die Gleichsetzung des deutschen Interesses mit dem europäischen Gesamtinteresse wird von den anderen europäischen Nationalstaaten mit Recht entweder als unglaubhaftes Understatement oder als unglaubliche Anmaßung zurückgewiesen -, sondern in einem fairen Ausgleich deutscher Interessen mit konfligierenden anderen nationalen Interessen.
Wenn man sich die Koalitionsbildung in der Euro-Krise anschaut, so wird deutlich, dass hier "der Konflikt zwischen den Interessen von Gläubiger- und Schuldnerstaaten, die in einem gemeinsamen Währungsraum zusammengeschlossen sind", ausgetragen wird, also kein Konflikt, der sich allein oder auch nur vorrangig aus Deutschlands geoökonomischer Halbhegemonie erklären ließe. Nach Kundnanis Ansicht hätte Deutschland gut daran getan, in der Krise "ein umfassendes Geschäft mit dem übrigen Europa abzuschließen: volle Schuldenhaftung im Gegenzug für die politische Union". Aber hätte dieses "Geschäft", von der Frage, ob es für Deutschland vorteilhaft gewesen wäre, einmal ganz abgesehen, nicht vielleicht noch viel stärker zu einem "zwingenden", von Deutschland dominierten Europa geführt, jedenfalls den Eindruck davon erweckt und damit Ängste vor deutscher Macht geschürt?
Christoph Schönberger hat Deutschlands Stellung in der Europäischen Union 2012 als "Hegemon wider Willen" charakterisiert. Folgt man Kundnanis Analyse, dann liegt der Grund, warum Deutschland in seiner einzigartigen "Mischung aus wirtschaftlichem Durchsetzungsvermögen und militärischer Abstinenz" sich nicht zum Hegemon eignet, "weniger in seiner Scheu vor dieser Rolle, sondern in seiner Selbstbezogenheit und im vorherrschenden kurzfristigen Denken".
Die gegenwärtige Flüchtlingskrise, von Kundnani in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe vom Oktober 2015 nur noch kurz gestreift, scheint dies, in einer neuen Wendung zum Irrationalen, auf ihre Art zu bestätigen. Die deutsche Politik offener Grenzen, gepaart mit der Mission, "Sehnsucht nach Vielfalt" zu verordnen, stößt europaweit auf mehr oder weniger deutliche Ablehnung. Die mittelosteuropäischen Staaten, ökonomisch natürliche Bündnispartner Deutschlands, schließen sich in dieser Frage zu einer Koalition gegen Deutschland zusammen, das sich zunehmend isoliert sieht.
Kundnanis Fazit lautet: "Die Ereignisse der vergangenen fünf Jahre - und insbesondere die Flüchtlingskrise - lassen vermuten, dass Deutschland nicht nur nicht willens, sondern auch nicht in der Lage ist, ein europäischer Hegemon zu sein. Kurz gesagt: Europa kann nicht von Berlin aus regiert werden." Wenn diese Erkenntnis sich auch in Berlin durchsetzt, wäre dies für Deutschland wie Europa ein Gewinn.
CHRISTIAN HILLGRUBER
Hans Kundnani: German Power. Das Paradox der deutschen Stärke. C.H. Beck Verlag, München 2016. 207 S., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hans Kundnani über die Rückkehr der deutschen Frage im heutigen Europa
Die deutsche Frage ist wieder da. Mit der Wiedervereinigung ist Deutschland machtpolitisch wieder in jene "halbhegemoniale Stellung" (Ludwig Dehio) in Europa eingerückt, die es zwischen 1871 und 1945 innehatte. Zwar geht von dem heutigen Deutschland, das sicherheitspolitisch aus Sicht seiner westlichen Bündnispartner eher zu zurückhaltend operiert, definitiv keine militärische Gefahr aus. "In geopolitischer Hinsicht ist Deutschland ungefährlich und ,gutartig'." Aber es verfolge nun eben doch wieder - so die Quintessenz der Analyse von Hans Kundnani, Senior Transatlantic Fellow am German Marshall Fund in Berlin - als (allzu?) selbstbewusst gewordene Exportnation unter Einsatz seiner überlegenen wirtschaftlichen Macht zunehmend eigene nationale Interessen auf Kosten anderer.
Es gehe wieder seinen eigenen, "deutschen Weg" (Gerhard Schröder). Mit der Ablehnung des Irak-Kriegs habe es zunächst mit einer jahrzehntelangen, konsequent auf den engen Schulterschluss mit seinen westlichen Verbündeten, allen voran Washington ausgerichteten Außenpolitik gebrochen: Aus einem "reflexhaften" Multilateralismus sei ein bloß "kontingenter" Multilateralismus geworden. In der Euro-Krise und ihrer Behandlung durch Deutschland sei sodann ein triumphalistischer ökonomischer "Export-Nationalismus" zum Durchbruch gekommen.
Deutschland habe in der (irrigen?) Annahme, für diese Krise sei eine unverantwortliche Schuldenpolitik einiger europäischer Länder verantwortlich, im kurzfristigen Eigeninteresse seine eigenen finanz- und haushaltspolitischen Präferenzen allen anderen EU-Mitgliedstaaten aufgezwungen. "Tatsächlich aber hat Deutschland mit dem Versuch, seine ,Stabilitätskultur' zu exportieren, in einem umfassenderen Sinne für Instabilität gesorgt."Diese neue wirtschaftliche Form deutscher Dominanz in Europa nennt Kundnani im Anschluss an Edward Luttwak "geoökonomisch", weil dabei "Methoden des Handels militärische Methoden ersetzen". Diese Behauptung einer (Deutschlands Europapolitik zugrundeliegenden) "Logik des Krieges in der Grammatik der Ökonomie" ist starker Tobak.
Nun ließe sich manches zur Verteidigung Deutschlands anführen. Einiges davon benennt Kundnani selbst. Jede Nation verfolgt legitimerweise ihre eigenen Interessen und setzt dabei ihre Macht ein. Das ist nichts anderes als internationale Normalität. Man sollte dann allerdings diese nationalen Interessen auch als solche kenntlich machen und nicht "europäisch" camouflieren. Gute deutsche Europapolitik bestünde dann nicht in verlogenem Pseudoaltruismus, der spezifische nationale Eigeninteressen verneint - die Gleichsetzung des deutschen Interesses mit dem europäischen Gesamtinteresse wird von den anderen europäischen Nationalstaaten mit Recht entweder als unglaubhaftes Understatement oder als unglaubliche Anmaßung zurückgewiesen -, sondern in einem fairen Ausgleich deutscher Interessen mit konfligierenden anderen nationalen Interessen.
Wenn man sich die Koalitionsbildung in der Euro-Krise anschaut, so wird deutlich, dass hier "der Konflikt zwischen den Interessen von Gläubiger- und Schuldnerstaaten, die in einem gemeinsamen Währungsraum zusammengeschlossen sind", ausgetragen wird, also kein Konflikt, der sich allein oder auch nur vorrangig aus Deutschlands geoökonomischer Halbhegemonie erklären ließe. Nach Kundnanis Ansicht hätte Deutschland gut daran getan, in der Krise "ein umfassendes Geschäft mit dem übrigen Europa abzuschließen: volle Schuldenhaftung im Gegenzug für die politische Union". Aber hätte dieses "Geschäft", von der Frage, ob es für Deutschland vorteilhaft gewesen wäre, einmal ganz abgesehen, nicht vielleicht noch viel stärker zu einem "zwingenden", von Deutschland dominierten Europa geführt, jedenfalls den Eindruck davon erweckt und damit Ängste vor deutscher Macht geschürt?
Christoph Schönberger hat Deutschlands Stellung in der Europäischen Union 2012 als "Hegemon wider Willen" charakterisiert. Folgt man Kundnanis Analyse, dann liegt der Grund, warum Deutschland in seiner einzigartigen "Mischung aus wirtschaftlichem Durchsetzungsvermögen und militärischer Abstinenz" sich nicht zum Hegemon eignet, "weniger in seiner Scheu vor dieser Rolle, sondern in seiner Selbstbezogenheit und im vorherrschenden kurzfristigen Denken".
Die gegenwärtige Flüchtlingskrise, von Kundnani in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe vom Oktober 2015 nur noch kurz gestreift, scheint dies, in einer neuen Wendung zum Irrationalen, auf ihre Art zu bestätigen. Die deutsche Politik offener Grenzen, gepaart mit der Mission, "Sehnsucht nach Vielfalt" zu verordnen, stößt europaweit auf mehr oder weniger deutliche Ablehnung. Die mittelosteuropäischen Staaten, ökonomisch natürliche Bündnispartner Deutschlands, schließen sich in dieser Frage zu einer Koalition gegen Deutschland zusammen, das sich zunehmend isoliert sieht.
Kundnanis Fazit lautet: "Die Ereignisse der vergangenen fünf Jahre - und insbesondere die Flüchtlingskrise - lassen vermuten, dass Deutschland nicht nur nicht willens, sondern auch nicht in der Lage ist, ein europäischer Hegemon zu sein. Kurz gesagt: Europa kann nicht von Berlin aus regiert werden." Wenn diese Erkenntnis sich auch in Berlin durchsetzt, wäre dies für Deutschland wie Europa ein Gewinn.
CHRISTIAN HILLGRUBER
Hans Kundnani: German Power. Das Paradox der deutschen Stärke. C.H. Beck Verlag, München 2016. 207 S., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rudolf Walther stößt auf unterkomplexe und angesichts der Flüchtlingskrise geradezu zynische Begrifflichkeiten zur wirtschaftlichen und politischen Konstellation in der EU im Buch des Politikwissenschaftlers Hans Kundnani. Hegemonie ist so ein Begriff, Mittel- und Randlage, Realismus und Idealismus. Die deutsche Frage in der Zeit zwischen 1871 und heute vermag ihm der Autor also nur ungenügend zu erörtern, auch wenn Walther die Zusammenfassung im Buch durchaus übersichtlich findet. Für eine historisch-politische Analyse, an deren Ende der Autor für Walther wiederum nachvollziehbar zu dem Schluss kommt, in der EU herrsche nicht Deutschland, sondern das Chaos, ist aber eine stärkere Differenzierung nötig, findet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Wichtiger Diskussionsbeitrag in komplizierter Zeit."
Klaus-Rüdiger Mai, Cicero, März 2016
Klaus-Rüdiger Mai, Cicero, März 2016